Redner(in): Johannes Rau
Datum: 19. November 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/11/20021119_Rede.html


I. Ich habe mir soeben die Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" angesehen. Mein Eindruck war: Mathematik hat mir noch nie so viel Spaß gemacht. In meiner Schulzeit hielt sich streckenweise der Spaß am Mathematikunterricht in Grenzen. Hier in Gießen merke ich: Das muss nicht unbedingt an der Mathematik gelegen haben.

II. Euklid hat gesagt: "Es gibt keinen Königsweg zur Mathematik". Da mag er Recht gehabt haben. Es gibt aber Wege, die gekrönten wie ungekrönten Häuptern gleichermaßen offenstehen. Ich nenne drei Wege.

Der erste führt in diese Ausstellung. Sie räumt gleich mit mehreren Vorurteilen über die Mathematik gründlich auf:

Die Ausstellung hat bewiesen, dass man mit Mathematik von Stadt zu Stadt ziehen und mehr als eine halbe Million Menschen - und sogar Nobelpreisträger - begeistern kann. Sie zeigt, dass es nötig ist, über Mathematik zu erzählen, damit sie anschaulich wird. Sie führt den Beweis, dass sich Mathematik ganz einfach, auf spielerische Weise, fern ihrer Theorie und Formelsprache, durch Anfassen und Ausprobieren erleben lässt. Sie weckt sogar die Hoffnung, dass die Beschäftigung mit der Mathematik richtig populär werden kann. Darum ist es gut, dass wir nun das erste mathematische Mitmachmuseum der Welt haben, das alle diese Botschaften weitergibt, und darum danke ich allen, die zu diesem Museum beigetragen haben und weiter beitragen.

III. Die Ergebnisse der PISA-Studie und der neuesten OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" vor drei Wochen zeigen, dass das Lernklima an unseren Schulen von den Schülern eher kritisch beurteilt wird. Die Schüler wünschen sich von ihren Lehrern mehr Hilfestellung beim Lernen und stärkeres Interesse am Lernfortschritt jedes Einzelnen.

Wenn Lernen also wieder mehr Spaß machen soll, muss man auch interessantere Unterrichtsmodelle entwickeln. Das mathematische Mitmachmuseum in Gießen zeigt, wie das gelingen kann. Auf der Homepage des Mathematikmuseums kann man im virtuellen Gästebuch die Reaktionen auf die bisherigen Wanderausstellungen und auf die Eröffnung des Mathematikmuseums nachlesen. Eltern schreiben, dass sie mit ihren Kindern in der Ausstellung waren und aus der geplanten Stunde schnell zweieinhalb Stunden geworden sind und man dennoch nicht alles ausprobieren konnte. Schüler schlagen vor, Klassenfahrten in dieses Museum zu veranstalten, weil es dort bestimmt für alle Altersgruppen etwas zu sehen gibt. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.

Es gibt also gute Gründe, sich auf den Weg nach Gießen, zum ersten Mathematikmuseum der Welt zu machen. Ich freue mich darüber, dass ich heute bei der Eröffnung dabei sein kann.

IV. Der zweite gute Weg zur Mathematik führt über "Tekno-Now", die hessische Bildungskampagne für die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Zu dieser Kampagne hat die Mitmachausstellung "Mathematik zum Anfassen" viel beigetragen.

Der Nachwuchsmangel in naturwissenschaftlichen und ingenieur-wissenschaftlichen Berufen ist jetzt schon groß. Das wird sich nur ändern, wenn wir etwas tun. Die Länder, die Kultusministerkonferenz und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und For-schungsförderung ( BLK ) haben das erkannt.

Der von der BLK im Sommer diesen Jahres vorgelegte Bericht "Zukunft von Bildung und Arbeit" weist darauf hin, dass sich der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland bis zum Jahre 2015 um 2,4 Millionen erhöhen wird. Knapp eine Million davon werden höher qualifizierte Arbeitskräfte mit Hochschulabschluss sein müssen.

Auffallend niedrig ist dabei immer noch der Anteil von Frauen mit Abschlüssen in den Fächergruppen Ingenieurwesen, Bauwesen, Mathematik und Informatik. Die Anteile liegen in Deutschland zwischen 20 bis 23 % gegenüber dem OECD-Durchschnitt von 23 bis 30 % . Hier müssen wir aufholen. Die Natur- und Ingenieurwissenschaften sind wichtig für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit letztendlich auch für unseren Lebensstandard. Keiner dieser Studiengänge kommt ohne solide mathematische Kenntnisse aus, und die erwirbt am leichtesten, wer Freude daran hat.

Deshalb ist es gut, dass Tekno-Now vor allem die Schüler der mittleren Klassenstufen anspricht, um frühzeitig die Faszination natur- und technikwissenschaftlicher Studiengänge und ihrer Berufsperspektiven zu wecken.

Im Mathematikmuseum Gießen kann man zum Beispiel als künftiger Architekt eine Erfindung des amerikanischen Star-Architekten Buckminster Fuller, das "Tensegrity", bewundern. Hier geht es darum, dass das Tragwerk von Gebäuden durch Spannung zusammengehalten wird.

Der künftige Brückenbauer wird tüfteln, worin sich das mathe-matische Konstruktionsprinzip einer transportablen Brücke verbirgt, damit die Brücke ganz ohne Leim, ohne Nagel und Schraube hält. Leonardo da Vinci hat diese geniale Konstruktion leichter, transportabler Brücken erfunden. Das hat etwas mit Statik - dem Gleichgewicht der Kräfte an ruhenden Körpern zu tun.

Bewegter geht es zu beim Experiment an der Kugelbahn, das gewiss für heutige und für künftige Ingenieure im Verkehrswesen von besonderem Interesse ist. Wir sind in unserem Alltag von Mathematik umgeben, wir sind uns dessen nur zu selten bewusst.

V. Der dritte Weg zur Mathematik führt über die Mathematikbücher. Stephen Hawking hat zwar einmal gesagt: "Jede mathematische Formel in einem Buch halbiert seine Verkaufszahlen." Auf Ihre Bücher, sehr geehrter Herr Professor Beutelsbacher, trifft diese Prognose aber gewiss nicht zu.

Schon die Buchtitel nehmen jedem weniger mathematisch Beschlagenen etwaige Berührungsängste. Sie lauten zum Beispiel: "In Mathe war ich immer schlecht" - oder Blicke von außen auf die Mathematik: Was machen Mathematiker eigentlich den ganzen Tag? Gibt es noch ungelöste Probleme? Welche Witze erzählen sich Mathematiker?

Besonders gefallen hat mir der Titel "Pasta all´infinito. Meine italienische Reise in die Mathematik". Vor dem Hintergrund von PISA finde ich eine solche literarische Auswahl ganz wichtig.

Fast 90.000 Bücher erscheinen pro Jahr im deutschsprachigen Buchhandel. Da steigt bei den Lesern das Bedürfnis nach Orientierung. Sie wollen wissen, was man lesen sollte und was man möglichst schon vor Beginn des Studiums und der Berufsausbildung gelesen haben sollte. Soviel ist sicher: Auch gute Mathematikbücher dürfen darunter sein.

Manche Menschen blicken etwas beklommen auf eine Wissenschaft, die es bis zu den negativen, bis zu den irrationalen, ja sogar transzendenten Zahlen gebracht hat. Hier in Gießen kann man lernen: Mathe macht Spaß!