Redner(in): Johannes Rau
Datum: 29. November 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/11/20021129_Rede.html


I. Anrede,

Universitätsgründungen sind immer ein Anlass zu Freude und zu großer Hoffnung. Heute, bei dieser ganz besonderen Universität, erfüllt uns auch eine ganz besondere Hoffnung und eine ganz besondere Freude. Es geht nicht nur um eine Bildungsinstitution wie viele andere, es geht um eine Universität, die den europäischen Gedanken und den Gedanken der Verständigung und des kulturellen Austauschs ganz oben in ihr Programm geschrieben hat.

Ich freue mich darüber, dass wir heute gemeinsam die deutschsprachige Andrássy-Universität einweihen können. Ihnen, Herr Präsident Mádl, danke ich ganz herzlich für die Einladung. Wir beginnen heute ein faszinierendes, ein bisher einmaliges Projekt: Die erste deutschsprachige Universität, die nach dem Kriege außerhalb des deutschsprachigen Raumes eröffnet wird. Ich bin dankbar dafür, dass so viele mitgeholfen haben, dies Projekt zu realisieren, und ich freue mich darüber, dass ich bei der offiziellen Einweihung dabei sein und Deutschland vertreten kann.

Im Jahr 2000, dem Jahr der ungarischen Millenniumsfeier, war ich zum letzten Mal in Budapest zu Besuch. Damals haben wir uns an den Gründer des ungarischen Staates, König Stefan den Heiligen, erinnert. König Stefan hinterließ seinem Sohn einen Brief, die so genannten "Ermahnungen", in denen er dazu riet, das Land zu öffnen und fremden Sitten, Gebräuchen und Sprachen zugänglich zu machen. Wörtlich heißt es in dem Brief Stefans: "Schwach ist das Land mit nur einer Sprache und nur einer Gewohnheit". Das ist eine Mahnung, die Ihr Land bis auf den heutigen Tag befolgt.

Die Andrássy-Universität war im Millenniumsjahr noch eine ganz junge Idee. Schnell aber haben sich Bayern, Baden-Württemberg und die Bundesregierung bereitgefunden, diese Idee zu unterstützen. Sie ist wohl ein Projekt ganz im Sinne König Stefans, weil an ihr in deutscher Sprache gelehrt wird und weil Studenten aus allen Ländern Mittel- und Osteuropas zugelassen werden. Die Universität ist so ein eindrucksvolles und schönes Beispiel dafür, wie Europa zusammenwächst und wie die alten Traditionen des kulturellen Austausches wiederbelebt werden.

II. Ihre Universität knüpft an eine lange Geschichte deutschsprachiger Universitäten in Mittel- und Osteuropa an. Diese Geschichte schien 1945 mit der Schließung der Karls-Universität in Prag ihr endgültiges Ende gefunden zu haben. Angesichts von Krieg und Vertreibung und der Teilung Europas hat eigentlich niemand mehr davon träumen können, dass diese Tradition wieder aufleben würde. Der Wandel in Europa, zu dem Ungarn so viel beigetragen hat, hat auch hier das Unmögliche möglich werden lassen.

Die deutsche Sprache liegt heute, so hat man mir berichtet, in Ungarn nahezu gleichauf mit dem Englischen. Ich finde das sehr erstaunlich, weil Englisch in der weltweiten Kommunikation doch deutlich alle anderen Sprachen dominiert. Ich freue mich darüber, dass so viele Menschen in Ungarn Deutsch sprechen und dass hier jetzt auch auf Deutsch studiert werden kann.

Für Europa sind seine Sprachen unverzichtbar. Europa wäre ja gar nicht Europa ohne die große Vielfalt seiner Sprachen. Jede Sprache steht für eine besondere Kultur. Aus diesen unterschiedlichen Kulturen lebt Europa. Daraus kommen immer neue Inspirationen; die Vielfalt hält lebendig. Wir können dankbar sein für diese Vielfalt der europäischen Kulturen, die unser gemeinsames Erbe sind und die wir pflegen und fördern müssen.

Die Menschen in Europa sollten deshalb mehr als nur eine Fremdsprache lernen. Sie sollten damit so früh wie möglich beginnen. Natürlich freut es uns in Deutschland, wenn junge Menschen als erste oder zweite Fremdsprache Deutsch wählen, und es ist eine gute Investition, wenn Deutschland dies Bemühen fördert. Die Andrássy-Universität ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel: Ihre Studenten gewinnen über die Sprache Zugang zum ganzen deutschsprachigen Kulturraum. Sie können sich mit dem Prozess der europäischen Integration vertraut machen, mit seinen Mechanismen und seinem gedanklichen Fundament. Ihnen steht ein großer Wirtschaftsraum offen, der für die Staaten Mittel- und Osteuropas der wichtigste Markt ist.

Sprachen sollten in den kulturellen Beziehungen zwischen unseren Völkern aber keine Einbahnstraße sein. Ich möchte deshalb die jungen Menschen in Deutschland ermutigen, auch schwierigere Sprachen zu erlernen, zu denen das Ungarische zweifellos gehört. Wir brauchen ja auch in Deutschland Fachleute, die unsere wichtigen Partnerländer gut kennen, die ihre Sprache sprechen und die dazu beitragen, dass wir einander noch besser kennenlernen und verstehen.

III. Die ungarische Regierung hatte 1989 beschlossen, den Zaun zu Österreich zu durchschneiden, um tausenden von DDR-Bürgern die Ausreise zu ermöglichen. Das war ein buchstäblich einschneidender und entscheidender Beitrag zum Verschwinden des Eisernen Vorhangs und zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Wir werden das als Deutsche und als Europäer nicht vergessen und wir werden das stets dankbar in Erinnerung behalten.

Schon bald wird Ungarn als Mitglied der Europäischen Union am Ausbau eines handlungsfähigen und einigen Europas mitwirken. Unsere gemeinsame Zugehörigkeit zur Europäischen Union bedeutet verstärkte Zusammenarbeit in den Brüsseler Gremien, etwa bei der Gestaltung des Binnenmarktes, der Wirtschafts- und Währungsunion, der gemeinsamen Agrarpolitik oder der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die wir so dringend brauchen. Sie vereinfacht auch noch einmal Kontakte und Begegnungen zwischen den Bürgern unserer Länder und eröffnet so große neue Chancen. Ungarn und Deutsche werden zukünftig nicht nur Bürger ihrer Länder sein, sondern auch gemeinsame Bürger der Europäischen Union, die wie keine andere internationale Organisation eine eigene Identität hat.

IV. In einer Zeit, die nahezu unbeschränkten Zugang zu Informationen gibt und in der wir eine unbegrenzte Expansion des Wissens erleben, kommt es mehr denn je darauf an, mit Verstand zu lernen. Nur wer Informationen in wichtig und unwichtig unterteilt, nur wer Informationen aufnehmen und verarbeiten kann, nur der hat die Chance, die Möglichkeiten der Globalisierung zu nutzen und unsere Welt mitzugestalten.

Wir brauchen in Europa junge Menschen, die eine fundierte kulturelle Bildung und einen breiten europäischen Horizont haben und die vielfältige Erfahrungen in der europäischen Zusammenarbeit sammeln. Ich bin sicher, dass sich die Andrássy-Universität dieser anspruchsvollen Aufgabe mit aller Kraft widmen wird. Sie muss mit einem guten Lehrangebot möglichst viele der besten Köpfe der Region gewinnen und weiterbilden. Die deutschen Partneruniversitäten in Heidelberg und Bayreuth und die österreichischen und schweizerischen Partneruniversitäten werden Ihre Universität dabei nach Kräften unterstützen.

Das Besondere an der Andrássy-Universität ist, dass die Initiative zu ihrer Gründung nicht von außen gekommen, sondern von der ungarischen Regierung ausgegangen ist. Die ungarische Regierung trägt ganz wesentlich zu ihrem Unterhalt bei. Dafür, dass er die Idee zur Gründung einer deutschsprachigen Universität gefördert hat, möchte ich dem früheren Ministerpräsidenten Victor Orbán danken. Dankbar bin ich auch für die Entschlossenheit der Regierung Medgyessy, die das Projekt bis zur erfolgreichen Gründung geführt hat. Das ist ein schönes Zeichen für die guten Beziehungen zwischen unseren Ländern.

Jetzt gilt es, ans Werk zu gehen. Die Andrássy-Universität wird zukünftig das Verständnis zwischen den jungen Menschen unserer Länder fördern und dadurch auch beitragen zur Vertiefung der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit. Vielleicht darf man sogar sagen: Der Erfolg der Universität ist in Zukunft ein Stück weit der Gradmesser für die Tiefe der Beziehung zwischen Ungarn und Deutschland, aber auch zwischen Ungarn und Österreich.

Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben von Beginn an positiv auf die ungarische Initiative reagiert. Beide Länder unterstützen die Universität in den nächsten fünf Jahren mit jeweils einer viertel Million Euro pro Jahr. Auch die Bundesrepublik Deutschland trägt zur Finanzierung bei und stellt dem DAAD in den kommenden drei Jahren für die Zusammenarbeit mit der Andrássy-Universität 470.000 Euro zur Verfügung. All das und auch die österreichische Unterstützung sind gute Gründe dafür, dass die Universität eine gute und sichere Zukunft haben kann.

V. Der Namenspatron der Universität, Graf Gyula Andrássy, war eine herausragende Persönlichkeit der ungarischen Geschichte. Auch Nichtungarn ist er als elegante Erscheinung auf dem berühmten Bild vom Berliner Kongress bekannt. Er hatte Visionen für sein Land. Er hat als Ministerpräsident von Ungarn und Außenminister der Doppelmonarchie die Grundlagen für ein bürgerliches parlamentarisches System in Ungarn gelegt und 1868 ein tolerantes Nationalitätengesetz vorgelegt, das die ethnischen Gegensätze innerhalb Ungarns mildern wollte.

Andrássy war ein Befürworter des Ausgleichs mit Österreich. 1866 schrieb er dazu in sein Tagebuch: "Sicher ist, dass, wenn ein Erfolg erreicht wird, Ungarn der schönen Vorsehung, welche über ihm wacht, mehr zu danken haben wird, als es ahnt." Ich betrachte die Andrássy-Universität als einen kleinen Erfolg, den wir vielleicht der schönen Vorsehung zu verdanken haben, von der ihr Namenspatron vor bald 140 Jahren gesprochen hat.

Ich danke nochmals allen, die sich hier engagiert haben, und wünsche Ihnen allen viel Glück und der Universität eine gute Zukunft. Um es in der ersten Sprache der europäischen Universitäten zu sagen: Ad multos annos.