Redner(in): Johannes Rau
Datum: 27. August 2002

Anrede: Herr Bundespräsident Villiger,Herr Alt-Bundespräsident,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/08/20020827_Rede.html


wir erfahren in Deutschland seit vierzehn Tagen eine neue Solidarität der Menschen untereinander. Die Hochwasserkatastrophe hat viele wachgerüttelt und sie sind nicht nur mit ihren Gedanken, sondern mit ihren Händen bei denen, die in Not sind. Wir erfahren zudem eine Fülle internationaler Hilfsbereitschaft. Aus Amerika, aus England, aus Russland, aus der Schweiz, aus dem Fürstentum Liechtenstein, von überallher kommen Menschen, die uns helfen. Ich möchte zu Beginn dessen, was ich hier über Föderalismus zu sagen habe, ganz herzlich allen danken, die in diesen schwierigen Wochen an unserer Seite sind. Ich möchte stellvertretend Ihnen, Herr Bundespräsident Villiger, diesen Dank aussprechen.

I. Meine Damen und Herren,

es gibt für die Deutschen einenlocus classicusder föderalen Idee: Er findet sich literarisch bei Friedrich Schiller, geographisch in der Schweiz. Bei Schiller heißt es im Rütlischwur: Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,

In keiner Not uns trennen und Gefahr,

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben."

Freiheit, Unzertrennlichkeit, Brüderlichkeit - heute sagen wir: Solidarität - , das sind unverändert zentrale Werte des Föderalismus. Sie haben bei den Eidgenossen eine einzigartige Tradition. Darum kann ich mir für eine internationale Konferenz über den Föderalismus keine besseren Gastgeber vorstellen und darum bin ich gerne hierher nach St. Gallen gekommen.

II. Übrigens: Auch die föderative Tradition Deutschlands kann sich sehen lassen. Sie ist älter und konstanter als unsere staatliche Tradition. Schon das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" war Föderation, auch wenn es sich nie zu einem Staat im modernen Sinne entwickelt hat. Das bündische Prinzip setzte sich fort im Rheinbund ( 1806 ) und im Deutschen Bund ( 1815 ) , aber erst mit dem Norddeutschen Bund ( 1867 ) und dem Deutschen Reich von 1871 ist der Schritt zur bundesstaatlichen Verfassung vollzogen worden. Übrigens war die Reichsgründung von 1871 zwar eine monarchische, aber schon die demokratischen Revolutionäre von 1848 hatten in der Frankfurter Paulskirche eine bundesstaatliche Verfassung entworfen. Auch die Weimarer Republik war bundesstaatlich verfasst.

An diese guten Traditionen knüpften nach dem 2. Weltkrieg die westdeutschen Länder an. Die drei Militärgouverneure der westlichen Besatzungszonen gaben ihnen auf, eine demokratische Verfassung auszuarbeiten, die "eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft". Am Ende der Beratungen stand das Grundgesetz, stand die Bundesrepublik Deutschland als Gründung der Länder und des deutschen Volkes in den westlichen Ländern. Übrigens sorgte das Grundgesetz schon damals ausdrücklich für den Beitritt auch der östlichen Länder zu seinem Geltungsbereich, der dann einundvierzig Jahre später vollzogen werden konnte.

Ich möchte an diesen kurzen Rückblick zwei erste allgemeine Bemerkungen knüpfen, die man gewiss auch mit anderen föderalen Beispielen als dem deutschen belegen kann.

Föderale Verfassungen sind keine Konfektionsware nach dem Motto "Eine Größe passt allen". Sie sind vielmehr Maßarbeit. Sie sind zugeschnitten auf die jeweiligen nationalen Gegebenheiten; in ihren Stoff sind vielfältige historische Entwicklungen und Erfahrungen eingewoben; und sie antworten auf je besondere Herausforderungen und Probleme. Das heißt freilich nicht, dass sie ein- für allemal wie angegossen passen. Auch ein maßgeschneidertes Gewand bedarf der Pflege: Es muss gelegentlich durchgelüftet und aufgebügelt werden, manche Naht wird reparaturbedürftig, und im Lauf der Jahre mag es hier und da zu kurz oder zu eng geworden sein und muss entsprechend umgeschneidert werden. Gerade weil föderale Verfassungen so individuell und unverwechselbar sind wie Völker und Länder, gerade darum ist ihr Vergleich ebenso schwierig wie reizvoll. Wer etwas von dem Thema versteht, der sucht nicht nach Patentlösungen und der will niemandem eine Patentlösung aufdrängen. Eine internationale Sammlung guter Lösungen und eine Analyse ihrer Erfolgsbedingungen dagegen ist für jede verfassungspolitische Diskussion von großem Wert. Leider gibt es immer wieder einmal verfassungspolitische Debatten, in denen statt der klugen Föderalisten die Patentinhaber das Wort führen.

Ich bin nicht als Patentinhaber hier. Ich möchte Ihnen nur über einige Erfahrungen in Deutschland berichten, die vielleicht für Ihre weitere Arbeit bei dieser Konferenz nützlich sein können.

III. Lassen Sie mich damit beginnen, wo wir in Deutschland Erfolge und Vorzüge unserer föderalen Verfassung sehen.

Mit Bedacht setze ich dabei - wie meine beiden Vorredner - den Respekt vor der regionalen Vielfalt obenan. Die bundesstaatliche Ordnung toleriert die historische, kulturelle, die landsmannschaftliche Individualität der deutschen Länder nicht nur, sondern lässt sie sich eigenverantwortlich entfalten. Das macht wertvolle Kräfte frei: Es gibt in allen Ländern ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit, eine große Bereitschaft zur solidarischen Zusammarbeit und ein gesundes Landesbewusstsein. All das ist sehr schnell auch in den Ländern gewachsen, die nach 1945 neu gebildet wurden. In Ostdeutschland, wo 1952 die Länder faktisch abgeschafft wurden, überdauerte die Erinnerung an sie ungebrochen bis zur friedlichen Revolution von 1989. Vielleicht erinnern sich einige: Schon wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer sah man bei den Demonstrationen für demokratische Reformen immer mehr Fahnen in den alten Landesfarben - Thüringens, Sachsens, Mecklenburgs - , immer mehr Transparente mit der Forderung nach Wiederherstellung der deutschen Länder. 1990 wurde diese Forderung erfüllt, und zwar noch von der ersten und der einzigen demokratisch gewählten Volkskammer der DDR.

Die Staatsaufgaben, in denen sich Landesbewusstsein besonders anschaulich ausprägt, haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung noch gewonnen: Landschaftspflege und Naturschutz, Denkmalschutz und Kulturpflege bis hin zum Regionalfernsehen stiften Heimat. Alle Länder nehmen ihre Gestaltungsrechte in diesen Bereichen sorgfältig wahr, und das trägt im Ergebnis maßgeblich zur politischen Stabilität auch des Bundes bei: Seine Einheit beruht nicht zuletzt auf dieser freien Vielfalt. So hält der Föderalismus eine glückliche Mitte; er beugt Nationalismus genau so vor wie Separatismus.

Die bundesstaatliche Ordnung hat in Deutschland zu vergleichsweise viel Dezentralisation, Selbstverwaltung und Pluralismus geführt. Das hat in vielen Bereichen eine größere Sachnähe und größere Transparenz des staatlichen Handelns bewirkt und meist auch mehr Sachverstand erschlossen. Zudem gibt die Gliederung in Bund und Länder den Bürgern doppelte Gelegenheit zum demokratischen Engagement, zur demokratischen Kontrolle und zur demokratischen Willensbildung in Wahlen und Abstimmungen.

Dieser Zugewinn an politischen Gestaltungsrechten und an Bürgernähe der Politik erleichtert gerade auf der lokalen und regionalen Ebene, wo man einander noch persönlich kennt und die Verhältnisse genauer überblickt, wichtige gesamtstaatliche Integrationsaufgaben. Ich will dafür einige Beispiele nennen:

Zusammengefasst: Die föderale Gliederung stärkt nach unseren Erfahrungen deutlich die integrative Kraft des ganzen Gemeinwesens und die Gelegenheiten zur demokratischen Teilhabe.

Die bundesstaatliche Ordnung fördert auch die gesamtstaatliche Kreativität: Mit den Spielräumen für eigenverantwortliche Gestaltung wachsen die Chancen, neue, bessere Wege zur Mehrung des Gemeinwohls zu finden. Natürlich vermehren sich auch die Risiken für Fehlschläge, aber anders als in zentralisierten Staaten bleiben Fehler dann eher auf einen Teil des Landes beschränkt.

Sowohl bei den Erfolgen als auch bei den Fehlern ist der Bundesstaat eine Lerngemeinschaft: Der Bund und die Länder schauen einander recht genau über die Schulter. Was sich bewährt, wird Allgemeingut, was schief geht, darum machen alle anderen möglichst einen großen Bogen.

Darüber hinaus führen gerade die Vielfalt und das Selbstbewusstsein der Länder zu einem gesunden Wettbewerb. Bei meinen Besuchen als Bundespräsident erlebe ich oft, dass mir Bilanzen vorgetragen, die beweisen sollen, dass das jeweils gastgebende Land in der Bundesliga Spitzenreiter ist oder doch zumindest einen vorderen Tabellenplatz besetzt.

Auch diese wettbewerbliche Seite des Föderalismus hat durchaus ihr Gutes - solange sie nicht auf Kosten der nötigen Solidarität geht. Denn bei aller derzeit modernen Benutzung von Lehnwörtern aus der Ökonomie auch in föderalen Zusammenhängen: Es gibt im Bundesstaat keine gliedstaatlichen Teilvölker, die wirtschaftlich ihre eigenen Wege gehen könnten, ohne sich um die Not der anderen zu kümmern. Das Bundesvolk ist eins und unzertrennlich. Bund und Länder sind nur unterschiedliche Werkzeuge und Treuhänder seines Gemeinwohls. Der Bundesstaat ist unteilbare Solidargemeinschaft.

Diese Solidarität haben der Bund und die Länder bisher noch immer bewiesen. Vor allem der Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Ländern und im Kreis der Länder hat sich über Jahrzehnte bewährt. Miteinander sind der Bund und die Länder auch der enormen finanziellen Herausforderung der deutschen Einheit gerecht geworden. In zwei "Solidarpakten" wurden und werden gemeinsam die enormen Summen aufgebracht, die die östlichen Länder für den Ausgleich der teilungsbedingten Nachteile und für ihren Wiederaufstieg brauchen. Allerdings besteht auch in der Finanzverfassung des Grundgesetzes Reformbedarf. Ein gewichtiges Anzeichen dafür ist, dass das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber aufgegeben hat, bis Anfang kommenden Jahres die Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe für die föderalen Finanzbeziehungen und bis Anfang 2005 den ganzen Finanzausgleich neu zu regeln.

Aus deutscher Sicht will ich einen letzten grundsätzlicher Erfolg des Föderalismus nennen: Er lebt nicht von einseitiger Entscheidung, sondern von Dialog und Verständigung, von Abstimmung und Zusammenarbeit. Weil es mehrere politische Zentren gibt und weil der Bund und die Länder in der Rechtsetzung und in der Rechtsanwendung vielfältig aufeinander angewiesen sind, müssen alle Beteiligten aufeinander zugehen und das Gespräch und den Kompromiss suchen. Die fast immer bundesweite Organisation der politischen Parteien und ihre bundesweiten Strategien fördern diese Durchdringung noch, ohne dass dabei Länderinteressen und partikulare Eigenheiten abgeschliffen und nivelliert würden.

Zugleich wirkt die föderale Ordnung "offener" als andere - sie bietet mehr Freiraum zur eigenverantwortlichen und zur gemeinsamen Gestaltung. Eine präzise Zumessung der Rechte und Pflichten durch die Verfassung wirkt dabei versachlichend und damit auch befriedend - äußerstenfalls sieht man sich eben vor dem Bundesverfassungsgericht wieder.

Manchem Betrachter geht diese Art der staatlichen Willensbildung nicht schnell genug. Sie fördert aber tendenziell die Sorgfalt staatlichen Handelns, sie schont regionale Besonderheiten und Interessen, sie mindert den Einfluss von Ideologen, die zwar auf alles eine einfache Antwort haben, aber für nichts eine tragfähige Lösung.

Kein Zweifel: Es gab auch schon gezielte Blockaden der föderalen Entscheidungsfindung, meist laut beklagt von Bundesregierungen, deren tragende Parteien keine Mehrheit im Bundesrat hatten. Aber wer dem Vorwurf häufiger Blockade nachgeht, der kommt auf recht wenige Beispiele dafür, dass trotz Vermittlungsausschuss kein Kompromiss erreicht wurde. Meist waren dann nicht nur parteipolitisches Kalkül, sondern auch handfeste gegenstrebige Länderinteressen im Spiel, und der Widerstand im Bundesrat hatte immer auch gewaltenteilende und die parlamentarische Opposition stärkende Wirkungen. Jedenfalls lohnen sich leichtfertige Blockaden nicht - der Wähler sieht nämlich zu und er kann Obstruktionspolitik empfindlich bestrafen.

Eine solche auf Dialog und Zusammenarbeit setzende Verfassungsordnung ist auf gute Mitspieler angewiesen. Sie verlangt vom Bund und von den Ländern den Willen und die Fähigkeit, ihre Rechte und ihre Aufgaben wahrzunehmen, im eigenen Zuständigkeitsbereich Initiative zu zeigen und Kompetenzüberschreitungen anderer energisch zurückzuweisen. Sie braucht außerdem Staatsbürger, die sich für dieses Spiel der Kräfte interessieren und engagieren. Sie ist darum vielleicht in besonderem Maße auf politische Bildung und auf Bürgertugend angewiesen.

Im 18. Jahrhundert lebte in Göttingen der Physiker und philosophische Kopf Georg Christoph Lichtenberg. Er tröstete sich oft mit Humor. Man findet bei ihm zu Verfassungsfragen die Notiz: "Zwei auf einem Pferd bei einer Prügelei - ein schönes Sinnbild für eine Staatsverfassung."

Ob Lichtenberg Recht hatte, das will ich Ihrem Urteil überlassen. Aber die deutsche Erfahrung mit dem Föderalismus lautet jedenfalls: Er vermehrt weniger die Zahl der sich Prügelnden als die Zahl der Pferde.

IV. Damit komme ich nun allerdings zu den Entwicklungen, die zu einer schon seit längerem andauernden Debatte über eine Reform des Föderalismus in Deutschland geführt haben. Diese Entwicklungen lassen sich rasch skizzieren:

V. Der deutsche Föderalismus hat gerade am Beispiel der europäischen Integration allerdings auch seine Fähigkeit zur Reform bewiesen. In Artikel 23 des Grundgesetzes und einem Ausführungsgesetz sind eine Reihe wichtiger Länderkompetenzen verankert worden:

Diese Reform hat die Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf eine solide Grundlage gestellt, erleichtert und gefördert. Sie zeigt, dass ein Bundesstaat auf internationaler Ebene vertrags- und verhandlungsfähig bleiben kann, ohne seine innere föderale Differenziertheit zu opfern oder auch nur beschädigen zu müssen. Dieser neue Artikel 23 des Grundgesetzes war zugleich eines der wichtigsten Ergebnisse einer Verfassungsdebatte, die mit der deutschen Wiedervereinigung begann, zur Bildung einer Gemeinsamen Verfassungskommission führte und mit der Umsetzung des Großteils ihrer Empfehlungen 1994 vorerst endete. Auch das zeigt Reformfähigkeit, auch wenn sich manche eine stärkere Modernisierung erhofft hatten - z. B. in puncto unmittelbare Demokratie - und auch wenn eine große gesellschaftliche Debatte zur Verfassungsreform ausgeblieben ist. Der Bund und die Länder wollen nun die föderale Kompetenzverteilung erneut auf den Prüfstand stellen. Die Forderungskataloge und Wunschlisten dafür sind noch lange nicht fertig. Einige Tendenzen stehen aber fest: Von Länderseite wird man darauf drängen, die Verantwortlichkeiten wieder klarer voneinander zu trennen, die Zonen gemischter Zuständigkeiten und gegenseitiger Abhängigkeiten beherzt zu verkleinern. Dafür werden verschiedene Wege diskutiert:

Welche Ergebnisse die Bund-Länder-Gespräche haben werden, wird sich zeigen. Ich habe an der Ernsthaftigkeit aller Beteiligten keinen Zweifel. Ich halte mich mit eigenen Ratschlägen zurück, wie es der Neutralität meines Amtes entspricht, doch zu gegebener Zeit will ich gern versuchen, einige erkenntnisleitende Fragen zu stellen.

VI. Das führt mich abschließend zu der Frage, ob bei den Beratungen über die künftige Gestalt der Europäischen Union die föderalen Erfahrungen von Ländern wie Deutschland hilfreich sein können.

Immer wieder ist, vor allem bei den anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, die Befürchtung und manchmal auch die Hoffnung zu hören, Deutschland wolle die europäische Zusammenarbeit nach dem deutschen föderalen Modell gestalten. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, denn die Europäische Union wird auf absehbare Zeit kein Bundesstaat werden. Die Vision von den "Vereinigten Staaten von Europa" ist kein Ziel für die europäische Zusammenarbeit. Es geht vielmehr darum, eine Föderation von Nationalstaaten mit klaren Zuständigkeiten auf der Gemeinschaftsebene und auf der Ebene der Nationalstaaten zu schaffen.

Die föderal organisierten Mitgliedstaaten können dabei ihre Erfahrungen für die weitere Entwicklung der Europäischen Union einbringen. Für Deutschland kommt es darauf an, die Bedeutung der Länder und Gemeinden, mit denen die Bürgerinnen und Bürger sich identifizieren, zu bewahren und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit der supranationalen Organisation "Europäische Union" sicherzustellen. Nur so können wir in einer globalisierten Welt bestehen. Nur so können wir die gemeinsamen Werte der Freiheit, des Friedens, der Menschenrechte und des Wohlstands bewahren.

Nach unserer Auffassung kommt der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union besondere Bedeutung zu. Dass das vor allem auch eine Forderung der deutschen Länder ist, wird keinen überraschen.

Die Fragen der Kompetenzverteilung sind jetzt ein zentrales Thema des Konvents, der im Februar 2002 seine Arbeit aufgenommen hat. Schon jetzt zeigt sich, dass die Kompetenzverteilung die damit verbundene Ausformung des Subsidiaritätsprinzips für die Arbeit des Konvents große Bedeutung hat. Das lässt sich mit der großen Zahl der Beiträge der Konventsmitglieder zum Thema Subsidiarität und mit der Einrichtung einer eigenen Arbeitsgruppe gut belegen.

Das Subsidiaritätsprinzip findet sich in jedem föderal organisierten Gemeinwesen wieder; es ist ein bedeutsames politisches Strukturprinzip. Das Konzept bedeutet - vereinfacht gesprochen - , dass nur dann die übergeordnete staatliche Ebene entscheiden und handeln soll, wenn das fragliche Problem von den Gliedstaaten nicht oder nicht ebenso gut wie von der übergeordneten Ebene gelöst werden kann. Was auf der unteren Ebene entschieden werden kann, soll nicht oben entschieden werden. Dabei ist das auch Ausdruck der Konzeption, wonach aus der Beanspruchung einer eigenen Kompetenz die Pflicht zur Wahrnehmung dieser Gestaltungsmöglichkeiten folgt.

Auf europäischer Ebene bedeutet Subsidiarität vor allem, dass ein Gemeinschaftshandeln immer einen "qualitativen Mehrwert" haben muss. Das ist im Vertrag von Maastricht ausdrücklich festgelegt worden und das gilt nicht bloß für Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, sondern für die gesamte Union.

Dass es in der Vergangenheit zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten über die Tragweite der Kompetenz der Gemeinschaftsorgane kam, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht immer beachtet wurde.

Gerade dadurch wird deutlich, wie wichtig es für das Gelingen eines Projektes wie der Europäischen Union ist, dass die übergeordnete Ebene nur dort tätig wird, wo die Kraft oder die Wirksamkeit einzelstaatlicher Aktionen nicht ausreicht. Nur so lässt sich die Akzeptanz erzeugen, auf die ein so ehrgeiziges Projekt wie die europäische Integration angewiesen ist.

Sicher wird auch die noch so penible Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nicht alle einzelstaatlichen Widerstände und Beharrlichkeiten vermeiden können. Das ist auch gar nicht seine Aufgabe. Es geht vielmehr darum, dass die wirksame Umsetzung des Subsidiaritätsgrundsatzes eine der Grundbedingungen für das eigenverantwortliche Mitwirken aller Beteiligten am europäischen Projekt ist. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der Erweiterung. Will Europa nach der Erweiterung nicht an divergierenden Interessen und gegenseitigen Blockaden scheitern, muss es heute klare und funktionierende Strukturen schaffen. Das Subsidiaritätsprinzip wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

Neben dem Subsidiaritätsprinzip findet sich auf europäischer Ebene ein weiteres Element föderaler Struktur, dass ich erwähnen will: der Ausschuss der Regionen. Ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip ist er im EU-Vertrag geregelt und seit mittlerweile über acht Jahren ein fester Bestandteil europäischer Politik. Er setzt sich zusammen aus ganz unterschiedlichen regionalen Strukturen der Mitgliedstaaten, aus Ländern, Kantonen, Departements oder auch Kreisen und Gemeinden.

Zwar sind die Befugnisse und Kompetenzen des Ausschusses jedenfalls heute noch auf bloße beratende Funktionen und Anhörungsrechte beschränkt. Ebenso wenig sieht der Vertrag ein Klagerecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor. Dennoch ist hier ein erster Schritt gemacht, den regionalen Einheiten ein gemeinsames Forum zu bieten. Die Einrichtung des Ausschusses schafft den Rahmen für einen dynamischen Entwicklungsprozess der regionalen Zusammenarbeit. So ist heute bereits zu beobachten, dass sich einige Regionen im Ausschuss weiter angenähert haben und eine für den Bürger spürbarere Kooperation betreiben als ihre jeweiligen Nationalstaaten.

All diese föderalen Elemente auf europäischer Ebene verfolgen ein wichtiges Ziel: Sie begegnen dem Risiko eines Identitätsverlustes der Menschen auf lokaler und regionaler Ebene. Der Zustimmung und der Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger Europas kann sich eine weitergehende Integration nämlich nur dann sicher sein, wenn einerseits der Wunsch nach selbstbestimmten Entscheidungen und Bewahrung der Identität respektiert wird und zum anderen die Vorteile eines neuen, supranationalen Gemeinwesens weiterhin spürbar werden. Letzteres wird um so deutlicher werden, je mehr die ökonomischen und politischen Prozesse auf globaler Ebene an Dynamik gewinnen.

Im übrigen muss und wird auch künftig jeder Mitgliedstaat selber entscheiden, wie er sich intern organisiert. In einer europäischen Föderation der Nationalstaaten können sehr wohl föderale Staaten wie die Bundesrepublik oder Belgien und zentral organisierte Staaten wie Frankreich oder Großbritannien zusammenarbeiten.

VII. Ich habe es am Anfang gesagt und ich wiederhole es zum Schluss: Bundesstaaten sind Lerngemeinschaften. Das gilt im Innern, aber auch im Außenverhältnis. Dem deutschen Föderalismus stehen innere Reformen ins Haus, und auf supranationaler und internationaler Ebene bringen wir Deutschen engagiert, aber nicht besserwisserisch unsere föderalen Erfahrungen. Wir wollen von anderen lernen - auch von Ihnen. Darum freue ich mich über diese Konferenz, darum bin neugierig auf ihre Ergebnisse und darum wünsche ich ihr einen reichen Ertrag.

Herzlichen Dank.