Redner(in): Johannes Rau
Datum: 21. Oktober 2001

Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/10/20011021_Rede2.html


wer die Jahre der Entwicklung zu dieser großen Gewerkschaft selber miterlebt hat, wer von den Auseinandersetzungen, von den Konflikten, von dem dann entstandenen Konsens erfahren hat, der kommt besonders gerne hierher, um ein Wort der Begrüßung und ein Wort hoffentlich auch der Aufmunterung zu sagen.

Ich bin gekommen, vierzig Tage nach dem schrecklichen Geschehen in den Vereinigten Staaten. Damals blieb uns allen das Herz stehen. Wir glaubten zuerst, wir sähen einen schrecklichen Horrorfilm und haben erst langsam wieder, so hoffe ich, Fassung gefunden. Deshalb glaube ich, dass das Ausrufezeichen hinter dem Motto Ihres Kongresses jetzt besonders wichtig ist: "Zukunft gestalten!" Es ist wichtig, dass wir jetzt weder die Contenance noch den Mut verlieren. Es ist wichtig, dass wir Zukunft nicht als irgendein Verhängnis sehen, das auf uns zukommt, sondern dass wir die menschliche Gestaltungskraft entdecken, dass wir sie fördern und dass wir versuchen, dieser Zukunft eine Richtung zu geben.

Das hat bereits die alte Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gewusst. Sie hat mit Sätzen wie "Wissen ist Macht" und "Bildung zerreißt unsere Ketten" ein Zukunftsbild gehabt, das immer abwich und abweicht von dem, was ich bei manchen jungen Leuten jetzt erlebe und erfahre, die den Eindruck vermitteln, es komme nur noch Verhängnisvolles auf sie zu und sie könnten nicht gestalten. Es gibt Leute - da greife ich jetzt die Worte von Hubertus Schmoldt auf - die, wenn sie Licht am Ende des Tunnels sehen, sich sofort ein neues Stück Tunnel kaufen wollen. Zu denen dürfen wir nicht gehören.

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, der Freude an Wortspielen hatte und der manchmal auch Kalauer nicht ausließ, hat einmal gesagt: "Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist." Ich finde, da hat Theodor Heuss recht. Wir brauchen wieder die Bereitschaft, Zukunft zu gestalten. Das ist eine faszinierende Aufgabe in einer Gesellschaft, die immer neue Namen bekommt: die Wissensgesellschaft, die Spaßgesellschaft, die Computergesellschaft. Es gibt so viele Faszinationen, dass wir Orientierungen brauchen und Orientierungen geben müssen, damit Menschen nicht gesichtslos heranwachsen, damit Menschen nicht ohne Maßstäbe leben und damit wir, wenn wir Maßstäbe geben und Maßstäbe finden, darüber im Dialog miteinander bleiben. Das wird die Aufgabe sein, die vor uns liegt.

Deshalb bin ich vor vierzehn Tagen in eine Konferenz von Betriebsräten und Vertrauensleuten solcher Unternehmen gegangen, die einen hohen Anteil an ausländischen Kolleginnen und Kollegen haben. Ich hatte besorgte Anrufe und Briefe bekommen, das Klima zwischen Deutschen und Nichtdeutschen sei nach den Ereignissen vom 11. September belastet, es gebe Misstrauen und Angst. Da schien es mir gut zu sein, mit deutschen, mit türkischen, mit algerischen und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen über die Frage zu sprechen, wie wir miteinander in Frieden leben können. Das ist eine der Zukunftsaufgaben.

Wenn wir diese Aufgaben wahrnehmen, müssen wir zuerst deutlich machen: Es ist nicht der Islam, der uns ans Leben will, sondern es ist der Fundamentalismus, der den Glauben zerstört. Jeder Fundamentalismus zerstört den Glauben.

Wir leben in der Zeit der Globalisierung. Über dieses Phänomen gibt es ganze Bibliotheken. Und es ist ja auch aufregend, die Globalisierung in all ihren Facetten zu erleben. Ganz neu ist das alles jedoch nicht. Die Arbeiterbewegung war immer schon international. Die Wirtschaft ist es schon sehr viel länger, als uns das oft bewusst ist. Ich kann mich gut erinnern, als ich 1969 Oberbürgermeister meiner Heimatstadt Wuppertal war und von einem Betrieb der Textilchemie hörte, in dem viele Arbeitsplätze abgebaut werden sollten. Ich habe mir damals gesagt: Ich fahre sofort dahin und spreche mit der Firmenleitung. Ich kam hin, und die Firmenleitung eröffnete mir: "Die Entscheidungen über uns werden längst in Utrecht getroffen." Und das war ein erster Schritt zu dem, was wir heute Globalisierung nennen.

Es hat diese Internationalisierung seit vielen Jahren und Jahrzehnten gegeben. Und es wird sie weiter geben. Wir werden weiter in einer Welt leben, in der Güter, Dienstleistungen und Kapital vierundzwanzig Stunden am Tag rund um den Globus unterwegs sind. Dagegen mit Bilderstürmerei anzugehen, das macht überhaupt keinen Sinn. Aber es macht Sinn, darauf hinzuweisen, dass die Menschen, die in dieser globalisierten Welt leben, keine globalen Wesen sind, sondern Menschen, die Heimat brauchen, die Bodennähe brauchen, die Verwurzelung brauchen und die ein Zuhause brauchen.

Weil das so ist, darum ist es gut, dass wir nicht nur große, kleine und mittlere Betriebe haben, sondern dass wir Gewerkschaften haben, die solche Menschen aneinander zu binden und miteinander zu verbinden versuchen. Ich halte die Gewerkschaften deshalb für dringender nötig denn je. Gewerkschaften sind Interessenvertretung der Arbeitnehmer und gleichzeitig Reformkraft. Und ich bitte Sie, diese beiden zueinander gehörenden Aufgaben nicht aus dem Blick zu verlieren. Dann kann man im Blick auf die weitere Veränderung unserer Gesellschaft zuversichtlich sein, dann kann man auch Frühwarnsysteme aufbauen, die uns erkennen lassen, wo etwas zu weit oder zu schnell geht, dann kann man über das Tempo von Veränderungen und von Reformen durchaus konstruktiv miteinander sprechen.

Aber sich gegen die Zukunft zu stellen, das macht keinen Sinn.

Vor hundert Jahren hatte Deutschland ein gekröntes Staatsoberhaupt, Kaiser Wilhelm II. Der sagte, ich halte nichts vom Auto, ich setze auf das Pferd. So kann man nicht leben. Er hat auf das falsche Pferd gesetzt. Wir müssen nach vorne blicken. Wir müssen die technischen Möglichkeiten nutzen, im eigenen Land, in der eigenen Industrie, im europäischen Verbund und weltweit. So können wir auch mithelfen, dass Europa nicht nur ein Europa der Konzerne wird, sondern ein soziales Modell, das sich weltweit sehen lassen kann. Diese soziale Dimension Europas muss noch geschaffen werden. Da sind wir erst am Anfang, und ich hoffe, es wird ein guter Weg.