Redner(in): Johannes Rau
Datum: 10. September 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020910_Rede2.html


Historiker und Politiker stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Auf der einen Seite steht der Politiker als derjenige, der handelt und entscheidet, der agiert und reagiert und so einen wichtigen Teil jener Fakten schafft, die dann zu dem werden, was wir Geschichte nennen. Vielleicht ist er dabei auch um sein sogenanntes Bild in der Geschichte besorgt. Auf der anderen Seite steht der Historiker und scheint zu wissen, wie man es besser nicht gemacht hätte, was gut war und was schlecht, was kurzsichtig und was vorausschauend - allerdings immer im Nachhinein.

Es gibt wohl nur seltene Fälle, in denen Historiker und Politiker in einer Person zusammenfallen. Und Winston Churchill, an den man etwa denken könnte, war eher ein brillanter Geschichtsschreiber als ein Historiker, der Quellen im Archiv untersucht.

Es ist also etwas delikat, wenn sich ein Politiker vor Historikern äußert. Doch habe ich gerade in meinem Amt als Bundespräsident eine besondere Affinität zu Geschichte und zur Geschichtsschreibung, vor allem wegen der geschichtlichen Ereignisse und Jubiläen, zu denen ich immer wieder zu sprechen habe. Der Bundespräsident ist ja so etwas wie eine Ein-Mann-Geschichts-Agentur des Staates, die von Zeit zu Zeit aufgefordert wird, besonderen Gedenktagen oder Jubiläen eine Deutung für das Heute zu geben, für die heutige Gesellschaft, für unser Land.

Da muss ich oft sehr sorgsam abwägen, sehr intensiv studieren, was die historische Zunft zu bestimmten Themen erforscht hat. Ich bin also sehr oft auf das angewiesen, was Sie, die Historikerinnen und Historiker,"in mühevoller Kleinarbeit" - hier ist das abgenutzte Wort einmal angebracht - tagtäglich erarbeiten. Ich weiß ja sehr wohl, welch sorgfältige Arbeit in Archiven und Schriftbeständen erforderlich ist, wie kleinteilig und mühsam wirkliche historische Grundlagenforschung ist, bevor sie sich in großen übersichtlichen und lesbaren Geschichtswerken und Monographien niederschlagen kann, die wir Endverbraucher dann nutzen können.

Für diese Arbeit, die sehr oft der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung dient, jedenfalls dienen könnte, sage ich Ihnen schon hier zu Anfang meinen herzlichen Dank.

Das Wirken aller Politiker, all derer, die an verantwortlicher Stelle Entscheidungen zu treffen haben und hatten, wird eines Tages dem Urteil der Historiker überstellt. Wie sehr man sich auch um sein eigenes Bild in der Geschichte gesorgt haben mag, es sind eben doch die anderen, die Späteren, eben die Historiker, die das Bild malen, das bleibt.

Jürgen Habermas, der im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen hat, kann sich gelegentlich auch ganz einfach ausdrücken. Bei der erwähnten Gelegenheit sagte er: "Das ist ja mit der Geschichte immer so: nachher weiß man ' s besser". Das war zunächst einmal gemünzt auf eine überhebliche Attitüde moralischer Überlegenheit, die manche der später Geborenen im Hinblick auf die Geschichte des Dritten Reiches einnehmen und die sich oft in einem "Uns hätte das nicht passieren können" ausdrückt.

Habermas ' Satz klingt aber auch ganz allgemein erst einmal plausibel. Dass man nachher tatsächlich oft vieles besser weiß, das gehört zu den Erfahrungsschätzen, die man im persönlichen Leben ansammelt, das gehört aber sozusagen auch zur Volksweisheit. So hat es auch Ludwig Marcuse gesagt ( Ludwig, nicht Herbert ) : "Was in der Gegenwart geschieht, erfährt man in der Regel erst eine ganze Weile später von den Historikern."

Es stimmt ja: In dem Moment, in dem wir etwas erleben, wissen wir oft nicht genau, was wir wirklich erleben. Wir brauchen Abstand und Perspektive, um etwas zu deuten und um das Erlebte somit zu einer wirklichen Erfahrung machen zu können.

Es ist das, was Ernst Bloch einmal das "Dunkel des gelebten Augenblicks" genannt hat. Die Gegenwart ist sozusagen blind gegenüber ihrer eigenen Erfahrung.

Erst recht gilt das von den Momenten, in denen wir etwas entscheiden müssen. Wir können, auch wenn wir uns nach bestem Wissen und Gewissen geprüft haben, auch wenn wir versucht haben, an alles mögliche im Voraus zu denken, nicht wirklich alle Konsequenzen kennen und erkennen, die unsere Entscheidung tatsächlich haben wird. Gerade die Konsequenzen politischer Entscheidungen hängen von so vielen Parametern ab, dass man es hinterher garantiert immer besser weiß.

Das ist der bleibende Nachteil der handelnden Menschen vor den Historikern - obwohl sich auch deren Urteil im Laufe der Zeit wieder ändern kann. Das darf aber keine billige Ausrede für alles und jedes werden. Nicht jede falsche Entscheidung stellt sich erst im Nachhinein als eine solche heraus. Es gibt schuldhaftes Versagen. Auch sehenden Auges ist man oft genug ins Unheil gerannt. Nicht immer war es die "Torheit der Regierenden", wie sie Barbara Tuchman untersucht hat; es gibt auch die Torheit der Regierten.

Alles was geschieht, wird Vergangenheit. Es wechselt aber nicht nur vom Heute ins Gestern, es wird nicht nur auf eine andere Stufe der Zeit gestellt: in gewissem Sinne kann man sagen: es verändert sich auch. Nicht nur der Blick, der vom Heute ins Gestern geht, ist zu jeder Zeit ein anderer. Mit dem Blick ins Vergangene ändert sich auch das Vergangene selber. Ob wir das Vergangene wirklich "besser" sehen oder nur anders - eben mit unseren heutigen Augen? Nachher weiß man ' s besser ": wenn das stimmte, wären wir ja klüger und weiser als alle, die je vor uns gelebt haben. Wenn das stimmte, dann wäre die Wahrheit, das" Besser wissen " immer bei der gerade lebenden Generation. Dann wären die Nachgeborenen ihren Vorfahren, die Historiker ihrem Gegenstand prinzipiell überlegen. Das stimmt aber doch wohl so nicht.

Abgesehen davon, dass wir selber wissen, wie viel geistige, künstlerische und kulturelle Größe und Überlegenheit wir in der Vergangenheit finden, wie viel "Besserwissen" wir dort finden - an philosophischem Denken, an Lebensklugheit und auch an politischer Weisheit - abgesehen davon würden wir uns selber gegenüber allen unseren Nachfahren ins Unrecht setzen. Sie alle würden besser wissen als wir, wie es mit uns steht, wie es um uns bestellt ist, wer wir sind, oder eben: wer wir gewesen sind.

Goethe war im übrigen entschieden anderer Meinung. Gegen Ende seines Lebens hielt er fest: Ich halte es für einen großen Vorteil... , dass ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so dass ich vom siebenjährigen Kriege, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen."

Goethe war offenbar der Überzeugung, der Zeitgenosse wisse am besten,"wie es eigentlich gewesen". Das aber herauszufinden und zu zeigen, ist nach dem berühmten Wort Rankes ja die Aufgabe der Historiker. Es kommt nach Ranke nicht darauf an zu richten oder zu urteilen, also es besser zu wissen, sondern eben zu sagen,"wie es eigentlich gewesen". Ich nehme an, ja ich hoffe, dass das immer noch ein Ideal der Geschichtsschreibung ist, auch wenn jedermann weiß, dass wir nie wirklich wissen können, wie es "eigentlich" gewesen ist.

Jeder Historiker weiß, wie schwer es schon ist, überhaupt etwas genau zu wissen, wie schwierig es ist, der Vergangenheit ihre Geheimnisse zu entreißen. Die Quellen sind oft unsicher, die Zeugen nicht immer verlässlich, die Kombination der Fakten und die Deutung haben immer Momente von Willkür. Die Rekonstruktion von Geschichte, wie sie "eigentlich gewesen" und die Konstruktion von Geschichte nach Vorstellungen, die wir bewusst oder unbewusst von der Vergangenheit haben, lassen sich oft kaum voneinander unterscheiden.

Es ist und bleibt also ein schwieriges Geschäft mit der Geschichte. Es gibt dort, wie in allen Wissenschaften, verschiedene Schulen, heftige Auseinandersetzungen über Methoden, Deutungskämpfe, Meinungsverschiedenheiten, kurz: bei aller angestrebten Objektivität keine letzte Sicherheit darüber, wer die wahre Geschichte erzählt.

Das ist aber in der Geschichte, anders als das in anderen Wissenschaften zuweilen sein mag, nicht ohne Bedeutung für die Gesellschaft. Wenn es revolutionäre Entwicklungen etwa in der diskreten Mathematik gibt, dann bleiben 99,9 % Prozent der Öffentlichkeit reichlich gelassen - so wichtig diese Entdeckungen auch sein können.

Wenn es aber zu so etwas kommt wie dem "Historikerstreit" der achtziger Jahre, dann sind viele elektrisiert. Ich kann mich auch noch gut an die Aufregung in den sechziger Jahren erinnern, die Fritz Fischer mit der These auslöste, das Deutsche Reich habe vor 1914, im "Griff nach der Weltmacht", bewusst auf den Krieg hingearbeitet.

Es gibt also keinen Zweifel: Die Geschichte, die historische Wissenschaft und ihre Ergebnisse und Auseinandersetzungen betreffen oft uns alle. Und das geht über die politische Geschichte hinaus, über die ich hier hauptsächlich spreche; das betrifft auch zum Beispiel die Sozial- oder die Mentalitätsgeschichte. Die Ergebnisse geschichtlicher Forschung betreffen uns in unserem Selbstverständnis. Es geht eben nicht nur darum, ob man im Nachhinein irgendetwas weiß oder gar besser weiß, sondern um das Bild, das wir von uns selber haben - denn wir selber sind wir ja nur mit unserer Geschichte.

Die bedeutende Aufgabe, die der Geschichtsschreibung damit zukommt, kann man etwa so - etwas sehr knapp - zusammenfassen: Es gibt keine Identität ohne Geschichte und es gibt keine Geschichte ohne Identität.

Das erste ist wohl relativ plausibel: Es gibt keine Identität ohne Geschichte. Im individuellen Leben ist das ziemlich klar: Eine Identität hat ein Mensch eben nicht dadurch, dass er einen Ausweis besitzt, mit Passbild und den bekannten Kennzeichen. Identität gewinnt ein Mensch durch seine Biographie. Wir sind, was wir geworden sind. Wir sind gemischt aus Zufällen und zielstrebigem Leben, aus den Möglichkeiten, die wir verwirklicht und denen, die wir ausgeschlagen haben, aus dem Glück und dem Leid, aus den Überzeugungen, die wir uns zu eigen gemacht haben und aus dem Zeitgeist, der uns unbewusst mitbestimmt.

Wir möchten manches in unserem Leben vielleicht ungeschehen machen, manches bereuen wir - aber wir wissen: die Elemente, aus denen unser Leben besteht, können wir nicht löschen wie Dateien im Computer. Alles gehört zu uns. Unsere ganze Geschichte macht das aus, was wir sind. Anders gesagt: Wer wir sind, als wen wir uns selber sehen, das hängt immer auch von der Erzählung darüber ab, wer wir waren - und wie es gekommen ist, dass wir so geworden sind, wie wir sind.

Das gilt auch für die Geschichte größerer Einheiten, für die Geschichte von Völkern, Staaten und Nationen, oder zum Beispiel von bestimmten Gruppen, von sozialen Bewegungen oder Institutionen. Die Identität eine bestimmten Gruppe, auch einer Nation, kann man nicht verstehen ohne die Erzählung ihrer Geschichte - ihrer ganzen Geschichte.

Nun weiß ich, dass zwischen Nation und Geschichtsschreibung oft ein dialektisches Verhältnis herrscht. Beide bedingen einander in gewisser Weise. Auch in unserem deutschen Fall ist das so. Im neunzehnten Jahrhundert wurde die Geschichtswissenschaft zu einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft, die entscheidend beigetragen hat zum neuen "Wir-Gefühl" des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.

Auch wenn ich heute der Geschichtsschreibung oder der Geschichtswissenschaft keine Leitfunktion zuschreiben möchte, so kann man doch sagen, dass es ohne Geschichtsbewusstsein, ohne Geschichtskenntnis und ohne Geschichtsbild - das ist nicht dasselbe! - keine Identität gibt. Geschichtsverlust bedeutet Identitätskrise und Identitätsverlust.

Nun brauche ich nicht noch einmal die besondere Lage unseres Landes im Verhältnis zu seiner Geschichte zu beschreiben. Es genügt, wenn ich daran erinnere, dass der Ausdruck "in Anbetracht unserer Geschichte", der in politischen oder moralischen Argumentationen benutzt wird, immer die Zeit des sogenannten Dritten Reiches meint. Wer in einer Buchhandlung vor dem Geschichtsregal steht, der findet zu 80 % Bücher über diese Zeit.

So wichtig und richtig ich es finde, dass das Interesse der Menschen am "Dritten Reich" nicht versiegt, dass man sich dieser Geschichte immer neu stellt, so bleibt das Bild der deutschen Geschichte, das Bild von uns selber also, reichlich unvollständig, wenn es sich darauf beschränkt.

Es gibt eine lange Geschichte vorher - und die ist wichtig, um zu verstehen, wer wir sind. Nicht nur die politische Geschichte, auch die Geschichte der Kultur und der Mentalität ist aufschlussreich für unserer heutiges Selbstverständnis. Unser Land, aber auch unsere innere Landschaft, sind voll von "Deutschen Erinnerungsorten" - wie ein kürzlich erschienenes Geschichtswerk heißt - , ohne deren Kenntnis wir nicht wirklich wissen, wer wir sind. Hier spüren wir, dass wir keineswegs alles besser wissen, sondern dass die Vergangenheit manches von uns weiß, das wir auf andere Weise nicht erfahren könnten.

Nach dem Krieg sind inzwischen fast 60 Jahre vergangen - und auch hier hat sich inzwischen erzählens- und erinnernswerte Geschichte ereignet, die im Streit und manchmal auch im Kampf der Deutungen steht. Diese Geschichte zu erzählen, ist nun mit einer besonderen Schwierigkeit behaftet. Es ist ja zu großen Teilen die Geschichte zweier Staaten und zweier Gesellschaften mit jeweils ganz anderen Erinnerungen.

Im Verlauf des Einigungsprozesses haben wir Deutsche - neben unendlich viel Positivem - auch erfahren müssen, wie unterschiedlich wir in Ost und West in vieler Hinsicht geworden sind, weil unsere Geschichten so unterschiedlich verlaufen sind.

Wie kann es gelingen, darauseineGeschichte zu erzählen? Ist das überhaupt möglich? Wie kann es gelingen, dass man zur ganzen jüngeren deutschen Geschichte sagen kann - auch zu der in den unterschiedlichen Gesellschaften nach dem Kriege: Das istunsereGeschichte?

Vielleicht kann uns das so gelingen, wie die bayerische oder die preußische Geschichte Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte geworden sind.

Ich weiß, dass in der Geschichte die "lange Dauer" mindestens so wichtig ist wie die großen Ereignisse. Aber gemeinsam erlebte Ereignisse setzen gemeinsame Erzählungen und gemeinsame Erinnerungen in Gang. Große Sportereignisse können das sein, wie die Fußball-Weltmeisterschaften oder auch ökonomische, wie die Einführung des Euro. Vielleicht ist aber die schreckliche Flut, die uns im letzten Monat so verheerend getroffen hat, bei all dem Leid, das sie gebracht hat, die erste wirklich existenzielle gemeinsame Erfahrung der vereinten Deutschen.

Ich habe zu zeigen versucht: Identität braucht Geschichte. An der zuletzt aufgeworfenen Frage wird deutlich, dass der Satz auch umgedreht werden muss, um das Verhältnis richtig in den Blick zu bekommen. Geschichte braucht Identität. Geschichte braucht ein Subjekt, das sich mit ihr identifiziert."Wir" müssen - auf welche Weise auch immer - in dieser Geschichte vorkommen. Geschichte braucht ein "Wir", um wirklich eine Geschichte zu sein, die uns angeht.

Natürlich gibt es sehr viel Interessantes in der Geschichte, das wir aus reiner Neugier wissen oder kennen lernen wollen. Im Grunde gibt es doch in jeder Geschichte ein Geschichtssubjekt, ein "Wir". In der Geschichte der Völker kann man es am leichtesten mithören: das "Wir Franzosen","Wir Engländer" oder auch "Wir Sachsen".

Doch selbst bei einer Geschichte der Technik spricht irgendwo das Subjekt "Wir Erfinder" mit, oder "Wir Nutzer der instrumentellen Vernunft", und bei einer Geschichte des Klimas sind "wir Menschen" oft "wir Ausgelieferten" oder vielleicht auch, wenn wir an aktuelle Diskussionen denken,"Wir Verursacher".

Worauf will ich hinaus? Wenn ich vorhin über die Notwendigkeit gesprochen habe, die ganze deutsche Geschichte neu in den Blick zu nehmen, dann stellt sich heute die Frage nach dem Subjekt, nach dem "Wir" dieser Geschichte ganz anders als noch vor dreißig Jahren etwa.

Inzwischen ist Deutschland nämlich ein Einwanderungsland geworden, inzwischen leben Millionen Menschen hier - zu einem immer größeren Teil auch als deutsche Staatsbürger - deren historische und kulturelle Wurzeln in ganz anderen Ländern und Kulturen liegen. Wir sind uns einig darüber, dass Integration, also das Finden eines "Wir", das Gebot der Stunde ist. Dafür genügt das Lernen der deutschen Sprache allein nicht - so unverzichtbar es ist. Eine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft - und mag sie in sich noch so differenziert sein - konstituiert sich durch gemeinsame Erzählungen, durch eine Geschichte. An dieser Stelle wird deutlich, dass mit Integration etwas viel Schwierigeres gemeint sein könnte, als nur das Erlernen der deutschen Sprache und der Besitz eines deutschen Passes.

Es hat heute etwas seltsam Komisches und auch Anrührendes, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die tapferen Lehrer der Dritten Französischen Republik den Geschichtsunterricht - selbst in den französischen Kolonien in Afrika - mit dem berühmten Satz eröffneten: "Nos ancêtres, les gaulois" - "Unsere Vorfahren, die Gallier".

Diese Anekdote ist weniger komisch, wenn man begreift, dass sie ein echtes Problem anzeigt. Eines, das übrigens in Frankreich gegenwärtig auch sehr kräftig diskutiert wird.

Ich frage so:

Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu eigen machen, und gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen.

Übrigens hat die große Hilfe und Spendenbereitschaft vieler Zugewanderter im Angesicht der Flutkatastrophe gezeigt, dass sie sich zu einem großen Teil solidarisch fühlen mit den Mitmenschen ihrer neuen Heimat.

Aber fragen wir noch weiter, heikler, wenn Sie so wollen:

Auch an solchen Fragen wird deutlich, wie ernst es ist und wie sehr wir wirklich umdenken müssen, wenn wir von Deutschland auch als von dem Einwanderungsland sprechen, das wir schon so lange geworden sind.

Wir sprechen seit langem von der Heilsamkeit und der Notwendigkeit des Verfassungspatriotismus. Das ist richtig so - und dieser Verfassungspatriotismus hat nicht nur uns Deutschen in den Jahrzehnten nach dem Krieg gut getan. Er ist nicht nur ein Gegengift zu chauvinistischem Nationalismus. Er stellt dazu jene Art von Patriotismus dar, zu der auch Zuwanderer leicht ja sagen können.

Eine Identität hat ein Land aber nicht nur dadurch, dass es ein Grundgesetz, eine Verfassung hat. Kann es Patriotismus geben ohne eine identitätsbildende, gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Geschichtsbild? Wer ist ein "Deutscher" - der, der die deutsche Geschichte als seine begreift?

Ich weiß nicht, ob jemand darauf schon eine Antwort weiß. Ich weiß aber, dass wir nach einer Antwort darauf suchen müssen. Ich glaube, dass Historikerinnen und Historiker dazu berufen sind, an dieser Antwort mitzuarbeiten. Vielleicht helfen uns Beispiele der Geschichte anderer Länder mit großer Einwanderung. Gewiss hilft uns ein Blick auf die oft vergessene Geschichte der Migration in Deutschland - und der AuswanderungvonDeutschen - eine lange Geschichte und letztlich auch eine sehr erfolgreiche Geschichte. Sicher ist es auch wichtig, den historischen Blick immer stärker auf ein gemeinsames europäisches "Wir" zu öffnen. Nicht als Ersatz, sondern als Weiterung und als Öffnung einer grenzüberschreitenden historischen Perspektive.

Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich am Ende mit mehr Fragen als mit plausiblen Weisheiten gekommen bin. Ich lege Ihnen diese Fragen vor, weil ich zum Ausdruck bringen möchte, dass ich die Geschichte nach wie vor für einen wesentlichen Faktor unserer gesellschaftlichen und nationalen Selbstverständigung ansehe. Darum haben die, die Geschichte erforschen und schreiben, eine Verantwortung, die über das Gelingen der nächsten Vorlesung und des nächsten Buches hinausgeht.