Redner(in): Johannes Rau
Datum: 2. Mai 2003

Anrede: liebe Schülerinnen und Schüler,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/05/20030502_Rede.html


willkommen im Schloss Bellevue! Ich verzichte auch heute auf namentliche Begrüßungen - sie kosten zuviel Zeit und werden schnell langweilig. Aber eines will ich doch hervorheben: In unserer Mitte sind heute viele Frauen und Männer, die am 17. Juni 1953 in Ostberlin und an anderen Orten in der DDR teilgenommen haben. Sie heiße ich ganz besonders herzlich willkommen.

Wenige Schritte von hier liegt die "Straße des 17. Juni". Ihren Namen erhielt sie fünf Tage nach dem Aufstand, zum Gedenken an die Opfer und zum Zeichen der Verbundenheit West-Berlins mit den Ostdeutschen. Tags darauf versammelten sich am Schöneberger Rathaus einhundertfünfundzwanzigtausend Menschen zu einer Trauerfeier. Sie trugen Aufständische zu Grabe, die in Krankenhäusern in den Westsektoren gestorben waren. An den Särgen sprach Ernst Reuter, der Regierende Bürgermeister von West-Berlin. Er sagte: "Der 17. Juni 1953 ist ( ... ) das größte Ereignis der Geschichte, das wir seit langem erlebt haben." Zehn Tage später erklärte der Deutsche Bundestag durch Gesetz den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag, zum "Tag der deutschen Einheit".

Diese Reaktionen geben bis heute einen Eindruck davon, mit welcher Wucht damals das Geschehen am 17. Juni Deutschland bewegt und erschüttert hat. Binnen Stunden stürzten Millionen Menschen wie vom Himmel in die Hölle: erst die ungläubige, aber desto freudigere Hoffnung, das Ende der Teilung Deutschlands sei zum Greifen nah - dann der Stoß hinab in schwärzeste Enttäuschung und Niedergeschlagenheit.

Seit dem Ende der DDR können auch die Zeitzeugen in Ostdeutschland frei über ihre Erinnerungen an den 17. Juni sprechen. Viele zuvor geheime Archive sind nun zugänglich. Darum lassen sich heute die Vorgeschichte, der Ablauf und die Folgen der Erhebung von 1953 genauer erkennen und nachzeichnen als je zuvor. Vielleicht wird sogar erst heute das volle Ausmaß des Aufstands deutlich: Fast überall in der DDR versammelten sich damals spontan ungezählte Bürgerinnen und Bürger, allen voran die Bauleute und die Industriearbeiter:

Er markierte aber auch einen Zeitpunkt, von dem an die Deutschen in Ost und West sich auseinander zu leben begannen. Die Unterdrückung des Aufstandes zeigte aller Welt, dass die Sowjetunion die DDR nicht freigeben wollte und der Westen das nolens volens hinnahm. Für die Menschen in Ostdeutschland blieb nur die Alternative, entweder aus der DDR zu fliehen - und das taten auch weiterhin Jahr für Jahr Hunderttausende - oder sich in ihr einzurichten und sie vielleicht allmählich zum Besseren zu verändern. Den Westdeutschen blieb, Briefe und Pakete "nach drüben" zu schicken und dort Besuche zu machen, aber immer öfter ging ihr Blick nur noch nach Westen und gingen ihre Reisen in alle Welt, nur nicht nach Ostdeutschland.

Zehn Jahre nach dem Aufstand und zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer konnte es darum so scheinen, als würde die Straße des 17. Juni für immer zu einer Sackgasse am Brandenburger Tor sein, und der Tag der deutschen Einheit hatte bereits manche Züge eines fröhlichen "Bundesausflugstages" angenommen, an dem es die Westdeutschen weniger zu den Gedenkveranstaltungen als vielmehr in die Sommerfrische zog.

Damals hat Bundespräsident Lübke den Tag der deutschen Einheit zum "Nationalen Gedenktag" erklärt und aus gegebenem Anlass gemahnt: "Dieser Tag darf nicht den Feiertagen zugerechnet werden, die zur Entspannung, Erholung oder gar dem Vergnügen dienen. Er ist und bleibt ein Zeugnis für die Entscheidung des Gewissens gegen Tyrannei und Unmenschlichkeit. ( ... ) Vor allem unserer Jugend müssen Ursprung und Sinn dieser Volkserhebung erschlossen werden."

Heute liegt die Not der Teilung hinter uns, und der neue Tag der deutschen Einheit, der 3. Oktober, ist ein Tag heller Freude und tiefer Dankbarkeit dafür, dass die Deutschen die Einheit in Freiheit friedlich und mit weltweiter Zustimmung wiedererlangt haben. Das nimmt aber dem 17. Juni nichts von seiner Bedeutung, und der Wunsch, gerade die jüngere Generation möge sich mit ihm beschäftigen, erscheint mir so richtig und wichtig wie je zuvor.

Darum freue ich mich darüber, dass in diesen Monaten gerade viele junge Leute fragen und forschen: Was geschah am 17. Juni 1953, und welche Folgen hatte es in Ost und West? Wer waren die Frauen und Männer, die damals für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen? Wie hätten wir uns damals verhalten? Welche Botschaft hat der 17. Juni heute für uns? Wie sollte künftig an ihn erinnert werden?

Diesen Fragen widmen sich jetzt überall in Deutschland Hunderte von Ausstellungen, Filmen, Zeitungsartikeln, Theateraufführungen, Gesprächsrunden und Schulaufsätzen. Die Geschichte und die Geschichten des 17. Juni waren im östlichen Teil Deutschlands lange verboten, verschwiegen und verfälscht; und im Westen waren sie zum Teil vergessen oder verdrängt. Nun wird sehr viel davon wiederentdeckt und wiedergewonnen. Es gehört zum Besten, was die deutsche Geschichte aufzuweisen hat.

Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Körber-Stiftung haben zu diesem Werk des Wiederentdeckens und des Zurückgewinnens einen unersetzlichen Beitrag geleistet. Sie haben für junge Leute zwei Wettbewerbe zum 17. Juni ausgeschrieben:

Wir werden heute einige der Preisträger dieser Wettbewerbe und ihre Arbeiten kennen lernen. Darauf freue ich mich, und darauf bin ich gespannt. Schon an dieser Stelle danke ich beiden Stiftungen für ihre Initiativen: Sie haben damit ungezählte jüngere Menschen dazu gebracht, sich mit dem 17. Juni zu beschäftigen. Genau darauf kommt es an, wenn das Vermächtnis dieses Tages bewahrt und fruchtbar gemacht werden soll.

Wir werden Zeitzeugenberichte über den 17. Juni hören, und Menschen aus drei Generationen werden miteinander darüber sprechen, was jener Tag für sie und ihr Denken und Handeln bedeutet. Auf diese Frage muss jede und jeder von uns eine eigene Antwort finden. Selbst wer die Frage ignoriert, beantwortet sie - wenn auch kläglich. Von mündigen Bürgern darf man mehr verlangen: Ich hoffe und erwarte, dass möglichst viele Menschen und dass gerade junge Leute die Erinnerung an den 17. Juni 1953 wachhalten und beherzigen. Dann haben der Mut und die Freiheitsliebe der Frauen und Männer des 17. Juni Zukunft.