Redner(in): Johannes Rau
Datum: 25. Dezember 2001

Anrede: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/12/20011225_Rede.html


aus dem Schloss Bellevue in Berlin grüße ich alle, die in Deutschland leben. Meine Frau und ich wünschen Ihnen von Herzen ein frohes, ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Das alles überragende Wort der weihnachtlichen Botschaft heißt Friede.

Gerade bei uns in Deutschland ist das Weihnachtsfest bestimmt von friedlichen, ja oft idyllischen Bildern. Wir denken an den Weihnachtsbaum und an die Kerzen, die friedliches Licht verbreiten.

Besonders gut hat wohl Joseph von Eichendorff, der große Dichter der deutschen Romantik, unser Bild von Weihnachten zum Ausdruck gebracht: Markt und Strassen stehn verlassen

Still erleuchtet jedes Haus

Sinnend geh ich durch die Gassen

Alles sieht so festlich aus."

Obwohl wir alle wissen, dass die Wirklichkeit oft anders ist, obwohl wir gerade vor und auch an Weihnachten Stress und Hektik erleben - ja, bis in die Familien hinein manchmal auch Streit - und obwohl wir wissen, dass es auch früher nicht jedes Jahr zu Weihnachten Schnee gegeben hat: Dieses stille, dieses festliche und vor allem friedliche Bild gehört für uns zu Weihnachten.

Die Wirklichkeit unserer Welt steht diesem weihnachtlichen Frieden oft entgegen. Das haben wir gerade in diesem Jahr besonders erfahren müssen.

Wir alle waren entsetzt über die furchtbaren Terroranschläge in Amerika. Wir alle haben mit Sorgen und bangen Fragen verfolgt, welche Folgen das haben werde. Nicht nur für Amerika, nicht nur für Afghanistan, sondern auch für uns.

Bundesregierung und Bundestag haben die schwere Entscheidung getroffen, dass Deutschland sich an militärischen Aktionen gegen den Terrorismus beteiligt. Niemand hat sich diese Entscheidung leicht gemacht. Das halte ich für fast genauso wichtig wie die Entscheidung selber.

Eines haben die letzten Monate deutlich gezeigt: Auch wenn wir uns entschließen, Freiheit und Sicherheit auch militärisch zu verteidigen, ändert das nichts daran, dass in unserem Volk die Liebe zum Frieden und die Abscheu vor dem Krieg tief verankert sind.

Ich bin dankbar dafür, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten in Mazedonien mitgeholfen haben, einen weiteren Bürgerkrieg zu verhindern. Ich danke auch den Soldaten, die im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und anderswo Frieden und Freiheit schützen.

Natürlich gehen meine Gedanken heute Abend auch zu den Soldaten, die sich auf ihren Einsatz vorbereiten, und zu ihren Frauen und ihren Familien.

Alle unsere Soldaten sollen wissen, dass nicht nur Parlament und Regierung sondern auch die große Mehrheit unseres Volkes hinter ihnen steht.

Genauso danke ich den vielen tausend zivilen Helfern, die in Afghanistan, im früheren Jugoslawien und in vielen anderen Teilen der Welt arbeiten. Ich denke an die "Ärzte ohne Grenzen", die Frauen und Männer vom Technischen Hilfswerk und vom Roten Kreuz, und an die vielen anderen, die Häuser und Brunnen bauen, die Straßen anlegen und Schulen wieder errichten.

Ohne ihre Arbeit gibt es die Chance auf wirklichen Frieden nicht. Und wir wissen doch: Frieden und Sicherheit gibt es nicht ohne Gerechtigkeit.

In den letzten Wochen ist oft davon gesprochen worden, dass wir bereit sein müssen, die Zivilisation, die Freiheit, die Demokratie - man kann sagen: unsere Art zu leben - gegen Angriffe zu schützen. Das ist richtig.

Verteidigen können wir aber nur, was uns wirklich etwas wert ist. Wir müssen wissen, was wir schützen und bewahren wollen. Für jeden einzelnen von uns - und für uns gemeinsam - gibt es vieles, das uns wertvoll ist, das wir nicht missen möchten und von dem wir leben.

Wir möchten die gute Nachbarschaft in Europa pflegen. Die lange Zeit des Friedens hat uns Wohlstand und große persönliche Entfaltungsmöglichkeiten gebracht.

Wir möchten den Frieden im Innern unseres Landes bewahren. Er wird mehr denn je davon abhängen, wie wir das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft gestalten. Integration ist eine Aufgabe, zu der alle beitragen müssen - Einheimische und Zuwanderer. Ich glaube, dass das gelingen kann.

Wichtig ist uns die Art, wie wir in Deutschland zusammenleben. Es gibt mehr Hilfsbereitschaft in unserem Land als wir oft wahrnehmen. Es gibt sehr viele Menschen, die sich für andere einsetzen und die nicht zuerst fragen, was ihnen das bringt. Die meisten tun das ohne große Worte, aber von ihrem Einsatz lebt eine friedliche und lebendige, eine gerechte und eine menschenfreundliche Gesellschaft, davon leben wir alle.

Wir möchten die Achtung vor der Würde des Menschen bewahren - am Anfang des Lebens und an seinem Ende.

Ich denke heute Abend besonders an die vielen, die sich um Kranke kümmern, die Behinderte unterstützen, die in Pflegeheimen helfen und in Hospizen Sterbende begleiten. Ich denke auch an alle, die in der Familie oder im Freundeskreis jemanden betreuen, der sich selber nicht mehr helfen kann. Ihnen allen möchte ich heute Abend ganz herzlich danken.

An Weihnachten sind wir mit unseren Familien und Freunden zusammen. Die erwachsenen Söhne und Töchter besuchen die Eltern, die Großeltern sehen, wie ihre Enkel wieder ein Stück gewachsen sind. Das Zusammenkommen in den Familien verbindet Vergangenheit und Zukunft. Es gibt viel zu erzählen, und hoffentlich auch viel miteinander zu lachen.

Viele sind heute Abend aber auch allein, manche sind einsam. Viele sind krank, viele machen sich Sorgen, wie ihr Leben oder das Leben ihrer Lieben weitergeht. Ihnen allen gilt mein ganz besonders herzlicher Gruß.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

Die weihnachtlichen Tage können uns Freude, Zuversicht und Trost geben. Der Friede, den wir für alle erhoffen und für den jeder von uns etwas tun kann, der kommt nicht über Nacht. Wenn wir aber - alle Jahre wieder - Weihnachten feiern, dürfen wir darauf vertrauen, dass über all unseren Wegen ein Stern leuchtet.

Es ist der Stern der Hoffnung.