Redner(in): Johannes Rau
Datum: 16. November 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/11/20011116_Rede.html


I. Ich freue mich darüber, dass ich gemeinsam mit meinem Kollegen und Freund, Carlo Azeglio Ciampi, über die Zukunft Europas sprechen kann. Seitdem wir vor zweieinhalb Jahren fast gleichzeitig unsere Ämter als Präsidenten Italiens und Deutschlands angetreten haben, haben wir uns gemeinsam und einzeln darum bemüht, Anstöße zur europapolitischen Debatte zu geben. Europa verbindet uns auf besondere Weise.

Carlo Ciampi und ich sind Politiker, die das alte Europa der Feindseligkeiten und der Kriege noch erlebt haben. Wir haben unsere politischen Erfahrungen in den Zeiten des kalten Krieges und der Teilung unseres Kontinents gemacht. Ich weiß, dass die europäische Einigung für ihn deshalb genauso wie für mich eine Herzensangelegenheit ist. Großen Teilen Europas hat sie Frieden, Stabilität und einen beispiellosen Wohlstand gebracht. Carlo Ciampi hat als langjähriger italienischer Notenbankchef und als Haushaltsminister dazu ganz unmittelbar beigetragen: Wenn wir in weniger als fünfzig Tagen in zwölf europäischen Staaten nur noch mit einer gemeinsamen Währung zahlen werden, dann ist das auch ein Verdienst von Carlo Ciampi.

II. Wir alle stehen noch immer unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September. Der Terrorangriff war ein Angriff gegen die Zivilisation als solche. Er hat, so hoffe ich, der internationalen Staatengemeinschaft erneut ihre gemeinsamen Werte bewusst gemacht. Ich betone, dass es nicht um Werte des Westens oder des Ostens, des Nordens oder des Südens geht, sondern um unsere Werte, denen wir alle verpflichtet sind und die die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" am 10. Dezember 1948 verkündet hat. Dazu gehören das Verbot der Diskriminierung, das Recht auf Leben, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freizügigkeit, die Gewissens- und Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat den Terrorismus als Gefährdung des Weltfriedens und der internatonalen Sicherheit verurteilt. Die Staatengemeinschaft steht solidarisch an der Seite der USA.

Ich bin vor wenigen Stunden aus den USA zurückgekommen. Dort habe ich mit Kofi Annan über die jüngste Entwicklung in Afghanistan sprechen können. Wir stimmen darin überein, dass Afghanistan jetzt vor allem eine klare politische und humanitäre Perspektive braucht. Die Vereinten Nationen sollten der Rahmen für alle derartigen Bemühungen sein. Sie sind für den politischen Prozess und als Garant für innerafghanische Vereinbarungen unverzichtbar. Nur ein solcher Friedensprozess kann die friedliche Zukunft des Landes im Einvernehmen mit seinen Nachbarn sichern. Deutschland und die Europäische Union wollen und werden ihren Beitrag zu einer politischen Lösung für Afghanistan leisten und sich auch nachhaltig am wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau Afghanistans beteiligen.

Wir müssen auch darüber nachdenken, welche internationalen Abkommen wir weiterentwickeln oder schließen müssen, um künftig besser gegen solche Gefährdungen des Friedens und der internationalen Sicherheit gewappnet zu sein. Ich will nur zwei Bereiche nennen, in denen wir rasch vorankommen sollten: Bei der Vereinbarung einer weltweiten Biowaffenkonvention und bei der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes.

Der fürchterliche Anschlag hat auch positive politische Energien freigesetzt. Die Staatengemeinschaft rückt im Kampf gegen den Terrorismus zusammen. Mit neuer Energie wird versucht, alten Konflikten politisch zu Leibe zu rücken. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich der amerikanische Präsident Bush und der russische Präsident Putin darauf verständigt haben, die atomaren Waffenarsenale ihrer beiden Länder drastisch zu verringern.

Ich stimme Generalsekretär Kofi Annan und vielen anderen zu, die auf der diesjährigen Generalversammlung der Vereinten Nationen gefordert haben: Wir müssen Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit bekämpfen und damit dem Terror den Nährboden entziehen. Neben der internationalen Allianz gegen den Terrorismus brauchen wir auch ein weltweites Bündnis gegen Hunger und Armut.

Der Dialog der Kulturen muss intensiver werden, damit wir mehr voneinander wissen. Mit dem Wissen allein ist es aber nicht getan: Auch in unserem politischen und wirtschaftlichen Handeln muss deutlich werden, dass wir andere Kulturen respektieren.

Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September haben uns wieder vor Augen geführt, wie wichtig diese Zusammenhänge sind. Nur gemeinsam und nur in Achtung voreinander können wir die Zukunft unserer einen Welt erfolgreich gestalten. Lassen Sie uns diese Chance nutzen!

III. Die aktuellen politischen Fragen, die uns heute so drängend bewegen, haben einen direkten Bezug zur künftigen politischen Gestaltung Europas.

Die Europäische Union hat auf den Tagungen des Europäischen Rates in Brüssel und in Gent Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit bewiesen. Wichtige Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus, vor allem auch zur Austrocknung seiner finanziellen Quellen, sind auf den Weg gebracht worden. Kommission und Mitgliedstaaten der Europäischen Union leisten einen substantiellen Beitrag zur humanitären Hilfe für Afghanistan.

Nur die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und nicht die Union selber, können konkrete von den USA angeführte Aktionen unterstützen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie militärischer Natur sind, denn die Europäische Integration steht trotz gewisser Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erst am Anfang. Die Mitwirkung an einer politischen Lösung in Afghanistan, die jetzt möglich erscheint, ist deshalb für die Europäische Union Herausforderung und Chance zugleich. Wir müssen alles tun, um ihre - damit auch unsere - Handlungsfähigkeit in diesem Konflikt zu stärken.

Wenn wir Europäer den Dialog mit anderen Kulturkreisen erfolgreich führen wollen, so setzt das zweierlei voraus: zum einen müssen wir bereit sein, andere Haltungen, Traditionen und Sichtweisen nicht bloß hinzunehmen oder zu ertragen. Wir müssen ihnen vielmehr ihre eigene Würde zugestehen. Dazu gehört, dass wir akzeptieren müssen, dass auch wir kritisiert werden oder dass Forderungen erhoben werden, wir sollten unser Verhalten korrigieren oder ändern. Das darf uns dann nicht als Zumutung erscheinen.

Die zweite Voraussetzung für einen erfolgreichen Dialog der Kulturen ist, dass wir selber uns überhaupt der Werte und Überzeugungen gewiss werden, die uns verbinden. Dazu hat Jürgen Habermas, der stets aus einer dezidiert säkularen Perspektive argumentiert hat, in seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels bemerkenswerte Überlegungen angestellt. Auch die, so hat er angemerkt, die in unseren westlichen Gesellschaften von der Religion Abstand halten, zehren von den normativen Gehalten religiöser Überlieferung und sind daher gut beraten, wenn sie sich der Perspektive der Religion nicht ganz verschließen.

Wenn wir uns stärker der Grundlagen vergewissern wollen, auf denen wir selber aufbauen, dann ist es alles andere als ein feinsinniges Glasperlenspiel, wenn wir gerade jetzt auch über die Grundrechte unserer Europäischen Gemeinschaft diskutieren und darüber, wie die Verfassung eines künftigen Europa aussehen könnte.

IV. Ich habe mich zu diesem Thema schon mehrfach geäußert. Dabei hat mich stets auch die Frage bewegt, wie wir der Skepsis, ja der Ablehnung begegnen können, die die europäische Einigung bei vielen Menschen hervorruft. Viele haben die Sorge, die Einheit Europas könne zu Lasten seiner Vielfalt gehen. Staatspräsident Ciampi hat vieles über die Einheit gesagt, was ich von ganzem Herzen unterstütze: Er hat über unsere Gemeinsamkeiten in der Geschichte, in der Kultur und in unseren Lebensformen gesprochen und vor allem über die grundlegenden Werte und Überzeugungen, die uns verbinden.

Genauso wichtig wie dieEinheitist für das Zusammenleben der europäischen Völker und Nationen dieVielfalt. Die großartige Vielfalt seiner Menschen, seiner Sprachen, seiner Kulturen und seiner Traditionen macht unseren Kontinent einzigartig. Diese Vielfalt wollen und müssen wir bewahren. Nur dann werden die Menschen den europäischen Einigungsprozess unterstützen.

Wir alle kennen die Vorteile der Globalisierung, dennoch stellt sie in zunehmendem Maße auch unsere nationalen Identitäten in Frage. Wenn wir die Handlungsfähigkeit Europas sichern und ausbauen wollen, dann kann uns das gemeinsam nur gelingen, wenn wir die negativen Auswirkungen der Globalisierung besser beherrschen und steuern. Dann können wir - und nur dann - die Vielfalt unseres Kontinents erhalten.

Deshalb plädiere ich für eine europäische Verfassung und für ein Europa, das sich als eine Föderation von Nationalstaaten organisiert.

V. Wer für eine Föderation der Nationalstaaten eintritt, der will das Gegenteil eines Einheitsstaats. Eine Föderation soll sicherstellen, dass jedes Mitglied innerhalb eines klar definierten Rahmens seine Eigenständigkeit und seinen Charakter bewahrt. Kulturelle Vielfalt und institutionelle Ausgeglichenheit bleiben gerade in einer solchen Föderation der Nationalstaaten erhalten. Das ist vor allem für die kleineren Staaten in Europa von großer Bedeutung.

Erweiterung und Vertiefung - das sind die Aufgaben, vor denen wir in Europa stehen. Wenn wir sie erfolgreich lösen wollen, dann müssen wir der Europäischen Union einen verlässlichen und zukunftsweisenden rechtlichen und institutionellen Rahmen geben.

Eine europäische Verfassung, so wie ich sie mir vorstelle, hätte drei Abschnitte:

Natürlich darf man in der Debatte über die Reform der europäischen Institutionen die Rolle der Kommission nicht außer Acht lassen. Da müssen wir darauf achten, dass die Kommission weiter Anwalt des Gemeinschaftsinteresses bleibt. Dieser Anker des europäischen Einigungsprozesses, das Initiativrecht der Kommission, muss bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass die Kommission gestärkt und besser demokratisch legitimiert werden sollte. Dazu könnte die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission durch die beiden Kammern des Parlaments beitragen.

VI. Wir brauchen eine Vorstellung von der Zukunft und wir brauchen Pragmatismus, damit wir die aktuellen Probleme lösen können. Wenn wir in unseren Reformanstrengungen zu zaghaft oder zu kleinmütig bleiben, wenn uns der Blick für das gemeinsame europäische Projekt verloren geht, dann droht uns Stagnation. Dann wird jeder Mitgliedstaat nur noch darauf schauen, wie er seinen Anteil bewahren kann, dann wird jeder nur noch um seine nationalen Interessen kämpfen.

Uns kann aber gemeinsam gelingen,

ein Europa der Europäer zu bauen - die deshalb noch längst nicht aufhören, auch Italiener oder Deutsche zu sein, Polen oder Franzosen, Luxemburger oder Letten.