Redner(in): Johannes Rau
Datum: 22. November 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/11/20021122_Rede.html


Frau Oberbürgermeisterin Roth,

Herr Kommissionspräsident Prodi,

meine Damen und Herren,

ich weiß nicht, ob jemand einmal ausgerechnet hat, wie groß die kumulierte Bilanzsumme der Banken ist, die heute hier vertreten sind. Das ist sicher eine imponierende Zahl, die auch zum Ausdruck bringt, dass hier Menschen versammelt sind, die Einfluss haben und die etwas bewegen können.

Die europäische Integration braucht Impulse. Sie braucht Impulse und sie braucht die Einmischung aller Menschen, die Europa mitgestalten können und wollen. Die Banken spielen im Wirtschaftsprozess aller Staaten eine wichtige Rolle und darum spielen sie auch im europäischen Einigungsprozess eine wichtige Rolle.

Ich freue mich darüber, dass Sie hier jedes Jahr in Frankfurt zusammenkommen, um über europäische Themen zu diskutieren. Banken haben Einfluss und sie haben Macht und weil sie beides haben, darum tragen sie auch gesellschaftliche Verantwortung, weit über ihre Verantwortung gegenüber Mitarbeitern, Kunden und Aktionären hinaus.

Ich möchte zu Ihnen heute nicht über Geld sprechen, obwohl es dazu sicherlich viel zu sagen gäbe, auch im europäischen Kontext. Ich habe aber den Eindruck, dass die öffentliche Kritik am Euro erheblich nachgelassen hat. Natürlich werden auch die meisten von uns noch längere Zeit im Kopf von Euro in DM umrechnen und wieder zurück, wenn sie einkaufen gehen, aber auch das wird sich bald geben. Ökonomisch gesehen ist die gemeinsame europäische Währung alles in allem ein guter, ein richtiger und ein vernünftiger Schritt gewesen.

Ich will hier auch nicht eingehen auf den Europäischen Stabilitätspakt und auf die Diskussion, die es dazu im Augenblick gibt. Ich möchte etwas sagen zur politischen Zukunft Europas.

II. In zwei Wochen wird die Europäische Union beim Gipfeltreffen in Kopenhagen aller Voraussicht nach die Erweiterung um acht mittel- und osteuropäische Länder und um Malta und Zypern beschließen. Im kommenden Jahr wird auf Grundlage der Arbeit des Europäischen Konvents über eine europäische Verfassung entschieden werden. Wir erleben gegenwärtig die wohl entscheidendste Phase in der europäischen Zusammenarbeit seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Damals ging es darum, für das vom Krieg zerstörte Europa Frieden und Stabilität zu sichern und neuen Wohlstand zu schaffen. Heute, nachdem wir die Teilung unseres Kontinents überwunden haben, geht es darum, dass auch jenen Menschen die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit zugute kommen, die in den Zeiten des Kalten Krieges nicht selber über ihr Schicksal bestimmen konnten. Gleichzeitig müssen wir die rechtlichen und politischen Strukturen der Europäischen Union so reformieren, dass sie auch als Gemeinschaft von mehr als fünfundzwanzig Staaten handlungsfähig bleibt - im Inneren wie nach außen.

Die Globalisierung stellt die europäischen Staaten vor große Herausforderungen. Kein europäisches Land kann sie allein bewältigen. Wir Europäer können auf die Globalisierung der Handels- und Finanzströme nur gemeinsam reagieren. Es gibt zwar keine Weltregion, die so gut auf die Globalisierung vorbereitet ist wie die Europäische Union. In keiner anderen Weltregion arbeiten Staaten so eng zusammen. Aber nur, wenn wir die Zusammenarbeit intensivieren, können wir die Chancen der Globalisierung zum Vorteil Europas nutzen. Das ist jetzt unsere Aufgabe!

III. Früher haben wir die Alternative "Erweiterung oder Vertiefung" diskutiert. Heute ist das nicht mehr die Frage. Wir müssen beides tun, gleichzeitig. Das ist eine außerordentliche schwierige Aufgabe. Ich bin aber davon überzeugt, dass das gelingen kann. Allerdings werden sowohl bei der Erweiterung als auch bei der Vertiefung Grenzen erkennbar, die für die Gründungsväter der europäischen Zusammenarbeit noch keine Rolle gespielt haben. Wir müssen uns heute fragen:

Jede dieser Fragen verdiente eine tiefergehende Behandlung, als ich sie heute im Rahmen meiner Rede geben kann. Ich will daher nur so viel sagen: Auf keinen Fall kann es noch einmal eine große Erweiterungsrunde geben. Und was die Frage der Kompetenzabgrenzung anbelangt, so müssen wir heute eine Antwort finden. Auf keinen Fall sollte alle paar Jahre ein neuer Konvent oder eine neue Regierungskonferenz zur Reform der europäischen Verträge stattfinden. Wir brauchen einen festen Rahmen, der Sicherheit und Vertrauen gewährt. Mit Valery Giscard d ' Estaing, dem Präsidenten des Europäischen Konvents, bin ich der Meinung: Die Ergebnisse des Konvents müssen, wenn sie einmal in Kraft getreten sind, das Gesicht der Europäischen Union für lange Jahre prägen.

IV. Vor wenigen Wochen hat der Konvent einen ersten Entwurf - oder besser: ein Gerüst - für eine europäische Verfassung vorgestellt, der mir eine ausgezeichnete Grundlage für die abschließenden Beratungen zu bieten scheint. Es ist gut, dass jetzt konkrete Vorschläge diskutiert werden.

Ich will heute einige Fragen aufgreifen, die sich beim gegenwärtigen Stand der Diskussion stellen. Zunächst die berühmte Frage nach der Finalität der europäischen Zusammenarbeit. Was wird die Europäische Union in Zukunft sein?

Zunächst: Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union noch auf lange Sicht kein Bundesstaat sein wird. Auch hier stimme ich mit Valery Giscard d ' Estaing überein, der nicht von den Vereinigten Staaten von Europa sprechen möchte, sondern vom Vereinten Europa. Gewiss werden wir einen Namen finden müssen, der dem besonderen Charakter der europäischen Zusammenarbeit gerecht wird. Die Europäische Union ist historisch und in der Welt ohne Beispiel: In ihr arbeiten Staaten freiwillig und gleichberechtigt zusammen, und sie geben dabei einen Teil ihrer Souveränität auf. Ich spreche deshalb von einer "Föderation von Nationalstaaten".

Damit eine solche "Föderation von Nationalstaaten" mit fünfundzwanzig und mehr souveränen Mitgliedstaaten funktionieren kann, brauchen wir klare Regeln. Für mich ist es eine eher akademische Diskussion, ob dafür der Ausdruck Verfassung angebracht ist. Nennen Sie es "Verfassungsvertrag" oder einen "einheitlichen Vertrag, der an eine Verfassung erinnert", wie es Ministerpräsident Lipponen von Finnland kürzlich gesagt hat. Auf alle Fälle wird es sich um eine völkerrechtliche Vereinbarung handeln müssen, die die Rechte und die Pflichten der Mitgliedsstaaten festlegt, die gemeinsamen Institutionen und ihre Zuständigkeiten und eine Grundrechtscharta, auf die sich die Unionsbürger berufen können. Es geht also um eine Vereinbarung, die darstellt, wie das "Vereinte Europa" verfasst ist. Eine solche europäische Verfassung kann und wird identitätsstiftend wirken.

Als Hindernis für ein "Vereintes Europa" wird gelegentlich angeführt, dass es kein europäisches Staatsvolk gebe. Entsteht das aber nicht Schritt für Schritt in dem Maße, wie Europa zusammenwächst? Die Bürgerinnen und Bürger Europas haben eine gemeinsame Währung, sie nehmen an gemeinsamen Wahlen teil und nicht nur durch die Berichterstattung der Medien entsteht europäische Öffentlichkeit. Es gibt bei aller Verschiedenheit auch ein Bewusstsein für die europäische Identität. Sie ist das - paradoxe - Ergebnis von kulturellen Gemeinsamkeiten und überwundenen politischen Konflikten. Die Nationen sind Teil dieser Identität. Der Historiker Hermann Heimpel hat das so ausgedrückt: "Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa."

V. Eine europäische Verfassung kann, wie die europäische Währung, zu einem gemeinsamen europäischen Bewusstsein beitragen. Wenn das schwierige Regelwerk der Verträge von Rom bis Nizza in einer klar gegliederten Europäischen Verfassung zusammengefasst wird und wenn die Europäische Union eine eigene Rechtspersönlichkeit erhält, dann wird die europäische Zusammenarbeit leichter überschaubar. Wir alle wissen doch, wie wichtig Transparenz und Offenheit sind, wenn es darum geht, die Menschen für mehr gemeinsames Handeln in Europa zu gewinnen. Es ist doch die Sorge, dass Entscheidungen nicht nachvollzogen und nicht beeinflusst werden können, die an der Wurzel des Euroskeptizismus vieler Menschen liegt.

Transparenz und Offenheit, das ist für mich deshalb eine erste ganz wichtige Forderung an eine europäische Verfassung.

Lassen Sie mich drei weitere Erwartungen formulieren:

Ich erwarte, dass die Europäische Grundrechtscharta in eine zukünftige Verfassung aufgenommen wird. Sie setzt den europäischen Institutionen einen verbindlichen Rahmen und sie bindet die Mitgliedstaaten auch in den Bereichen, in denen sie europäisches Recht umsetzen und anwenden. Sie schützt damit die Freiheitsrechte ihrer Bürger. Sie zeigt auch: Die Europäische Union hat nicht nur zum Ziel, den Wohlstand ihrer Bürger zu sichern und sich weltweit für ein friedliches Zusammenleben einzusetzen. Ich freue mich darüber, dass es bei dieser Frage im Konvent einen weitgehenden Konsens gibt.

Meine zweite Erwartung betrifft die Aufgabenteilung zwischen Europäischer Union und den Mitgliedstaaten. Gewiss, vieles muss auf der Ebene der Union selbst geregelt werden: Der einheitliche Binnenmarkt zum Beispiel kann nur nach gemeinsamen Regeln funktionieren. Vieles ist aber bei den Mitgliedstaaten besser aufgehoben, beispielsweise auf dem Feld von Bildung und Kultur. Die Bürger müssen deutlich erkennen können, wer wofür zuständig ist. Dann hört vielleicht auch das politische Schwarze-Peter-Spiel in Europa auf, das manche so gerne betreiben.

Einmal vereinbarte Zuständigkeiten müssen natürlich nicht auf alle Ewigkeit Bestand haben. Alles muss sich aber an dem Grundsatz orientieren, dass die Aufgaben da erledigt werden müssen, wo sie, für den Bürger nachvollziehbar, die besten Ergebnisse liefern.

Drittens sollten wir auch die demokratische Legitimation der europäischen Politik stärken. Das dient der Glaubwürdigkeit und der Transparenz der europäischen Zusammenarbeit. Wo politische Macht ausgeübt wird, da muss sie auch demokratisch legitimiert sein. Darum sollte das Europäische Parlament an den Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union gleichberechtigt beteiligt werden. Das Europäische Parlament sollte auch das volle Haushaltsrecht haben und nicht nur ein eingeschränktes.

Sinnvoll erscheint es mir in jedem Fall, eine zweite Kammer des Europäischen Parlaments zu schaffen, die aus dem Ministerrat gebildet würde. Die Arbeit des Ministerrats könnte überdies geteilt werden, in einen legislativen Teil mit öffentlichen Sitzungen und - wie bislang - einen nicht öffentlichen Teil, in dem unter anderen über Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert wird.

VI. Die demokratische Legitimation spielt auch eine Rolle bei der Frage nach der Vertretung der Europäischen Union nach außen. Eine bessere Vertretung nach außen darf nicht dazu führen, dass die Gemeinschaftsorgane im Inneren geschwächt werden. Ich trete daher dafür ein, die Rolle der Kommission zu stärken und dafür, ihren Präsidenten durch eine Wahl im Europäischen Parlament besser zu legitimieren. Sollten sich die Gremien dafür entscheiden, neben dem Präsidenten der Kommission noch einen europäischen Präsidenten zu installieren, dann müsste er genauso demokratisch legitimiert sein.

Die europäische Integration war von Beginn an geprägt von der gleichberechtigten Zusammenarbeit kleinerer und großer Mitgliedstaaten. Kleinere Mitgliedstaaten haben zur europäischen Integration hervorragende Beiträge geleistet, wie zum Beispiel die Beneluxstaaten. Sie haben vermittelnde Positionen eingenommen, wenn es im Verhältnis der Großen zueinander Spannungen gab. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird die Zahl der kleineren Staaten weiter zunehmen.

Dem muss Rechnung getragen werden: Darum sollte man daran denken, bei Abstimmungen zukünftig auch die Bevölkerungszahl zu berücksichtigen und eine doppelte Mehrheit einzuführen. Doppelte Mehrheit würde bedeuten, dass bei Abstimmungen im Rat eine Mehrheit der Staaten gegeben sein muss, die auch bisher über eine bestimmte Stimmenzahl verfügen, gleichzeitig wäre aber auch eine Mehrheit der Bevölkerung der Europäischen Union vertreten.

VII. Soweit einige Überlegungen zu einer europäischen Verfassung, die die Grundlage für eine zukünftige Europäische Union oder ein Vereintes Europa sein könnte. Das Thema ist so wichtig, dass ich mir eine breite und öffentliche Diskussion darüber wünsche. Sie als Vertreter europäischer Banken und Unternehmen können zu dieser Diskussion beitragen. Die Zukunft Europas geht uns alle an.

Der Traum von einem vereinten friedlichen Europa ist jahrhundertealt: Heinrich IV. , Victor Hugo, Aristide Briand, das Heidelberger Programm der SPD 1925, Winston Churchill, Konrad Adenauer und viele andere haben zu ihrer Zeit dafür plädiert.

Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des grausamsten aller europäischen Kriege, der Europa an den Abgrund geführt hat, und mehr als zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, der Europa geteilt hatte, kann aus dem Traum Wirklichkeit werden.

Wir alle wissen: Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Zeit für ein einiges Europa reif ist.