Redner(in): Johannes Rau
Datum: 16. April 2002

Anrede: Herr Präsident,Herr Bürgermeister Veltroni,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/04/20020416_Rede.html


Bundesminister Fischer,

meine Damen und Herren,

I. ich bin sehr froh darüber, dass ich während meines Besuches in Italien über die Zukunft Europas sprechen kann. Das Thema liegt mir - wie auch Ihnen, Herr Präsident Ciampi - besonders am Herzen. Ich sehe es als eine Ehre an, dass Sie, Herr Bürgermeister, mich eingeladen haben, an diesem historischen Ort zu sprechen. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich.

Der prächtige "Saal der Horatier und Curiatier", in dem 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet worden sind, steht für den entscheidenden Schritt des europäischen Einigungsprozesses. Ich kann mir keinen besseren Ort der Rückschau vorstellen, um an diesem besonderen Ort die europäische Integration weiterzudenken.

Zwei Weltkriege haben Europa in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schrecklich verwüstet. Hass und Feindschaft haben zu furchtbarem Leid geführt. Der Historiker Fritz Stern hat die Zeit von 1914 bis 1945 den "zweiten dreißigjährigen Krieg" genannt. Erst nach dieser Epoche haben europäische Politiker die Kraft gefunden, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass immer mehr europäische Staaten sich im gemeinsamen Interesse zusammentun.

Für Deutschland war das auch der Weg zurück in die Völkerfamilie. Unsere beiden Länder haben seither gemeinsam und in enger Verbundenheit mit den anderen Partnern am europäischen Einigungswerk gearbeitet.

Wir erinnern uns an Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi. Viele sind ihnen gefolgt. Ich denke zum Beispiel an die beiden Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo, deren gemeinsame Initiative zur Einheitlichen Europäischen Akte geführt hat. Nach Jahren der Stagnation war sie der erste große Reformschritt in der damaligen Europäischen Gemeinschaft.

In den Römischen Verträgen ist der Weg zu einer "immer engeren Zusammenarbeit" vorgezeichnet, so heißt es dort. Die Hoffnungen, die die Völker damit verbunden haben, waren groß. Angesichts mancher Kritik am europäischen Einigungsprozess scheint es mir wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass diese Hoffnungen sich in zentralen Punkten erfüllt haben: Ohne die europäische Einigung wäre der Friede auf unserem Kontinent nicht so sicher geblieben. Wir hätten nicht dieses hohe Maß an staatlicher Stabilität und an persönlicher Sicherheit und Freiheit, wir hätten nicht solchen wirtschaftlichen Wohlstand und auch kein so hohes Niveau von Wissenschaft und Kultur in unseren beiden Ländern.

Auf dem langen Weg der europäischen Integration haben wir große Erfolge erreicht:

Das sind historische Wegmarken, von denen 1957 höchstens die kühnsten Optimisten geträumt haben. Heute sind sie Wirklichkeit - eine Wirklichkeit, die den Menschen in der Europäischen Union manchmal so selbstverständlich scheint, dass sie die dahinter stehenden Leistungen und auch die Freude darüber manchmal vergessen.

II. In den letzten fünfzig Jahren sind wir in Europa immer enger zusammengerückt. Unsere Bürgerinnen und Bürger begegnen sich häufiger und kennen sich besser. Wir wissen mehr voneinander und wir verstehen uns besser. Unsere Volkswirtschaften sind eng miteinander verflochten. Das haben wir gewollt und das wollen wir überall da, wo das sinnvoll ist, auch weiter vertiefen.

Europa wächst allerdings nicht immer ohne Brüche und Probleme zusammen. Die Spielräume der nationalen Regierungen werden eingeschränkt, wenn Souveränität an eine supranationale Organisation abgegeben wird. Das ist nicht immer leicht zu akzeptieren, und manchmal ist es auch schwer, das den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln.

Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass die Souveränität der Nationalstaaten in erster Linie durch die wirtschaftliche Globalisierung gravierend ausgehöhlt wird, die in einem demokratisch unkontrollierten Prozess stattfindet. Die politische Union Europas ist auch darauf eine Antwort, weil sie Souveränität, demokratisch bestimmte Macht wiedergewinnt, die einzelne Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung längst verloren haben.

Es ist nur natürlich, dass die Länder unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, welche Aufgaben besser gemeinsam gelöst werden können und welche in nationaler Zuständigkeit verbleiben sollten. Darum verlangt der europäische Einigungsprozess immer wieder die Bereitschaft und Fähigkeit von allen Beteiligten zu Kompromissen. Die ganz praktischen Vorteile der Integration sind aber nicht zu übersehen:

Die Stabilität und der Wert einer Währung hängen ganz wesentlich von dem Vertrauen ab, das die Menschen in sie setzen. Für dieses Vertrauen tragen alle Regierungen Europas Verantwortung - jede für sich und alle gemeinsam. Die neue europäische Währung führt uns klar vor Augen, wie wichtig es ist, auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik noch stärker als bisher europäisch zu denken und zu handeln.

III. Weil die Europäische Union so erfolgreich ist, möchten viele andere Länder ebenfalls Mitglied werden. Die Aufnahme neuer Mitglieder hat auch eine historische Dimension: Europa gewinnt seine Mitte zurück. Deutschland und - dessen bin ich mir sicher - auch Italien werden alles Notwendige dafür tun, damit wir schon im Jahre 2004 neue Mitglieder in der Europäischen Union begrüßen können.

Die Süderweiterung der Europäischen Union war ein großer ökonomischer Erfolg, der den betroffenen Ländern auch demokratische Stabilität gebracht hat. Genau diesen Erfolg muss die kommende Erweiterung wiederholen. So können wir Frieden, Wohlstand und Stabilität für ganz Europa dauerhaft sichern.

Wir müssen auch das Verhältnis zu den Regionen, die an die Europäische Union angrenzen, vorausschauend gestalten. Die Partnerschaft mit den Anrainerstaaten im südlichen und östlichen Mittelmeer kann die Erweiterung auf ideale Weise ergänzen. Nicht nur die südlichen EU-Partner, wir alle haben ein Interesse daran, dass eine große euro-mediterrane Freihandelszone entsteht und dass sich damit die Aussichten der Menschen im ganzen Mittelmeerraum verbessern, in Frieden, Demokratie und Rechtssicherheit zu leben.

Deutschland hat sich daher von Anfang an für diese Partnerschaft engagiert und will sich gemeinsam mit Italien dafür einsetzen, dass sie fortentwickelt wird. Dabei gilt unser Hauptaugenmerk der Verständigung und dem Ausgleich im Nahen Osten und dem Dialog mit den islamisch geprägten Ländern.

IV. Die Globalisierung und die Erweiterung stellen die Europäische Union heute vor neue, fundamentale Herausforderungen:

Die Union arbeitet im wesentlichen noch immer mit den Strukturen, die für die sechs Gründerstaaten entwickelt worden sind. Schon die Erweiterungen der Vergangenheit sind strukturell nur unzulänglich verarbeitet worden. Die große Erweiterung um bis zu zehn neue Mitgliedstaaten, die jetzt ansteht, ist, nach meiner Überzeugung, mit den bestehenden Strukturen nicht mehr zu schaffen. Wenn wir die Erfolgsgeschichte der Union auch mit fünfundzwanzig oder mehr Mitgliedern fortschreiben wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, die alten Regeln und Verfahren umfassend zu modernisieren.

Deshalb darf Europa kein Einheitsstaat werden. Ich plädiere für ein Europa, das sich als Föderation von Nationalstaaten versteht. Eine solche Föderation ist das Gegenteil eines "europäischen Superstaates". Ihr Erfolgsgeheimnis liegt im fairen Ausgleich der Interessen und im gleichberechtigten Miteinander der kleineren und der größeren Mitgliedsstaaten. In der Europäischen Union darf niemand die Nummer Eins sein wollen; nur dann kann sie gelingen.

V. Beim Europäischen Rat in Laeken haben die fünfzehn Staats- und Regierungschefs den "Konvent für die Zukunft der Union" eingesetzt, der ausdrücklich den Auftrag hat, den "Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger" zu gehen. Das ist das bisher ehrgeizigste Reformprojekt der Geschichte der Europäischen Union. Die erweiterte Union muss in einer globalisierten Welt handlungsfähig bleiben.

Wenn wir die - oft kritischen - Fragen ernst nehmen, die die Bürgerinnen und Bürger überall in Europa täglich stellen, dann müssen der Konvent und die Regierungskonferenz, die sich anschließt, folgende Ziele zu erreichen suchen:

Natürlich dürfen wir die Rolle der Kommission nicht außer Acht lassen, wenn wir über eine Reform der europäischen Institutionen diskutieren. Wir müssen darauf achten, dass die Kommission weiterhin die "Hüterin der Verträge" bleibt und die Gemeinschaftsinteressen vertritt. Der Anker des europäischen Einigungsprozesses, das Initiativrecht der Kommission, muss bleiben. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Kommission gestärkt und besser demokratisch legitimiert werden kann und sollte, zum Beispiel dadurch, dass der Präsident der Europäischen Kommission vom Parlament gewählt wird.

VI. Europa ist einer der größten Räume von Freiheit, Stabilität und Wohlstand in der Welt. In Jahrhunderten sind wir durch die Werte von Antike und Christentum, von Humanismus und Aufklärung geprägt worden. Demokratische Überzeugungen und die Achtung der Menschenrechte einen uns. Europa trägt eine große Verantwortung bei der Gestaltung einer friedlichen Welt. Wir wollen und wir können dieser Verantwortung gerecht werden. Der 11. September hat aber deutlich gemacht: Europa ist nicht ausreichend in der Lage, gemeinsam schnell und wirksam auf Herausforderungen von außen zu reagieren.

Wir müssen die Strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union dringend reformieren und stärken. In der Welt wird von Europa eine größere politischen Rolle erwartet. Darum muss die Europäische Union ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit verbessern. Wenn uns das jetzt mit fünfzehn Mitgliedsstaaten nicht gelingt, dann ist die Aufgabe mit fünfundzwanzig oder mehr Mitgliedern erst recht unlösbar.

Die "Gemeinsame Außenpolitik" muss stimmiger werden. Noch immer fehlt uns auch die berühmte eine Telefonnummer, nach der Henry Kissinger schon vor dreißig Jahren gefragt hat.

Wir sollten deshalb darüber nachdenken, wie die Arbeiten des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die des Kommissars, der für die Außenbeziehungen zuständig ist, stärker gebündelt werden können.

Auch ein anderer Schritt könnte uns wesentlich voranbringen: Wir sollten in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen.

Neue Strukturen allein bringen uns dem Ziel einer "Gemeinsamen Außenpolitik" aber nicht näher. Entscheidend wird sein, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, tatsächlich gemeinschaftlich zu handeln. Nur dann wird Europa in globalen Fragen Gewicht bekommen, und das ist nicht nur im europäischen Interesse.

Eine gemeinsame Außenpolitik, die handlungsfähig sein will, kann auf Dauer nicht ohne eine wirksame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auskommen. Ihr besonderer Mehrwert muss darin bestehen, militärischeundzivile Fähigkeiten aufzubauen, damit die Europäische Union internationalen Konflikten besser vorbeugen und Krisen schneller bewältigen kann. Ab 2003 wird die Union die Polizeimission der Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina übernehmen. Damit ist ein erster Schritt getan, um diese Kapazität aufzubauen.

Auch die transatlantische Partnerschaft und die NATO würden gestärkt, wenn Europa außen- und sicherheitspolitisch besser handlungsfähig wäre. Die Vereinigten Staaten erwarten zu Recht von uns, dass wir mehr Verantwortung übernehmen und dass wir einen größeren Teil der gemeinsamen Lasten schultern. Dabei dürfen wir die Diskussion über das, was nötig ist, nicht auf das Militärische verengen. Wenn Europa mehr einbringt, kann es auch mehr mitbestimmen.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt: Sicherheit darf nicht einseitig militärisch verstanden werden. Richtig verstandene Sicherheitspolitik muss umfassend angelegt sein, sie muss politische und diplomatische, wirtschaftliche und finanzielle Mittel einsetzen. Das gilt auch für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir müssen ihn polizeilich und auch militärisch bekämpfen, wo das erforderlich ist. Das genügt aber nicht. Wer den Terrorismus wirklich besiegen will, der muss dafür sorgen, dass den Propheten der Gewalt der Boden entzogen wird. Dieser Boden bildet sich aus Armut und Unterentwicklung, aus Unterdrückung und aus politischer und kultureller Ausgrenzung.

Wenn uns das gelingt, und das wird nur schrittweise möglich sein, dann wird sich auch bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas das angestrebte europäische Selbstverständnis, ja eine europäische Identität entwickeln.

VII. Präsident Ciampi und ich haben das alte Europa der Feindseligkeiten und Kriege noch erlebt. Wir haben einen großen Teil unserer politischen Erfahrungen in den Zeiten des Kalten Krieges und der Teilung unseres Kontinents gemacht. Ich weiß, dass die europäische Einigung für Sie, Herr Präsident, und für mich eine Herzensangelegenheit ist. Von dieser Überzeugung, die uns eint, spricht die "Gemeinsame Erklärung", die wir gestern veröffentlicht haben. Wir hoffen, dass sie zu der so wichtigen Debatte über die Zukunft Europas beiträgt.

Seit den frühen Tagen der europäischen Zusammenarbeit haben Deutschland und Italien der europäischen Integration immer wieder Impulse gegeben und sie vorangebracht. Unsere Länder verbindet - auch gerade wegen der vielen Parallelen in unserer Geschichte - eine tiefreichende gemeinsame europäische Überzeugung. Italiener und Deutsche sollten auch heute wieder zusammenstehen, wenn es darum geht, ein starkes, ein handlungsfähiges, ein bürgernahes, ein friedliches und ein demokratisches Europa für das 21. Jahrhundert zu bauen.