Redner(in): Johannes Rau
Datum: 28. Juni 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/06/20020628_Rede.html


I. Die Seoul National University ist mit fast sechsundfünfzig Jahren die älteste Universität in der modernen Geschichte Koreas. Sie hat sich in dieser kurzen Zeit ein hohes Renommée im In- und Ausland erworben.

Verglichen mit vielen europäischen Universitäten, mag manchen diese Universität jung erscheinen. Wie wir am Beispiel Ihrer Hochschule sehen, muss eine Universität nicht erst Hunderte von Jahren alt werden, um international berühmt und geachtet zu sein.

Der Horizont universitärer Arbeit ist heute global. Das ist eine große Herausforderung für die Universitäten - gerade für ihr Selbstverständnis als Bildungsstätte für die jungen Menschen, die ein Land in die Zukunft führen sollen.

Vor wenigen Jahren noch war "Globalisierung" ein unbekanntes Wort - heute begegnet es uns tagtäglich. Die Globalisierung bringt unbestreitbare Vorteile mit sich. In vielen Weltregionen hat sie zu mehr Wohlstand und intensiveren Kontakten, zu Austausch und Bildung geführt. Viele Menschen verbinden mit diesem Begriff aber nicht nur Positives, sondern auch die Angst, etwas zu verlieren: Heimat, Identität, die Möglichkeit, auf das Einfluss zu nehmen, was das eigene Leben bestimmt. Sie fühlen wirtschaftliche Konkurrenz und Abhängigkeit, sie fürchten, dass weltweit nur noch eine Kultur dominieren wird.

Gerade wenn viele Herausforderungen, vor denen wir stehen, globale Dimensionen annehmen, werden die lokalen Unterschiede, die unverwechselbaren und eigenständigen Akzente wieder besonders wichtig. Sie müssen bewahrt werden.

Es ist gut, dass wir Menschen verschieden sind. Darum müssen wir bereit sein, unterschiedliche kulturelle und religiöse, wirtschaftliche und politische Werte zu respektieren. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben: im eigenen Land und in der einen Welt.

Bei Globalisierung denken wir zunächst vor allem an die wirtschaftlichen Herausforderungen. Wir sollten aber den Weltmarkt nie wichtiger nehmen als die Menschen. Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft.

Menschen brauchen örtliche Bindungen und Traditionen, sie brauchen Familie, Heimat, Sicherheit und Anerkennung. Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital, und sie werden und wollen es auch nicht sein.

II. Deutschland und Korea sind in Europa bzw. in Asien Länder von großem politischen und wirtschaftlichen Gewicht. Beide Länder müssen in ihrer jeweiligen Region eine gestaltende Aufgabe übernehmen. Auch mit dem Ziel, dass die Globalisierung zu einer Chance für möglichst viele Menschen auf der Welt wird.

Die Zusammenarbeit, Handel und Begegnung werden die Menschen bereichern,

wenn die Grenzen geöffnet werden, wirtschaftliche ebenso wie politische.

wenn durch regionale Einbindung das Wort der Regionen und aller Länder gleichberechtigt zur Geltung kommt.

wenn der Kulturaustausch intensiviert wird, der den Boden dafür bietet, dass wir einander kennen lernen und dass der Respekt voreinander gedeiht.

wenn die internationale Friedens- und Wirtschaftsordnung weiter ausgebaut wird. Gerade von Korea und von Deutschland kann sie wichtige Impulse bekommen.

Kein Staat allein kann heute angesichts der rasch voran schreitenden Globalisierung die vor ihm liegenden Probleme allein lösen. Das ist nur unter Bündelung der Kräfte, im Zusammenwirken möglich.

Diese Aufgaben stehen vor uns. Diese Aufgaben überfordern uns nicht, wenn wir alle Kräfte mobilisieren.

III. Das Schicksal der Teilung verbindet Deutschland und Korea in besonderem Maße. Die Menschen in Korea haben stets mit besonderer Aufmerksamkeit die Trennung und die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands begleitet. Wir in Deutschland sehnen mit Ihnen den Tag herbei, an dem die Menschen Koreas wieder in einem vereinten Land in Frieden zusammenleben werden. Dieser Tag wird kommen, davon bin ich überzeugt, wie fern er jetzt auch noch scheinen mag.

Wegen der ideologischen und politischen Gräben, die sich nach 1945 durch Europa zogen, lag auch das Ziel der deutschen Einheit einmal in weiter Ferne. Manchen schien es unerreichbar, ein "Utopia", ein Nirgendwo. Ein koreanisches Sprichwort sagt: Wenn du einen Weg von tausend Meilen zu gehen hast, so fange mit dem ersten Schritt an. In Europa hat die Politik der kleinen Schritte zum großen Erfolg geführt. Zunächst musste der Alltag der Teilung für die Deutschen in Ost und West weniger schmerzlich gemacht werden. Willy Brandt sagte zu Beginn der neunziger Jahre im Rückblick: "Das war schrecklich unzulänglich, das blieb schrecklich brüchig, aber wir haben uns nicht davon abbringen lassen, auch jeden möglichen kleinen Schritt zu tun, um den Kontakt zwischen den Menschen zu fördern und den Zusammenhalt der Nation nicht absterben zu lassen."

Die entschlossene Politik der Entspannung, der KSZE-Prozess, die Rüstungskontrolle und die Abrüstung - das alles hat die Sowjetunion, die DDR und die anderen Länder des Warschauer Paktes zu einem Dialog mit dem freien Europa gezwungen, als dessen Ergebnis die Menschen ihre Freiheit und Europa seine Einheit wiedergefunden haben.

Deutschland ist zum erstenmal in seiner Geschichte nur von Freunden und guten Nachbarn umgeben, seit langem schon an seiner westlichen Grenze, seit nunmehr zwölf Jahren auch an seiner östlichen. Aus Feinden, ja sogar aus "Erzfeinden", wie uns lange eingeredet wurde, wurden Freunde und Partner. Der deutsch-französischen Aussöhnung folgte die Verständigung mit Polen. Ich bin überzeugt davon, dass auch das Integrationspotential in Ost- und Südostasien noch nicht erschöpft ist. Die erfolgreiche, gemeinsame Fußballweltmeisterschaft hat gezeigt, dass es überall auf der Welt Dinge gibt, die Menschen verbinden. Das heißt nicht, die Augen vor der Vergangenheit zu schließen, die so viel Leid für die Menschen in Korea gebracht hat. Wir müssen die Vergangenheit erkennen, weil wir sonst die Zukunft nicht gestalten können.

IV. Korea und Deutschland haben ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Unsere Länder gehören unterschiedlichen Kulturkreisen an. Wir können zeigen, dass Unterschiede das Wissen um gemeinsame Ziele und Werte nicht erschweren, sondern im Gegenteil erleichtern können. - Die Begegnung zweier Kulturen kann uns reicher machen.

Die Begegnung, der Dialog der Kulturen setzt Respekt und Verständigung voraus und ganz einfach Kenntnis. Eine hervorragende Möglichkeit, die sich gerade den Studenten bietet, ist das Studium im Ausland.

Noch studieren zu wenige Deutsche in Korea. Ich freue mich aber darüber, dass sich das offensichtlich ändert Die Erfahrungen der Deutschen, die in Korea studiert haben, sind durchweg sehr positiv. Diese guten Erfahrungen werden sich weiter herumsprechen.

Fast eine viertel Million koreanischer Schüler und Studenten lernen Deutsch. In Deutschland leben etwa 30.000 Koreaner und Koreanerinnen. An deutschen Universitäten studieren fünftausend koreanische Studenten. Sie alle sind uns sehr willkommen. Ich würde mich sehr freuen, wenn noch mehr Studenten von der Möglichkeit Gebrauch machten, zu uns nach Deutschland zu kommen.

Für die Herausforderungen der Zukunft ist das gemeinsame Studieren koreanischer und deutscher Studenten - sei es hier, sei es in Deutschland - eine großartige Vorbereitung. Wir wissen, dass sich aus dem gemeinsamen Studium oft Freundschaften für ein ganzes Leben ergeben. Diese Freundschaften werden auch in Zukunft durch noch so perfekte elektronische Kommunikationsmittel nicht überflüssig werden. Der chat room kann die persönliche Begegnungen nicht ersetzen. Sie bilden den Grundstock der Freundschaft zwischen Völkern.

V. Ich nehme heute die Ehre einer Doktorwürde der Seoul National University gerne an. Ich verstehe diese Auszeichnung als ein Hoffnungszeichen: Die Generation, die jetzt an den Universitäten in Korea und in Deutschland heranwächst, wird selbstbewusst die Herausforderungen und vor allem die Chancen gestalten, die die Globalisierung uns allen bringt.

Von der Freundschaft zwischen den Völkern Koreas und Deutschlands können wichtige Impulse ausgehen. Diese Freundschaft ist für mich ein großer Grund zur Zuversicht und zur Dankbarkeit.