Redner(in): Johannes Rau
Datum: 3. Juli 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/07/20020703_Rede2.html


I. Ich bin gerne Ihrer Einladung gefolgt, an der Eröffnung der 9. Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft teilzunehmen. Es ist ein wichtiges Forum in einer wichtigen Region.

Asien ist ein Kontinent, in dem mehr als die Hälfte der Menschheit lebt, von unendlicher Größe und von Extremen gekennzeichnet, wie sie weiter wohl kaum auseinanderliegen können.

Japan und Singapur gehören zu den zehn reichsten Staaten der Welt. Auf tausend Einwohner kommen in Japan dreihundertundneunzig Computer und vierhundert PKW. In anderen Teilen Asiens treffen wir auf Unterentwicklung, Armut und Hunger. In Asien leben 64 Prozent der in der Welt Hungernden, 225 Millionen in Indien, 116 Millionen in China und 44 Millionen in Bangladesch. In vielen Teilen des Kontinents sind Ochsenkarren und Kamel noch das einzige Fortbewegungsmittel, wenn man sich denn überhaupt fortbewegen kann. Während viele Dörfer und Kleinstädte bei Regen von der Außenwelt abgeschnitten sind, weil die Wege nur trocken befahrbar sind, entsteht in China die erste Anwendungsstrecke des Transrapid. In China und Indien verfügen neun bzw. drei von tausend Einwohnern über einen eigenen Computer, im eigenen Auto bewegen sich in China drei und in Indien fünf von tausend Menschen.

Stabile Demokratien, wie Indien, Japan und Thailand stehen neben autoritären Staaten und totalitären Regimen, wie dem nordkoreanischen, das sich von der Außenwelt nahezu völlig abschottet und das einem längst vergangen geglaubten Zeitalter der Unfreiheit angehört.

Alte Reiche wie China, Indien, Korea und Japan finden sich ebenso wie das im Mai dieses Jahres unabhängig gewordene Ost-Timor.

II. Die Beziehungen zwischen Asien und Europa, zwischen zwei Kontinenten, die geographisch zusammengehören und zwischen denen die Grenze nicht eindeutig zu ziehen ist, sind geprägt von Kooperation, Konkurrenz und Konflikt. Für viele beginnt die gemeinsame Geschichte mit der Rückkehr Marco Polos aus dem Reich der Mitte. Die wenigsten mögen wissen, dass sich unter der Asche von Pompeji auch die Statue einer indischen Göttin befand. Umgekehrt verzieren griechische Weinblätter eine Buddhastatue aus dem 6. Jahrhundert in Japan.

Europa verdankt Asien viel und das bis heute: in Wissenschaft, vor allem in der Mathematik und Astronomie, in der Philosophie. Indischen, chinesischen, koreanischen und japanischen Absolventen, die die Elite-Universitäten ihres Landes verlassen, sind gesuchte Arbeitskräfte in den Unternehmen der Hochtechnologie. Wir hätten gern mehr Softwarespezialisten, müssen aber betrübt feststellen, dass für viele Experten die USA attraktiver sind, bisher jedenfalls, füge ich hoffnungsvoll hinzu. Der japanische Architekt Pei schafft in Paris und in Berlin architektonische Meisterwerke.

III. Die politische Geschichte war bis in die jüngste Zeit hinein viel zu häufig eine Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen. Politisch sind wir gegenwärtig mit einem aktuellen Konflikt konfrontiert, der das Risiko einer nuklearen Katastrophe in sich birgt. Mittelfristig bedroht das Streben von Staaten, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen, auch die europäische Sicherheit und nicht nur die der asiatischen Nachbarn. Schließlich geht es in Afghanistan um nichts Geringeres als um den Neuaufbau eines demokratischen und stabilen Nationalstaates.

Es wäre aber falsch, Asien als Zone der Instabilität darzustellen. Ich glaube, dass die regionale Zusammenarbeit in Südostasien, an der sich nunmehr zehn Staaten unmittelbar beteiligen und die auch Korea, Japan und China einbezieht, eine Entwicklung ist, der die Zukunft gehört. Zu nennen sind an dieser Stelle auch die "Asiatisch-Pazifische Wirtschaftliche Zusammenarbeit" und die "Shanghai Sechs". Habe ich soeben den Kaschmirkonflikt erwähnt, so soll nicht ungenannt bleiben, dass in Südostasien seit 1997 der Vertrag über eine atomwaffenfreie Zone in Kraft ist.

Im letzten halben Jahrhundert hat sich immer stärker die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlstand am besten miteinander und nicht gegeneinander erreichen lassen. Die Beziehungen Deutschlands und seiner Partner in der Europäischen Union zu den asiatischen Staaten sind gut, teilweise sogar freundschaftlich, immer aber intensiv, eng und stabil. Deutschland und seine europäischen Freunde wollen ihren Beitrag zu Sicherheit und Stabilität in Asien leisten. Sicherheit und Stabilität - das sind unerlässliche Voraussetzungen für langfristig erfolgreiches wirtschaftliches Handeln.

IV. Die Perspektive, in der wir die Weltmeere sehen, hat sich im Laufe der Geschichte verändert. Nach der Entdeckung Amerikas wanderte der weltpolitische Brennpunkt vom Mittelmeer zum Atlantik. Heute ist auch der Pazifik verstärkt in den Blickpunkt gerückt und das mit Recht: Asien ist ein geostrategischer und wirtschaftlicher Raum, der international rapide an Bedeutung gewinnen wird. Deutschland muss dieser Region daher größere Bedeutung als bisher beimessen.

Dass Asien ein interessanter und lukrativer Wachstumsmarkt ist, das weiß niemand besser als Sie. Ich habe bereits erwähnt, dass in Asien mit 3,5 Milliarden Menschen ca. 60 Prozent der Weltbevölkerung leben. Der Teil, den die asiatischen Staaten zum Weltbruttosozialprodukt beitragen, liegt aber lediglich bei 25 Prozent. Der Anteil am Welthandel macht 29 Prozent aus.

In China und in Indien, beträgt der Anteil der unter Dreißigjährigen an der Bevölkerung 50 bzw. 60 Prozent. In beiden Staaten beläuft sich das Bruttosozialprodukt pro Kopf auf nur 780 bzw. 440 $ US.

Im Jahr 2001 sind lediglich 4,3 Prozent unserer Auslandsinvestitionen nach Asien geflossen. Nimmt man noch die Investitionen deutscher Firmen hinzu, die bereits in Asien niedergelassen sind, so liegt die Zahl etwas höher. Deutsche Investitionen in Asien bleiben aber steigerungsfähig und steigerungsbedürftig. Gleiches gilt für den Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland mit der Asien-Pazifik-Region. Er erreichte im Jahre 2001 11,5 Prozent des gesamten Außenhandels.

V. Die Globalisierung, die immer enger Verflechtung der Weltwirtschaft und die wachsende Konkurrenz stellen die einzelnen Staaten und ihre Volkswirtschaften vor große Herausforderungen. Japan und Deutschland stehen vor denselben Aufgaben: Der Wachstumsmotor soll wieder in Schwung kommen und rund laufen. Dazu sind Anpassungsprozesse erforderlich, die manchmal schmerzlich sind.

Japan ist nach wie vor der Wirtschaftsmotor Ostasiens. Es ist ja kein Zufall, dass Ihre Konferenz in Tokyo stattfindet. Japan ist eine Volkswirtschaft, die zusammen mit den USA und den europäischen Staaten an der Spitze der technologischen Entwicklung steht. Es vereint noch immer rund 60 Prozent des Bruttosozialproduktes des asiatisch-pazifischen Raums auf sich. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist mit 32.000 Dollar erheblich höher als das deutsche. Damit ist klar, dass die Lokomotive Japan für die Erholung der Gesamtregion unverzichtbar ist.

Japan bleibt auch für die deutsche Wirtschaft der größte Einzelmarkt für hochwertige Investitions- und Konsumgüter in Asien. Kritische Stimmen sollten uns in diesem Urteil nicht schwankend machen. Japan ist ein Markt mit großer Kaufkraft und ausgezeichneten Geschäftsmöglichkeiten. Der bilaterale Warenaustausch erreichte im Jahr 2001 rund 36 Milliarden € . Ich freue mich darüber, dass deutsche und japanische Firmen in den Staaten Ost- und Südostasiens 43 Kooperationsverträge eingegangen sind. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Form der deutsch-japanischen Zusammenarbeit auf den Märkten Asiens die Zukunft gehört und dass sie ausbaufähig ist.

VI. Aber auch China verdient aufgrund einer äußerst dynamischen Entwicklung unser verstärktes Interesse. Anscheinend unberührt von der weltweiten Wirtschaftsflaute, beeindrucken seine starken Wachstums- und Handelsperspektiven. Gleich einem gigantischen Magneten zieht China Direktinvestitionen und technologisches Know-how auf sich. China ist eines der wichtigsten Empfängerländer weltweiter Direktinvestitionen geworden.

Chinas wirtschaftlicher Aufstieg und seine Integration in die Weltwirtschaft werden langfristig für die gesamte Region von Vorteil sein. Mit dem Beitritt zu Welthandelsorganisation ist China für deutsche Unternehmen ein noch interessanterer Markt geworden.

VII. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Japan sind alt, weit älter als die formellen diplomatischen Beziehungen seit dem Freundschaftsvertrag von 1861. Das gegenseitige Kennenlernen begann schon im 17. Jahrhundert. Die "Japan-Deutschen" stellten als Faktoreiärzte der niederländisch-ostindischen Handelskompagnie in Nagasaki naturwissenschaftliche und ethnologische Studien an und haben ihr Wissen nach Europa vermittelt. Sie haben dadurch das Interesse Deutschlands und Europas an Japan nachhaltig beeinflusst. Im 19. Jahrhundert hat der deutsche Staatswissenschaftler Herrmann Rössler bei der Ausarbeitung der Meiji-Verfassung mitgewirkt. Im späten 19. Jahrhundert hat der deutsche Philosoph Eugen Herrigel das Interesse Deutschlands an der Philosophie und an der traditionellen Kultur Japans wesentlich vertieft. Unter maßgeblichem Einfluss des deutschen Nobelpreisträgers Fritz Haber kam im Jahre 1927 das japanisch-deutsche Kulturinstitut in Tokio zustande. Dieses historische Erbe ist immer noch ein wichtiges Fundament für die guten Beziehungen.

Im gesellschaftlichen Bereich sind die Freundschaftsinstitutionen ein solider Rahmen für die deutsch-japanischen Beziehungen. Mittlerweile existieren 45 deutsch-japanische und 52 japanisch-deutsche Gesellschaften. 40 Städte in Deutschland und Japan sind durch Partnerschaften verbunden. Zwischen deutschen und japanischen Universitäten gibt es 282 Kooperationsvereinbarungen. Die zwei Goethe-Institute und das japanische Kulturinstitut leisten erfolgreiche Arbeit und treffen mit ihrem Angebot auf große Resonanz.

VIII. Die Breite der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen darf uns allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daßssdas Interesse am jeweils anderen Land der steten Pflege bedarf. Zusätzliche Anstrengungen auch von deutscher Seite sind also unausweichlich, wenn dieses Fundament der deutsch-japanischen Beziehungen im Generationswechsel nicht wegbrechen soll.

Unsere japanischen Freunde haben diese Notwendigkeit schon für sich erkannt. Sie haben deshalb 1999/2000 mit erheblichem Aufwand ein ' Japan-Jahr ' in Deutschland durchgeführt, mit einer beeindruckenden Zahl Japan-bezogener Veranstaltungen in allen Bundesländern. Das Japan-Jahr war ein großer Erfolg.

Es ist an der Zeit, dass wir in einer gemeinsamen Anstrengung von Wirtschaft, Kultur und Politik versuchen, ein Deutschland-Jahr in Japan zu organisieren. Das gilt umso mehr, als wichtige europäische Akteure auf dem japanischen Markt, nämlich Frankreich, Großbritannien und Italien, in den letzten Jahren ebenfalls Kulturjahre in Japan mit großem, auch wirtschaftlich messbarem Erfolg durchgeführt haben.

Herausragende kulturelle Ereignisse, die zusammen mit der deutschen Wirtschaft präsentiert werden, erscheinen mir besonders geeignet dafür, zu einer positiven Erneuerung und Aktualisierung des Deutschlandbildes - vor allem auch bei der Jugend - beizutragen, und damit neue Potentiale auch für unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu eröffnen.

Wie Sie wissen, gibt es bereits konkrete Überlegungen für eine entsprechende Veranstaltungsreihe in Japan in den Jahren 2005 und 2006 unter der Schirmherrschaft des Kronprinzen und des Bundespräsidenten. Ich bin sicher, dass die deutsche Wirtschaft mit demselben Engagement wie die Unternehmen aus den anderen großen europäischen Ländern das ihre tun wird, um dem Deutschland-Jahr in Japan zum Erfolg zu verhelfen. An guten Ideen dafür fehlt es, wie ich höre, nicht.

IX. Ihre Konferenz, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist angesichts des zu erwartenden dynamischen Wachstums in Asien das ideale Forum, Strategien für dauerhafte unternehmerische Erfolge auf diesem Markt der Zukunft zu entwickeln. Ich wünsche Ihnen spannende Diskussionen, ertragreiche Gespräche und ein gutes Gelingen Ihrer unternehmerischen Aktivitäten.