Redner(in): Johannes Rau
Datum: 12. September 2002
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020912_Rede2.html
I. Wir alle spüren, das heutige Ereignis hat geschichtliche Bedeutung. Das wird deutlich, wenn ich folgende Jahreszahlen nenne: 1952 - 1992 - 2002. Vor fünfzig Jahren, der genaue Jahrestag ist in elf Tagen, wurde das Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht erlassen, das in seinem § 1 Berlin zum Sitz des Gerichts bestimmte. Später wurde das in § 2 der Verwaltungsgerichtsordnung übernommen. Die damalige Standortwahl war politisch und verfassungsrechtlich umstritten. Ludwig Frege, von dem wir schon von Präsident Franßen gehört haben, der erste Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, bezeichnete die Entscheidung für Berlin in seiner Rede zur Eröffnung des Gerichts als "Symbol demokratischer Freiheit und Eckpfeiler des demokratischen Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland." In der jetzigen Sitzverlegung sollten wir ebenfalls ein Symbol von ähnlicher Bedeutung sehen.
1992, als die Unabhängige Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat ihre Empfehlungen über die Verteilung und Verlegung wichtiger nationaler Institutionen nach der Herstellung der deutschen Einheit beschloss, geschah das ja - so war der ausdrückliche Auftrag der Kommission - zur "Stärkung des Föderalismus in Deutschland" und mit dem Ziel,"dass insbesondere die neuen Bundesländer Berücksichtigung finden" sollten. Die Föderalismuskommission empfahl damals, das Bundesverwaltungsgericht nach Sachsen zu verlegen. Der Freistaat Sachsen hatte schon frühzeitig das Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts als neuen Standort benannt. Fünf Jahre später ist diese Sitzverlegung durch Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung in Gesetzesform gebracht worden.
Heute, im Jahr 2002, zehn Jahre nach dem Beschluss der Föderalismuskommission, wird ihre Empfehlung endgültig und feierlich vollzogen. Vor etwas mehr als zwei Wochen hat das Bundesverwaltungsgericht seine Arbeit in Leipzig aufgenommen.
Das Symbolträchtige des heutigen Tages wird noch deutlicher, wenn ich den geschichtlichen Bogen noch ein wenig weiter spanne und eine vierte Jahreszahl hinzunehme: Im März 1877, vor jubiläumsträchtigen 125 Jahren, wurde Leipzig zum Sitz des Reichsgerichts bestimmt. 1877 war das Jahr der so genannten Reichsjustizgesetze: Dieses Gesetzeswerk, mit dem Gerichtsverfassungsgesetz, mit der Zivil- und der Strafprozessordnung, war der Schlussstein der jahrhundertelangen Bemühungen, in Deutschland ein einheitliches Gerichtswesen mit einem zentralen obersten Gericht und damit Rechtseinheit zu schaffen. Die Einrichtung des Reichsgerichts, mithin dieses Gebäudes, wurde zum Symbol dieser Rechtseinheit.
Nach zwei Weltkriegen, nach der menschenverachtenden Herrschaft der Nationalsozialisten und nach dem freiheitsunterdrückenden DDR-Regime hat Deutschland durch den friedlichen Umsturz in der DDR erneut seine Einheit erlangt. An diesem friedlichen Umsturz hatten ja gerade viele Menschen in Leipzig großen Anteil, mit der Beharrlichkeit ihrer Montagsdemonstrationen, vor denen der Stasi- und Parteiapparat am Ende zurückweichen musste. Ich erinnere mich gern in dieser Stadt an den 9. November 1989, den ich hier erlebt habe, und wo ich die Nachricht erhielt, dass im knapp 200 Kilometer entfernten Berlin die Mauer gefallen sei.
Nach der Teilung und nach der Wiedervereinigung ist Leipzig wieder Sitz eines obersten deutschen Gerichts. Nach der Verlegung des Bundesarbeitsgerichts von Kassel nach Erfurt ist das ein weiteres Zeichen für die wieder erlangte Rechtseinheit in Deutschland seit 1990. Das ist das Symbolträchtige, das ist das Historische an diesem Gerichtsgebäude und an dem heutigen Ereignis.
II. Freilich darf man bei diesem geschichtlichen Rückblick nicht verschweigen, dass dieses Gerichtsgebäude, das uns heute so hell und freundlich erscheint, auch dunkle Stunden erlebt hat. Ja, auch die Richter des Reichsgerichts haben dem nationalsozialistischen Geist des Unrechts nicht widerstanden, jedenfalls nicht alle. Gewiss, am Anfang stand noch der Reichstagsbrandprozess, der oben im Plenarsaal stattgefunden hat. Über den Freispruch für den bulgarischen Kommunisten Dimitroff waren die Nazis so erzürnt, dass sie den NS-treuen Volksgerichtshof in Berlin schufen und ihm die erstinstanzlichen Zuständigkeiten des Reichsgerichts übertrugen.
Das ändert aber nichts an dem Befund, dass während der Zeit des Dritten Reichs in diesem Gebäude auch Unrechtsurteile gesprochen worden sind. Es waren nicht nur einzelne Rechtsprofessoren wie etwa Carl Schmitt, die die dogmatische Grundlage dafür schufen, dass der Wille des Führers als alleinige Rechtsquelle legitimiert wurde. Es waren auch Richter des Reichsgerichts, die - sogar über das geschriebene Recht hinaus und in vorauseilendem Gehorsam - die Rechtsordnung höchstrichterlich nach dem Geist des Nationalsozialismus formten.
Heute zieht eine andere Richtergeneration und, da bin ich mir sicher, auch eine gänzlich andere Geisteshaltung in dieses Gerichtsgebäude ein, eine Generation, die fünfzig Jahre lang den freiheitlichen Geist des Grundgesetzes geatmet hat.
III. Ich habe eingangs von der wieder erlangten Rechtseinheit gesprochen - und doch weiß ich sehr wohl, dass ich besser davon reden sollte, dass wir weiter an ihr arbeiten müssen. Ich brauche gar nicht erst das kritische Wort von Bärbel Bohley zu bemühen von der Gerechtigkeit, die man gesucht, und von dem Rechtsstaat, den man - statt dessen - bekommen habe. Der darin liegenden Enttäuschung sollten wir ein entschiedenes "immerhin" mit Ausrufezeichen entgegensetzen.
Gewiss, auch in unserem Rechtswesen und Gerichtssystem gibt es Mängel und Fehlentwicklungen und es gibt die konkrete persönliche Enttäuschung im jeweiligen Streitfall, wenn die Mühlsteine des Rechtsstaates zu lange mahlen und wenn der Prozess dann auch noch zuungunsten des Betroffenen ausgeht.
Der Rechtsstaat hat aber eine Strahlkraft, die wir nicht klein reden sollten. Der Rechtsstaat schafft die Voraussetzungen dafür, dass in jedem Einzelfall zwischen Kläger, Beklagtem und Gericht um die "gerechte" Entscheidung gerungen werden kann und dass sie idealiter auch gefunden wird: Das geschieht inhaltlich durch die vom Parlament verabschiedeten Gesetze und verfahrensrechtlich durch die Prozessordnungen und durch unabhängige Richter. Das ist das, was den Rechtsstaat unserer Tage von dem Willkür- und Unrechtsstaat aus vergangenen Phasen deutscher Geschichte unterscheidet.
IV. Das Bundesverwaltungsgericht, meine Damen und Herren, hat seinen Anteil an der Strahlkraft dieses Rechtsstaates. Es ist ja das Besondere an der Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit an diesem Gericht, dass hier der Bürger gegen den Staat um sein Recht klagt. Darum hat das Bundesverwaltungsgericht auch besondere Bedeutung dafür, die Wirkkraft der Grundrechte und der Freiheitsrechte des Grundgesetzes zu entfalten. Es ist ja eine einfache Erkenntnis: Der Bürger, der sein Grundrecht schon beim Verwaltungsgericht erfolgreich durchsetzt, der braucht nicht "nach Karlsruhe", bis zum Bundesverfassungsgericht, zu gehen.
Deshalb greife ich nicht zu kurz, wenn ich feststelle, dass das Bundesverwaltungsgericht - sozusagen komplementär und als "kleiner Bruder" des Bundesverfassungsgerichts - in vielen Entscheidungen Grundrechtsgeschichte geschrieben hat. Ich nenne nur so wichtige und sensible Bereiche wie die Religionsfreiheit und das Schulrecht. Auch bei jedem Bescheid im
Asyl- und Ausländerrecht und bei jeder Baugenehmigung geht es letztlich um grundrechtliche Positionen. Jedes Mal liegt es am Bundesverwaltungsgericht, mit dem Siegel der Rechtskraft zu entscheiden, was rechtens ist. So heißt es in Goethes Faust II, 4. Akt: Als Richter werdet Ihr die Endurteile fällen,
Berufung gelte nicht von Euern höchsten Stellen.
Denn meine Dankbarkeit vollgültig zu erproben,
Hab ich Euch ganz zunächst der Majestät erhoben."
V. Das ist nicht ohne Enttäuschungen und auch nicht ohne zum Teil heftige Kritik abgegangen - bei den Menschen in den neuen Ländern, aber auch bei manchem Alteigentümer im Westen. Auf das Ganze gesehen können wir heute aber feststellen, dass dem Bundesverwaltungsgericht in der Anwendung und Auslegung der gesetzlichen Vorschriften ein angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gelungen ist.
VI. Meine Damen und Herren, ein Umzug ist ein schwieriges Unternehmen, das bringt Probleme und Mühen mit sich. Das gilt im Privaten, aber erst recht, wenn staatliche Institutionen umziehen und wenn sie den Menschen, die für sie arbeiten, zumuten, mit ihnen umzuziehen. Das wissen wir nicht nur wegen des - in der Dimension wesentlich größeren - Umzugs von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin.
Auch um Leipzig als Sitz eines obersten Bundesgerichts hat es Ärger und Enttäuschungen gegeben. Es ist nicht zu leugnen, dass es der Tradition des Gebäudes als Sitz des obersten Gerichts in Zivil- und Strafsachen eher entsprochen hätte, wenn der Bundesgerichtshof hier eingezogen wäre, der sich doch stets in der Nachfolge des Reichsgerichts gesehen hat. Umgekehrt saß das Bundesverwaltungsgericht in Berlin im Gebäude des ehemaligen Preußischen Oberverwaltungsgerichts durchaus an einem traditionsgemäßen Ort. Ich will diese Diskussion hier nicht weiter vertiefen; andere haben dazu prononciert Stellung genommen.
Heute sollten wir unter diesen Streit versöhnlich einen Schlussstrich ziehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls in der damaligen Diskussion frühzeitig seine Bereitschaft zu einer Sitzverlegung erklärt.
Herr Präsident Franßen, Sie haben wesentliches Verdienst daran, dass diese Sitzverlegung heute ihren feierlichen Abschluss findet. Sie haben sich, wie ich weiß, nach innen wie nach außen für diesen Umzug eingesetzt und die Baumaßnahmen mit großem persönlichem Engagement vorangetrieben. Sie werden es gewiss nicht als Geringschätzung Ihrer richterlichen Spruchtätigkeit und Ihrer Leistungen in der Leitung des Gerichts ansehen, wenn man Ihnen im Rückblick auf Ihre Amtszeit, die sinnigerweise diesen Monat zu Ende geht, den Titel des "Baupräsidenten" verleihen würde. Es ist ganz maßgeblich Ihr Verdienst, dass dieser Umzug so personalverträglich, also so menschenfreundlich wie möglich gestaltet wurde: einen großen Austausch bei den Mitarbeitern hat es im nichtrichterlichen Bereich gegeben; hier arbeiten heute ganz überwiegend Menschen aus Leipzig und Umgebung. Es ist zu erwarten und zu hoffen, dass auch die richterlichen Mitglieder nach und nach hier Wohnsitz nehmen.
VII. Ich wünsche dem Bundesverwaltungsgericht und allen Frauen und Männern, die nun in diesem Gerichtsgebäude arbeiten und Recht sprechen werden, dass sie auch weiterhin in jedem Einzelfall danach streben, Entscheidungen zu suchen und sie auch zu finden, die der biblischen Weisheit Salomos zumindest nahe kommen. Denn, Herr Präsident Franßen, sie haben eben aus der Bibel zitiert, es heißt ja nicht nur "Wachet und betet", sondern es geht ja weiter: "dass Ihr nicht in Anfechtung fallet".