Redner(in): Johannes Rau
Datum: 16. Oktober 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/10/20011016_Rede.html
I. Die Bundesrepublik Deutschland ist seit 1950 Mitglied der FAO. Die FAO war die erste Sonderorganisation der Vereinten Nationen, der Deutschland beigetreten ist, dreiundzwanzig Jahre bevor unser Land Vollmitglied der Vereinten Nationen wurde.
Wir haben das aus der Überzeugung getan, dass die Bekämpfung des Hungers in der Welt eine zutiefst humane und darum eine vorrangige Aufgabe ist, an der wir engagiert mitarbeiten wollen. Das gilt heute so wie vor fünfzig Jahren.
Genug zu essen zu haben, das ist ein fundamentales Menschenrecht. Wer gegen den Hunger kämpft, der kämpft mit friedlichen Mitteln für eine friedlichere Welt. Die FAO kann einen wichtigen Teil dazu beitragen, dass dieses Recht Wirklichkeit wird. Darum müssen wir die FAO stärken, gerade in der heutigen Zeit.
Ich danke der FAO für ihre Anstrengungen, noch enger mit den anderen VN-Organisationen zusammen zu arbeiten. Das ist ein wichtiger und notwendiger Schritt, damit wir endlich Hunger und Armut von der Erde verbannen. Das Motto des Welternährungstages 2001 lautet ja auch: "Hunger bekämpfen heißt Armut lindern".
II. Natürlich müssen wir uns fragen lassen, warum immer noch so viele Menschen hungern müssen, trotz aller Fortschritte in der Technik, in der Wissenschaft und in der Wirtschaft.
Was haben wir falsch gemacht? Sind wir das Problem nicht ernsthaft genug angegangen? Liegt es nur am fehlenden Geld oder liegt es am mangelnden Interesse oder gar an mangelnder Verantwortung?
Was können wir besser machen, was müssen wir besser machen? Haben wir vielleicht die richtigen Konzepte, setzen sie aber nicht um?
Was hilft ein kodifiziertes Menschenrecht, wenn es jeden Tag millionenfach verletzt wird, wenn jeden Tag 24.000 Menschen verhungern, davon 18.000 Kinder unter fünf Jahren?
Hungernde Menschen sind eine Anklage an die Weltgemeinschaft. Jeder verhungerte Mensch ist ein Urteil über uns. Hunger ist ja kein unabwendbares Schicksal. Es ist nicht aussichtslos, etwas gegen den Hunger zu tun. Noch vor zwanzig Jahren - damals hat Willy Brandt hier über seine Visionen gesprochen - waren 29 Prozent aller Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern unterernährt. Heute sind es noch 18 Prozent, obwohl die Weltbevölkerung stark gewachsen ist.
Noch immer aber hungern über 800 Millionen Menschen und das sind über 800 Millionen zu viel.
Während viele in den reichen Ländern gegen die Folgen von Überernährung und Bewegungsmangel kämpfen, kämpfen die anderen um das nackte Überleben. Das ist nicht die gerechte Welt, die wir uns doch alle wünschen!
III. Die Weltbevölkerung wächst in einem rasanten Tempo. Das lässt sich nicht schnell ändern. Darum brauchen wir dringend Produktivitätsfortschritte bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln.
Zur Wirklichkeit gehört aber, dass in vielen Teilen der Welt die Böden übernutzt werden, um kurzfristig die Ernteerträge zu steigern. Das geschieht in den sogenannten Entwicklungsländern nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus purer Not oder aus Unkenntnis.
Langfristig sind die Folgen dieses Tuns verheerend: Die Böden trocknen aus, sie versteppen und werden unfruchtbar, mit dem Ergebnis, dass die Ernteerträge sinken und nicht wachsen.
Wer das verhindern will, der muss die Mittel für die Agrarforschung kräftig aufstocken, damit angepasste Technik mithilft, den landwirtschaftlich genutzten Boden fruchtbar zu erhalten und dauerhaft hohe Erträge zu erzielen.
IV. Extensive Bewässerung hat in vielen Gegenden der Welt die Ernten steigern können. Die Trinkwasserreserven nehmen aber ab, und die Zahl der Durstenden nimmt zu.
Seit 1950 ist das weltweit verfügbare Trinkwasser um fast zwei Drittel geschrumpft. Jedes Jahr sterben zwölf Millionen Menschen an Wassermangel und an verseuchtem Trinkwasser.
Wir brauchen dringend mehr verbindliche Abkommen darüber, wie grenzüberschreitende Gewässer gemeinsam genutzt werden können. Wir brauchen Techniken, die es uns erlauben, höhere Erträge mit einem sparsamen Einsatz von Wasser zu erzielen. Dafür braucht man nicht unbedingt Hochtechnologie. Oft helfen Erfahrungen aus anderen Regionen. Da gibt es gute Ideen.
Der Aufbau von Netzwerken und die richtige Beratung können entscheidende Hilfe leisten. Die FAO und viele Nichtregierungsorganisationen haben das erkannt und gehen diesen Weg mit Erfolg.
Es gibt viele gute Beispiele in Bolivien und in Äthiopien, in Brasilien und Thailand, in Kenia und Bangladesch und in anderen Ländern. Diese Beispiele machen Mut.
V. Für mein Empfinden reden wir zu viel über technische und zu wenig über politische Möglichkeiten und Instrumente, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Mit technischen Mitteln allein wird das nicht gelingen.
Wir wissen, dass Krieg zu Armut, Elend und Hunger führt, und wir wissen, dass Hunger zu Gewalt und Krieg führen kann. Das ist ein Teufelskreis, den wir mit politischen Mitteln durchbrechen müssen.
Wir brauchen auf diesem Globus nicht mehr Militär und nicht mehr Waffen. Wir brauchen mehr aufgeklärte Staatsmänner und mehr Mut zu unbequemen Wahrheiten. Wir müssen die Dialogfähigkeit und das gegenseitige Verständnis stärken - in den Ländern und über die Staatsgrenzen hinweg, damit aus Unverständnis nicht Hass, Gewalt, Terror und Krieg werden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir gerade angesichts der schrecklichen Ereignisse vom
11. September den Dialog der Kulturen brauchen. Ich werde dazu meinen Teil beitragen.
Wo Diktatur, Unterdrückung, Intoleranz und Korruption herrschen, da ist keine gedeihliche Entwicklung zum Wohle aller Bürger möglich. Da gedeihen Neid und Unfriede, Resignation und Apathie, Angst und Hoffnungslosigkeit.
In der Entwicklungspolitik ist schon viel gesprochen worden über "good governance", über die sogenannte "gute Regierungsführung". Manch einer belächelt diesen Begriff. Ich halte das, was damit gemeint ist, für eine der wichtigsten Voraussetzungen für humanen Fortschritt. Gute Regierungsführung " bedeutet:
Fairness, Gerechtigkeit und Teilhabe sind die tragenden Säulen, auf denen eine Gesellschaft stabil ruhen und dynamisch handeln kann. Dafür müssen Parlamente und Regierungen, dafür müssen alle politisch Verantwortlichen gewonnen werden.
Dann gibt es Hoffnung, dass sich die Dinge zum Besseren verändern, Schritt für Schritt. Dann gibt es begründete Hoffnung, dass Hilfe nicht versickert, sondern zu einem Samenkorn in fruchtbarem Boden wird.
VI. Der überwiegende Teil der hungernden Menschen auf der Welt lebt in ländlichen Regionen und unter Bedingungen, die wir im Norden uns kaum vorstellen können.
400 Millionen Kleinbauern leben in den sogenannten Entwicklungsländern. Das sind meist keine Bauern aus Leidenschaft oder aus Liebe zur Heimaterde. Nein, das sind Menschen, die täglich um ihr Überleben und um das Überleben ihrer Familien kämpfen. Sie haben keine andere Erwerbsquelle. Jede Missernte ist für sie eine existentielle Katastrophe.
Darum müssen wir die finanziellen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit noch stärker auf die Entwicklung der ländlichen Räume konzentrieren. Hier können wir den Hunger am wirksamsten bekämpfen: durch Beratung, durch Kleinkredite und durch technische Hilfe.
Statistisch gesehen gibt es auf der Welt genug Nahrungsmittel für alle, aber die Statistik verfälscht die Wirklichkeit.
Nahrungsmittelhilfen sind nur bei akuten Hungerkatastrophen sinnvoll. Die lokalen Märkte dürfen nicht zerstört werden und den heimischen Bauern darf die Existenzgrundlage nicht entzogen werden. Darum Hilfe zur Selbsthilfe ist die bessere, die beste Hilfe.
Es zeigt sich immer wieder, dass die Vermittlung von Bildung und Wissen ein entscheidender Erfolgsfaktor der Entwicklungszusammenarbeit ist. Sie spielt auch eine ganz entscheidende Rolle, um das starke Bevölkerungswachstum in manchen Ländern zu bremsen.
Darum muss die Familienberatung ebenso gestärkt werden wie der gesamte Bildungsbereich. Davon sollten besonders die Frauen profitieren, denn sie tragen häufig die schwerste Last und die größte Verantwortung.
Das alles kostet viel Geld. Das haben weder die sogenannten Entwicklungsländer noch die staatlichen und die nicht-staatlichen Organisationen.
Ich möchte heute aber an eine Vereinbarung der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1970 erinnern, die wir nicht vergessen sollten: Damals haben sich die reicheren Länder der Welt verpflichtet, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Der Beschluss gilt schon 30 Jahre, aber er wird nicht erfüllt.
Kaum ein Land hat dieses Ziel bis heute erreicht. Das ist eine traurige Wahrheit.
Nach meiner Überzeugung müssen wir an dem 0, 7-Prozent-Ziel festhalten, weil es vernünftig und angemessen ist. Wir würden damit auf Dauer viel mehr gewinnen, als es uns kostet.
VII. Wir müssen uns auch mehr Gedanken machen über ein gerechtes Weltwirtschaftssystem.
Es gibt noch immer viel zu viele Hemmnisse, die die wirtschaftlichen Chancen der Entwicklungsländer beeinflussen und die die Industrieländer bevorzugen. Das muss sich ändern und dafür gibt es inzwischen gute Ansätze:
Manch einer setzt große Hoffnung auf die Globalisierung der Wirtschaft. Auch ich sehe die Chancen für viele Länder und für viele Menschen. Die Teilnahme an der globalisierten Wirtschaft setzt aber gut ausgebildete Menschen und moderne Kommunikationssysteme voraus.
Wer in den sogenannten Entwicklungsländern kann da mithalten?
In Wirklichkeit findet nach meinem Eindruck die Globalisierung - bisher jedenfalls - hauptsächlich zwischen den Industrieländern statt.
Darum müssen wir darauf achten, dass die Globalisierung nicht zu einer vertieften Spaltung unserer Welt in arme und reiche Länder führt, in Länder, die technischen und wirtschaftlichen Fortschritt haben und in Länder, die davon abgekoppelt sind.
Wer also glaubt, die sogenannte "Globalisierung" werde automatisch Wohlstand für alle bringen, der täuscht sich und andere.
Ich warne auch davor, die Globalisierung als Vorwand dafür zu benutzen, entwicklungspolitisch die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten. Ganz im Gegenteil: Die Globalisierung bringt für die Entwicklungszusammenarbeit neue Herausforderungen, die wir aktiv und partnerschaftlich meistern müssen.
VIII. Wir brauchen Frieden und Demokratie in allen Weltregionen. Wir brauchen globale Sicherheit, ein gerechtes Welthandelssystem, wir brauchen technischen Fortschritt und globale Solidarität.
Davon werden alle Menschen profitieren, weltweit.
In den reichen Ländern des Nordens kann niemand ernsthaft glauben, dass er auf Dauer in Ruhe auf einer Insel der Glückseligkeit leben kann, mitten in einem Meer von Leid und Elend. Darum liegt es auch im ureigenen Interesse der reichen Länder, den Hunger zu besiegen. Stacheldraht und Mauern sind keine Antwort auf Flüchtlingsströme, auf Armut und auf Not.
Wir brauchen die internationale Koalition gegen den mörderischen Terrorismus. Wir brauchen auch ein weltweites Bündnis gegen Hunger und Armut.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Vision einer Welt wirklich machen können, die friedlich ist und frei von Hunger. Damit das gelingt, müssen wir das Bewusstsein dafür stärken, dass wir in unserer einen Welt mehr denn je aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind.
Darum müssen wir weltweit die Gewalt ächten, die Verschiedenheit der Kulturen, der Nationen und Regionen achten und die Gemeinsamkeit stärken: im Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, im Kampf gegen Hunger und Armut.
Ich danke allen Mitgliedern der Welternährungsorganisation, den Regierungsorganisationen und den Nichtregierungsorganisationen für den Beitrag, den sie dazu leisten.