Redner(in): Johannes Rau
Datum: 17. August 2002
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/08/20020817_Rede.html
eine große Katastrophe hat uns heimgesucht. Weit über vier Millionen Menschen in Deutschland sind von den schrecklichen Überschwemmungen betroffen. Mehr als hunderttausend mussten vor dem Wasser fliehen und evakuiert werden, viele tausend haben ihr Hab und Gut verloren.
Ich komme gerade zurück von einem Besuch in Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Das Ausmaß der Zerstörung hat mich erschüttert. Die Naturgewalt hat Straßen und Brücken weggerissen. Eisenbahnschienen, Strom- und Telefonleitungen sind zerstört. Ganze Städte und Stadtteile stehen unter Wasser, manche Dörfer sind völlig verwüstet.
Diese Katastrophe hat unendliches Leid gebracht. Ich habe viele verzweifelte Menschen getroffen. Sie hatten gerade etwas aufgebaut, einen Betrieb, ein Haus - und nun ist alles zerstört. Die Wohnung zu verlieren, die Sicherheit des Privaten, den Hort der Familie - das ist eine furchtbare Erfahrung.
Aber Gott sei Dank machen wir in diesen Tagen auch die Erfahrung von großer Solidarität und Hilfsbereitschaft. Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr und Hilfsdienste tun, was sie können, oft über die eigenen Kräfte hinaus. Und dazu kommen die vielen freiwilligen und ehrenamtlichen Helfer, die anpacken und mithelfen, so weit es irgendwie geht. Sie retten eingeschlossene Menschen aus ihren Häusern, sie organisieren Notunterkünfte und Verpflegung, sie bauen Dämme und sie helfen vom Hausrat zu retten, was zu retten ist. Ohne diese selbstlose Hilfe wäre die Lage noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist. Im Namen unseres Volkes sage ich allen Helferinnen und Helfern meinen großen Dank.
Wir spüren in dieser Lage: wir müssen jetzt alle zusammenstehen. Diese Flut bringt nicht nur einigen Städten und Ländern große Not. Die Flut hat ganz Deutschland getroffen. Sie verlangt deshalb auch eine Anstrengung der ganzen Nation. Es muss die Sache aller Deutschen sein, mit den Folgen dieser Flut fertig zu werden.
Wer vor Ort ist, der hilft nach Kräften praktisch mit. Wer anderswo lebt, wer in seiner sicheren Wohnung die Bilder im Fernsehen sieht, der kann seine Solidarität durch Spenden zeigen und bekunden. Bitte helfen Sie mit, stehen Sie nicht abseits! Die Zerstörungen sind gewaltig. Der Wiederaufbau wird lange dauern und er wird viel Geld kosten. Die Betroffenen brauchen unsere Hilfe.
Es ist sicher falsch, jetzt bestimmte Ursachen oder gar Schuldige für die Flutwelle benennen zu wollen. Wetter und Klima sind auch in früheren Jahrhunderten schwere Bedrohungen für die Menschen gewesen und es hat schlimme Katastrophen gegeben. Wir müssen aber prüfen, welchen Anteil wir Menschen daran haben, dass es jetzt so schlimm kommen konnte. Was durch Menschen in den vergangenen Jahrzehnten verursacht worden ist, müssen wir durch entschlossenes politisches Handeln ändern. Ich denke dabei an das Einmauern mancher Flüsse oder an die Klimaveränderung durch unseren Energieverbrauch. Dazu brauchen wir auch internationale Zusammenarbeit.
Wir alle denken heute auch an die schweren Zerstörungen in Österreich, in Tschechien, in der Slowakei und in Russland. Wir sind gemeinsam von der Katastrophe betroffen - wir müssen auch gemeinsam daraus Konsequenzen ziehen.
Am wichtigsten ist aber jetzt, dass den betroffenen Menschen geholfen wird. Viele haben nur ihr nacktes Leben retten können. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir ein solidarisches Volk sind.
Was wir jetzt brauchen, sind Zusammenhalt, Tatkraft - und Beharrlichkeit. So sehr uns die Bilder jetzt erschüttern, so hoffnungslos die Lage manchem heute erscheinen mag: Das Wasser wird wieder abfließen. Selbst die schrecklichen Bilder, die wir ja in diesen Tagen ständig sehen, werden mit der Zeit verblassen. Gerade dann aber wird unsere Solidarität am stärksten gefordert sein. Die Zerstörung und die Not, die aus dieser Katastrophe entstanden sind, werden uns noch lange Zeit beschäftigen.
Ganz Deutschland steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Ich glaube, dass wir diese Herausforderung bestehen - wenn wir sie als gemeinsame und dauerhafte Aufgabe begreifen. Lassen Sie uns anpacken - jeder an seinem Ort, jeder nach seinen Kräften, aber alle mit der gleichen, andauernden Entschlossenheit.