Redner(in): Johannes Rau
Datum: 17. April 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/04/20020417_Rede.html


Magnifizenz,

liebe Studentinnen und Studenten,

meine Damen und Herren,

I. gerade in Italien mit seinen vielen geistigen und wirtschaftlichen Zentren, mit ganz unterschiedlich geprägten Regionen, wäre es nach meiner Überzeugung falsch, einen Staatsbesuch nur auf die Hauptstadt zu beschränken. Bologna, davon bin ich überzeugt, ist ein besonders schönes und lohnendes Ziel für einen Besuch.

Wo könnte man besser über den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Italien in einem zusammenwachsenden Europa reden als in der berühmten Universität von Bologna? Sie hat die europäische Rechts- und Geistesgeschichte geprägt wie kaum eine andere alma mater.

Zunächst möchte ich Ihnen, Magnifizenz, dafür danken, dass ich hier sprechen kann. Mit Stolz können Sie auf über 900 Jahre reicher akademischer Traditionen zurückblicken und sich zugleich darüber freuen, dass die Universität jung geblieben ist. Sie ist ein Ort der Begegnung junger Menschen aus ganz Europa. Vor allem auch wegen dieser Universität führt diese großartige Stadt ihren alten Namen "la dotta", die Gelehrte, seit jeher zu Recht.

Am Anfang ihrer Geschichte stand etwas Neues: Das so genannte "Scholarenprivileg". Kaiser Friedrich Barbarossa befreite 1158 die Studenten der Universität aus ganz Europa von der allgemeinen Gerichtsbarkeit und unterstellte sie der Gerichtsbarkeit der Universität. Das war ein frühes Beispiel für die Freiheit der Lehre und für Freizügigkeit in Europa. Die Freiheit, zu lehren und zu lernen, wo immer Professoren und Studenten das wollen, ist für mich eines der wertvollsten Ergebnisse der europäischen Einigung - und zugleich eine Rückkehr zum Beginn der europäischen Universität.

II. Winckelmann und Goethe haben Italien für die Deutschen zum Land der Kunst überhaupt gemacht. Die deutsche Klassik hat unser Bild von Italien nachhaltig geprägt. Übrigens auch das Bild von den Italienern: von ihrer Lebhaftigkeit und Ungezwungenheit, von ihrer Anmut und Menschlichkeit. Für viele deutsche Künstler - aber auch für manche deutschen Lebenskünstler - wurde und wird die Begegnung mit Italien, mit seinen Menschen, mit seiner Kultur und seiner Natur ein Weg zu sich selber.

Die Anziehungskraft Italiens auf uns Deutsche ist bis heute ungebrochen. Die Bewunderung und Begeisterung für die Kultur auf italienischem Boden hat zur Gründung vieler Einrichtungen geführt. Stellvertretend für alle möchte ich das 1829 gegründete Deutsche Archäologische Institut nennen, das ein italienischer Ministerpräsident einmal "die schönste Blüte der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien" genannt hat.

Wir Deutsche haben oft davon profitiert, wenn sich Italiener für deutsche Kunst und Kultur interessieren:

Ich freue mich darauf, dass ich die Villa Vigoni morgen besuchen und mit hervorragenden italienischen und deutschen Journalisten und Wissenschaftlern diskutieren kann.

III. Wir sind hier an einem Ort, an dem junge Menschen lernen.

Auch Europa will "gelernt sein". Ich meine das im doppelten Sinne.

Einerseits müssen wir das Funktionieren seiner Institutionen begreifen. Das fällt vielen schwer - in Deutschland und in Italien, und es stimmt ja: Wir brauchen auch in Europa mehr Transparenz und Abgrenzung von Verantwortung.

Andererseits, und das vor allem: Wir müssen die Sprachen Europas lernen. Europas Integration ist in großem Maße eine Frage der Sprache und der Sprachen: Wenn wir die Integration fördern wollen, wenn wir ein Europa der Bürger wollen, dann müssen wir nach Wegen suchen, wie das Gespräch durch das Lernen anderer Sprachen erleichtert und verbessert werden kann. So wie im "Liceo Galvani", das ich soeben besucht habe. Dort hat man fremdsprachige Zweige eingeführt, dort wird man im nächsten Jahr ein deutsches Abitur ablegen können.

Nichts öffnet den Zugang zu anderen Kulturen besser als das Beherrschen ihrer Sprache, die Verständigung und das gegenseitige Verstehen, ein feineres Erfassen von Nuancen bei Wertungen und Einschätzungen. Die Sprache als Mittel der Kommunikation und als kulturelle Leistung, das ist ein wesentlicher Teil der Identität eines jeden Volkes. Wir werden in Europa keine Einheitssprache einführen können - und wir wollen es auch nicht. Selbst bei weltweiter Dominanz einer Sprache, des Englischen, als Verkehrssprache wird und soll die Vielfalt der Sprachen in Europa erhalten bleiben so wie die Vielfalt der Regionen und der Kulturen. Eine Verdi-Oper auf Italienisch und eine Bach-Kantate auf Deutsch. Für viele gibt es in der Musik kaum etwas Schöneres.

Daraus folgt für mich, dass wir eine europäische Identität nur gewinnen, wenn wir die Vielfalt bewahren, auch die Vielfalt der Sprachen, nicht gegen sie und nicht auf ihre Kosten. Mehr noch: Die Vielfalt der Sprachen prägt geradezu unsere Vorstellung von dem, was wir mit Europa meinen: Die Traditionen europäischen Denkens, die Ideen und Entwürfe europäischen Lebensgefühls sind immer schon in den verschiedenen Sprachen Europas formuliert worden und bleiben doch zugleich Ausdruck europäischer Sehnsucht.

Ich bin davon überzeugt: Europas Kraft zur Gestaltung seiner politischen und seiner wirtschaftlichen Zukunft wird umso größer sein, je reicher es kulturell gegliedert bleibt.

IV. Der Name Bologna ist heute auch mit neuen zukunftsweisenden Entwicklungen in der Hochschullandschaft verbunden. Der sogenannte Bologna-Prozess steht für den Versuch, die Universitätssysteme in Europas durchlässiger zu gestalten. Dadurch werden Studierende und Lehrende innerhalb Europas mobiler. Die Anerkennung von Teilabschlüssen und Diplomen ist ein Anreiz, auch in anderen europäischen Staaten zu studieren, Neues kennenzulernen - eben auch die Sprache des anderen.

Mit anderen Worten: Mehr Begegnung wird möglich. So werden wir einen europäischen Bildungsraum entdecken, den es ja schon einmal gegeben hat. Dieser europäische Bildungsraum bewahrt Tradition und Werte. Er macht Europa attraktiver im Wettstreit um die Besten in Forschung und Lehre.

Auch der längste Weg beginnt mit einem Schritt. Darum begrüße ich jeden einzelnen Schritt, der den Austausch unter den Lehrenden und Studierenden fördert, auch zwischen Deutschland und Italien. Jährlich gehen rund 1500 Studierende aus Deutschland nach Italien. Das sind einfach noch zu wenige. Das entspricht weder der Bedeutung unserer Kulturen füreinander noch unseren gemeinsamen Vorstellungen für die europäische Zukunft.

V. Wir müssen heute den Blick über die bilaterale und über die europäische Zusammenarbeit hinaus auf den Dialog mit anderen Kulturen richten.

Der europäische Austausch hilft uns dabei, uns unserer gemeinsamen Grundlagen zu besinnen und zu vergewissern. Dabei spielte und spielt gerade die Diskussion über die europäische Grundrechtscharta eine Rolle. Wenn wir uns der gemeinsamen Werte so bewusst sind, dass wir sie in einem europäischen Verfassungsdokument festlegen, dann haben wir auch festen Grund, den Dialog mit anderen Kulturen und anderen Traditionen zu führen. Von einem klaren eigenen Standpunkt aus können wir mit dem nötigen Respekt, mit offenem Ohr und ohne Vorbehalt das Gespräch mit anderen führen und suchen.

Auch im Verhältnis der Staaten zueinander spielt der Dialog der Kulturen eine Rolle; nie ist seine Bedeutung klarer geworden als in den vergangenen sieben Monaten.

Wenn die Globalisierung mit dem Verlust historisch gewachsener Bindungen und der mangelnden Achtung religiöser Überzeugungen einhergeht, dann entstehen daraus Konflikte.

Globalisierung darf nicht bedeuten, dass diejenigen beiseite gedrängt werden, die ihre Stimmen nicht weltweit zu Gehör bringen können. Wir wissen aus Ländern, die auf der Schwelle zum Industrie- und Medienzeitalter leben, dass der Verlust ihrer Würde und ihrer Identität viele Menschen heute am tiefsten trifft. Sie empfinden ein Gefühl der Minderwertigkeit, ja der Erniedrigung. Dieses Gefühl kann der Nährboden für Aggressionen sein genauso wie Hunger, Armut und Rechtlosigkeit.

Auch in den Industriestaaten des Westens ist die Frage nach der eigenen Identität eine wesentliche Frage geworden. Gerade der enge Kontakt mit anderen Kulturen auch im eigenen Land stellt uns immer wieder neu vor die Frage, wer wir selber sind, welche Vorstellungen vom Einzelnen und vom gesellschaftlichen Zusammenleben wir haben.

Das wird an einer wichtigen politischen Frage der Gegenwart ganz deutlich: Unsere beiden Länder, Italien und Deutschland, müssen sich mit der Einwanderung und mit der Suche nach Asyl auseinandersetzen. Wir erfahren die Chancen, die darin liegen, aber auch die großen Schwierigkeiten.

Wir verlangen von den Menschen, die auf Dauer zu uns kommen, die Bereitschaft zur Integration und wir müssen ihnen Leistungen und Möglichkeiten zur Integration anbieten. Diese Angebote werden wir dann machen können, wenn wir selber wissen, wer wir sind, wenn wir unsere eigene Identität kennen und bestimmen.

Wolf Biermann, einer der großen zeitgenössischen deutschen Autoren, hat es ganz knapp so formuliert: "Wer nicht bei sich selbst ist, kann auch nicht bei anderen sein."

Darum sollte jedes Land seine eigene Kultur bewahren und gleichzeitig andere Traditionen respektieren und den Dialog mit ihnen fördern. Eine auswärtige Kulturpolitik mit solchen Prinzipien ist die beste Methode, gewaltsamen Konflikten mit zivilen Mitteln vorzubeugen.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir aufeinander zugehen, dass wir mehr miteinander als übereinander sprechen. Ich habe in letzter Zeit den Eindruck, dass die Bereitschaft größer wird, diesen Weg zu gehen. Ich sehe wachsendes Interesse, gerade in der muslimischen Welt, an einem intensiveren Austausch mit anderen Kulturen, der über Schlagworte und Floskeln hinausgeht. Auch Europäer und Amerikaner sind sich ihrer Defizite beim Kennenlernen und Verstehen fremder Kulturen stärker bewusst geworden.

Die Instrumente der auswärtigen Kulturpolitik, die ich gerade genannt habe, die Kulturinstitute, die Universitäten mit ihrem Potenzial der Zusammenarbeit und die Auslandsschulen sind Orte, die sich für einen solchen Dialog besonders eignen.

Auswärtige Kulturpolitik ist sehr viel mehr als nur ein "Marketing" für die eigene Kultur, für die Sprache, für das künstlerische Schaffen - so sehr man das mit Stolz betreiben kann. Auswärtige Kulturpolitik ist vor allem ein Beitrag zur Öffnung und zur Offenheit der eigenen Gesellschaft und damit zu ihrer Verständigungsfähigkeit. Die geistige Offenheit einer Gesellschaft ist unerlässliche Voraussetzung für die Kreativität und die Innovationskraft eines jeden Landes und jeder Nation.

Wir wissen auch: Offenheit und Kreativität sind wesentlich für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und damit für unseren Wohlstand. Ohne Austausch, ohne Neugier, ohne grenzüberschreitende Vernetzung werden wir in der Wissenschaft und in der Wirtschaft schnell verkümmern und kulturell verarmen. Den Austausch zu vernachlässigen, das hieße, uns selber von einer Quelle unserer Kraft abzutrennen. Darum bleibt dieser Austausch auch künftig eine der zentralen Aufgaben der Außen- und Europapolitik. Hochschulen wie die in Bologna müssen und werden in diesem Sinne weiterarbeiten.

Ich baue auf die Kraft des Geistes und der Klugheit, auf die Bereitschaft zur Verständigung, hier an der altehrwürdigen Dotta in Bologna, im italienischen und im deutschen Geistesleben und überall in Europa.