Redner(in): Johannes Rau
Datum: 18. Oktober 2002
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/10/20021018_Rede.html
I. Wir gedenken heute der Opfer der Terroranschläge im Jahre 1977. Wir blicken zurück auf einen Teil deutscher Geschichte, zu dem viele von Ihnen einen ganz persönlichen Bezug haben. Sie sind Familienangehörige der Opfer. Sie waren Freunde oder Weggefährten.
Alle, die diese Monate erlebt haben, verbinden damit das Gefühl von Entsetzen und Wut, von Beklemmung und Fassungslosigkeit.
Verantwortlich für die Morde war eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich "Rote Armee Fraktion" - RAF - nannten.
Am 7. April 1977, das war der Gründonnerstag, erschossen Mitglieder der "Rote Armee Fraktion" in Karlsruhe Siegfried Buback, seinen Fahrer Wolfgang Göbel und den Justizwachtmeister Georg Wurster.
Am 30. Juli 1977 haben Mitglieder der RAF in seinem eigenen Haus Jürgen Ponto erschossen.
Am 5. September 1977 entführten Mitglieder der RAF Hanns Martin Schleyer. Sie erschossen Heinz Marcisz, seinen Fahrer, und die Polizeibeamten Reinhold Brändle, Roland Pieler und Helmut Ulmer, die zum Schutz von Hanns Martin Schleyer eingesetzt waren.
Am 13. Oktober entführten palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" mit dem Ziel, im Gefängnis sitzende Mitglieder der RAF freizupressen. Sie erschossen den Flugkapitän Jürgen Schumann.
Am 18. Oktober 1977, dreiundvierzig Tage nach seiner Entführung, ermordeten Mitglieder der RAF Hanns Martin Schleyer.
Alle Ermordeten waren Ehemänner und Väter,
sie waren Brüder und Freunde,
sie waren Kollegen und Weggefährten.
Sie standen mitten im Leben.
Sie wurden grausam aus ihren Familien und aus unserer Mitte gerissen.
II. Heute gedenken wir aller Opfer in tiefer Trauer.
Wir sagen den Hinterbliebenen, deren Schmerz auch nach einem Vierteljahrhundert nicht vergangen ist: Ihr Leid ist nicht vergessen. Deutschland hat die Toten nicht vergessen.
Das ist die ganz persönliche Seite des heutigen Gedenkens.
Wir sollten uns an diesem Tag aber auch daran erinnern, dass diese Morde System hatten. Sie sollten unser aller Zusammenleben treffen.
Die RAF hatte, um ihre Ziele durchzusetzen, die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens aufgekündigt. Die Mitglieder der RAF hatten die Ermordung von Repräsentanten des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, die ihnen verhasst waren, zur revolutionären Strategie erklärt.
Sie sahen sich im Kampf gegen Imperialismus und Militarismus. Sie haben Menschen umgebracht, kaltblütig, mit Vorsatz und in dem Wahn, damit eine freie, eine menschliche Gesellschaft erzwingen zu können.
Darum gedenken wir heute nicht nur der Ermordeten. Wir bekräftigen heute, worauf unser Zusammenleben gegründet bleibt: auf dem friedlichen, dem freien und dem demokratischen Wettstreit der Meinungen und auf das Verbot, Gewalt einzusetzen.
III. Die Erinnerung an diesen 18. Oktober 1977 ist auf schreckliche Weise zwiespältig. Einerseits war es ein Tag der Befreiung und der Erleichterung: Kurz nach Mitternacht erreichte uns die Nachricht, dass die GSG 9 in Mogadischu die neunzig Geiseln in der "Landshut" befreit hatte.
Zugleich war der 18. Oktober aber ein Tag des Todes:
Die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe nahmen sich noch in der Nacht das Leben, nachdem der Versuch ihrer Freipressung gescheitert war.
Und am folgenden Tag wurde zur schrecklichen Gewissheit, was viele befürchtet hatten: Hanns Martin Schleyer wurde tot gefunden, erschossen - nach allem, was wir wissen - an diesem 18. Oktober.
IV. Wir alle kennen die schrecklichen Umstände der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Er musste lange Wochen leiden, die geprägt waren von Angst, Verzweiflung und Verbitterung.
Sein Leben hätte - möglicherweise - gerettet werden können, wenn der Staat den erpresserischen Forderungen der Terroristen nachgegeben hätte.
Die Bundesregierung mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und alle politisch Verantwortlichen der Bundesrepublik Deutschland standen vor einer Entscheidung, die sie nicht treffen konnten, ohne Schuld auf sich zu laden:
Während quälend langer sieben Wochen der unermüdliche Versuch, den Terroristen mit allen kriminalistischen Mitteln auf die Spur zu kommen und den entführten Hanns Martin Schleyer zu befreien.
Wer von uns kann erahnen, welche Not Hanns Martin Schleyer in diesen Wochen ausgestanden hat? Wer von uns kann nachempfinden, was seine Familie, was Sie, Frau Schleyer und Ihre Söhne, durchgemacht haben?
Wir wissen, dass die, die damals politisch entscheiden mussten, bis heute die Last verspüren, die sie mit ihrer Entscheidung auf sich genommen haben, eine Entscheidung, mit der sie schuldlos schuldig wurden.
Für sie, für uns alle, hat Bundespräsident Walter Scheel gesprochen, als er beim Trauergottesdienst und Staatsakt am 25. Oktober 1977 in Stuttgart Frau Schleyer und ihre Söhne um Vergebung gebeten hat.
Walter Scheel sagte damals: Wir neigen uns vor dem Toten. Wir alle wissen uns in seiner Schuld. Im Namen aller deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns Martin Schleyer, um Vergebung."
V. Heute, ein Vierteljahrhundert später, wissen viele junge Menschen in unserem Land nichts oder nur wenig über das, was damals geschehen ist, und nur wenig über die Stimmung, die Atmosphäre dieser Tage.
Vielen jungen Menschen in unserem Land ist dieses Kürzel "RAF" fremd, ein Phänomen, vielleicht fast schon ein Phantom. Inzwischen tauchen die Symbole des Mordens sogar in modischen Werbekampagnen auf, als handele es sich bei den Terroristen um Helden der Pop-Kultur.
Wie erklären wir den jungen Menschen heute, was damals tatsächlich geschehen ist? Wie bringen wir ihnen die Fakten nah und die Gefühle, die juristischen Fragen und die philosophischen und theologischen Grundlagen?
Ein Versuch das zu tun, ein gelungener Versuch, wie ich meine, ist die Dokumentation von Heinrich Breloer über die Entführung und die Ermordung von Hanns Martin Schleyer, die vor kurzem noch einmal im Fernsehen gezeigt worden ist. Solch gut gemachte dokumentarische Aufarbeitung ist vielleicht der richtige Weg, jungen Menschen klar zu machen, wie sehr gerade die Entführung von Hanns Martin Schleyer und der "Landshut" das Denken und die Gefühle vieler Menschen und dann das gesellschaftliche Klima in Deutschland geprägt hat.
Es ist gut, wenn immer wieder nach Erklärungen und nach Gründen gesucht wird, nach dem Warum des Terrors. Dabei helfen auch Zeugnisse von Tätern weiter, die sich mit ihren Taten auseinandergesetzt und als Ergebnis der Gewalt abgeschworen haben.
Der Versuch, das Unfassbare zu verstehen, ist aber etwas ganz anderes als Verständnis oder gar Einverständnis.
Diese fundamentale Unterscheidung ist damals nicht immer gemacht worden. Das hat zu einem Klima der Verdächtigung und zu Missverständnissen geführt, die unserem Land wahrlich nicht gut getan haben.
Niemals aber dürfen bei der Suche nach Ursachen die Opfer aus dem Blickfeld geraten - auch nicht fünfundzwanzig Jahre später.
Manche Darstellung der Ereignisse des Jahres 1977 kommt mir seltsam distanziert und nüchtern vor. Da fehlt es am Mitgefühl, am Mitleiden. Das aber gehört doch in den Mittelpunkt:
die Gefühle der Opfer,
die Trauer ihrer Familien,
die Empfindungen vieler Menschen damals,
die Angst und die Beklemmung,
die Bedrohung und die Ohnmacht,
die Wut und die quälende Ungewissheit,
die Schuld und die Trauer
und das Leid.
Ja, das vor allem: das unendlich große Leid, das fanatische Frauen und Männer über Mitmenschen gebracht haben.
VI. Das Urteil der Geschichte ist dasselbe wie die Urteile der Gerichte:
VII. Viele haben sich mit den Terroristen und ihrem Weltbild auseinander gesetzt. Mich hat besonders beeindruckt, dass die Brüder von Braunmühl 1986 einen offenen Brief an die RAF geschrieben haben. Er begann mit den Sätzen: "Ihr habt unseren Bruder ermordet. Ihr habt Euren Mord begründet. Wir wollen Euch auf diese Begründung antworten". Und weiter heißt es: "Eure Sprache ist wie Beton. Fest verbarrikadiert gegen kritisches Denken, gegen Gefühle und gegen jede Wirklichkeit, die sich ihren erstarrten Begriffen nicht fügen will. ( ... ) Sie ist schwer verständlich, obwohl sie alles so einfach macht."
In den Texten der Terroristen mischen sich Wirklichkeitsverlust und Selbsttäuschung, Selbstgerechtigkeit und der Wahn, als Widerstandskämpfer Zustimmung und Unterstützung zu finden. Mit ihren Parolen konnte die RAF bei manch einem auf Sympathie stoßen, der selber nicht - wie sie - "aktiv" wurde. Sie sahen sich als Kombattanten. Sie maßten sich einen "politischen" Status an.
Die Wahrheit aber lässt sich eben nicht bemänteln: Die RAF-Mitglieder bekämpften kein angeblich totalitäres "System", sondern sie töteten Menschen, die ihnen nichts getan hatten. Darum wurde nach ihnen gefahndet, darum wurden sie verurteilt.
Im Gefängnis bezeichneten sie sich als "politische Gefangene". Welcher Zynismus, welche Anmaßung den Menschen gegenüber, die tatsächlich ihrer Überzeugungen und nicht Verbrechen wegen eingekerkert wurden - ob in der Sowjetunion oder im Südafrika der Apartheid!
Welch ein Wirklichkeitsverlust, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die politische Situation in der Bundesrepublik Deutschland mit Faschismus und mit dem Terror von Diktaturen gleichzusetzen!
In unserem freiheitlichen Rechtsstaat ist jeder frei zu denken, was er will und keiner ist verpflichtet, sich an die Wirklichkeit zu halten. Niemand hat aber das Recht, für seine politischen Überzeugungen mit Gewalt einzutreten.
Das Gewaltmonopol des Staates schützt ja in erster Linie die Minderheiten, die Außenseiter, auch die Meinungsfreiheit für extreme Auffassungen.
Das kann der Staat aber nur dann, wenn er mit seinem Gewaltmonopol auch verhindert, dass Bürger andere Bürger umbringen, weil sie ihrer Vorstellung von Staat und Gesellschaft im Weg stehen.
VIII. Staaten sind Friedensordnungen. Sie regeln nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen, und zwar so, dass sie unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Angriff auf diese Friedensordnung vor fünfundzwanzig Jahren abgewehrt.
Darüber, wie der Staat den Kampf gegen die Terroristen geführt hat, ist damals leidenschaftlich gestritten worden. Es gab viele gesetzliche Änderungen, die Rechte der Inhaftierten und ihrer Verteidiger wurden eingeschränkt, ich nenne nur das so genannte Kontaktsperregesetz. Die Kontroll- und Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden wurden erweitert. Manch einer sah damals die Grenzen dessen überschritten, was der Rechtsstaat darf. War die Reaktion des Staates übertrieben? War vielleicht sogar eine gewisse Sicherheits-Hysterie festzustellen?
Gewiss war die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen gravierend, jedenfalls waren sie für uns alle spürbar: Wir haben sie erfahren bei Straßensperren, bei Ausweiskontrollen und durch Polizeibeamte mit Maschinenpistolen im Anschlag. Wir müssen uns aber auch der tief empfundenen Erschütterung der Sicherheit unseres Staatsgefüges erinnern. Genau darauf zielten ja die Terroristen.
Deshalb meine ich mit vielen anderen im Rückblick: Nein, der Rechtsstaat hat die Grenzen des Zulässigen damals nicht überschritten. Der Staat des Grundgesetzes bleibt aber verpflichtet, immer wieder zu prüfen, wie die Sicherheit des Einzelnen und die Sicherheit von uns allen so freiheitlich wie möglich garantiert werden kann.
IX. Das ist das eine. Der Staat beruht aber auch auf Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann. So hat es Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert.
Der Staat ist darauf angewiesen, dass seine Bürger ihn bejahen, dass sie sich innerhalb des vorgegebenen freiheitlich-demokratischen Rahmens engagieren, dass sie am politischen Prozess teilnehmen, dass sie sich in Parteien oder auf andere Weise bürgerschaftlich beteiligen. Der Staat ist eine "res publica", eine Angelegenheit Aller. Er ist darauf angewiesen, dass wir ihn als unsere eigene Sache begreifen.
Die staatliche Ordnung gerät nicht erst in Gefahr, wenn sie von Terroristen bedroht wird, die sich selber aus dieser staatlichen Friedensordnung ausgrenzen. Die Grundlagen des Staates werden auch untergraben, wenn sich seine Bürger von ihm abwenden.
Das geschieht auf ganz unterschiedliche Weise:
indem man Springerstiefel anschnürt und andere einschüchtert und bedroht.
Das kann auch geschehen, indem man den Staat verächtlich macht und unsere demokratische Ordnung entwürdigt.
Das kann aber auch stillschweigend und schleichend geschehen:
Deshalb bleibt es ständige Aufgabe des Staates, bleibt es Aufgabe jeder Politik, bleibt es Aufgabe von uns allen, unsere staatliche Friedensordnung weiter zu entwickeln. Dazu gehört, dass der Staat auch denen eine Perspektive bietet, die den Eindruck haben, am Rande zu stehen. Das ist die beste Gewähr dafür, dass die Geschehnisse des Jahres 1977 sich nicht wiederholen, dass sie ein Kapitel deutscher Geschichte bleiben, das hinter uns liegt.
X. Die Täter der RAF, die heute noch im Gefängnis sind, haben Beistand und Betreuung erfahren, vor allem aus den christlichen Kirchen. Das ist gut. Es entspricht christlichem Selbstverständnis und dem Menschenbild unseres Grundgesetzes, auch in jedem Mörder den Menschen zu sehen. Was immer einer tut, er bleibt ein Mensch.
Aus dieser Haltung erwächst bei manchen der Wunsch und die Hoffnung, dass auch die derzeit Inhaftierten bald aus dem Gefängnis entlassen werden können.
Der größte Teil der ehemaligen Mitglieder der RAF ist in den vergangenen Jahren aus der Haft entlassen worden, nach den Grundsätzen unseres Rechtsstaates, die für alle Straftäter gelten. In wenigen Fällen sind Strafgefangene aufgrund eines Gnadenentscheids meiner beiden unmittelbaren Amtsvorgänger vom weiteren Vollzug der Strafhaft verschont worden. Ich selber habe Anfang dieses Jahres einem Gnadengesuch entsprochen.
Ich weiß mich in der Tradition der bisherigen Bundespräsidenten, dass es einen generellen Gnadenerweis für den gesamten RAF-Täterkreis nicht geben kann. Das folgt aus dem Wesen des Gnadenrechts. Ein Gnadenerweis ist etwas höchstpersönliches, er ergeht aufgrund eines Gesuchs und in Ansehung einer einzelnen Person, die gefehlt hat, die glaubhaft Einsicht und Reue zeigt, die sich mit ihren Taten auseinandergesetzt hat und mit dem, was sie den Familien der Opfer angetan hat. Ganz grundsätzlich sind Gesichtspunkte der Menschlichkeit abzuwägen gegen das Prinzip von Schuld und Sühne, gegenüber allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen und dem, was eine Begnadigung für die Angehörigen der Opfer bedeuten kann.
XI. Für viele Deutsche ist der Terrorismus der RAF längst Geschichte. Viele Menschen dachten, dass mit dem friedlichen Umbruch in Europa auch international friedlichere Zeiten anbrechen würden.
Spätestens der 11. September des vergangenen Jahres aber hat uns auf grausame Weise gezeigt, dass diese Hoffnung trügerisch war. Wir haben es wieder mit Terrorismus zu tun. Wir erleben eine andere Art von Terror, andere Ursachen und Erscheinungsformen- noch extremer, noch brutaler als wir es uns vorstellen konnten.
Es sind andere Zeiten und andere Umstände als damals bei uns in Deutschland. Aber eine Lehre sollten wir beherzigen: Wir müssen der neuen, globalen Herausforderung durch den Terror heute mit der gleichen Entschlossenheit begegnen, die uns damals in Deutschland geleitet hat: unbeirrbar in der Überzeugung, dass Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf - und besonnen in der Wahl unserer Mittel.
Danach zu streben, das ist die Mahnung des heutigen Tages. Dazu mahnen uns die Toten, deren wir heute gedenken. Unsere Herzen und unsere Gedanken sind bei ihnen und bei ihren Angehörigen.