Redner(in): Johannes Rau
Datum: 12. Mai 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/05/20030512_Rede.html
I. Ich freue mich darüber, dass Sie mich eingeladen haben zu einem Tag der Geisteskraft und der Erfindungsgabe - denn das heißt ja und das bedeutet ja das lateinische Wort "ingenium".
Vor rund einem Jahr hatte ich eingeladen in den Park von Schloss Bellevue zu einer "Woche der Umwelt". Da kamen etwa 8000 Gäste, um sich zwei Tage lang über Spitzenleistungen deutscher Umwelttechnik und Umweltforschung zu informieren und darüber zu diskutieren. Das waren zwei schöne Tage bei strahlendem Sonnenschein. Es gab viel zu sehen und zu bestaunen, was Ingenieurkunst leisten kann und leisten will für eine gute Zukunft. Weil ich mich so gerne an diese Veranstaltung erinnere, freue ich mich besonders darüber, dass der VDI für den Ingenieurtag 2003 dies Motto gewählt hat, das Professor Christ eben zitiert hat: "Technologien für eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert".
II. Nicht alle wissen noch, dass der Begriff der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts stammt. Wir leben in einer Welt, die geprägt ist von Technik und wir verdanken einen guten Teil unseres Wohlstandes technischen Errungenschaften. Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch technische Errungenschaften von gestern, die uns heute vor große Probleme stellen. So ist die Frage der Nachhaltigkeit, von der Forstwirtschaft kommend, zu einem großen Thema der Gesamtgesellschaft geworden, weil es auch Raubbau gegeben hat und immer noch gibt an den natürlichen Ressourcen unserer Welt.
Allzu häufig hat die Frage der effizienten Ausbeutung vor der Frage gestanden, welche langfristigen Wirkungen, Folgen und Risiken damit verbunden sind. Heute sind wir da ein gutes Stück weiter. Zumindest bemühen wir uns darum, die langfristigen Folgen unserer heutigen Art zu wirtschaften, besser abzuschätzen. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung. Ich bin froh darüber, dass der VDI und dass auch andere Verbände sich der Technikfolgenabschätzen so intensiv angenommen haben; dass Sie immer wieder darauf hinweisen, dass Ingenieure auch Verantwortung haben für die Gesellschaft.
Die vom VDI aufgestellten ethischen Grundsätze für den Ingenieurberuf sind eine wertvolle Hilfe. Diese Grundsätze machen auch deutlich, dass Ingenieure häufig in einem besonderen Spannungsfeld stehen zwischen Unternehmens- und Kundeninteressen und dem allgemeinen Interesse am Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen.
Ein kodifizierter Grundsatz des Ingenieurberufes sagt: Ingenieurinnen und Ingenieure sind sich der Einbettung technischer Systeme in gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zusammenhänge bewusst und berücksichtigen entsprechende Kriterien bei der Technikgestaltung, die auch die Handlungsfähigkeit künftiger Generationen achtet: Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität." Soweit dieser kodifizierte Grundsatz.
Ingenieure tragen gesellschaftliche Verantwortung für ihr berufliches Tun. Darum brauchen sie neben der technischen Kompetenz auch ethische und soziale Kompetenz. Da hat sich in den technischen Studiengängen nach meinem Eindruck auch einiges getan. Die Gesellschaft würde es sich aber zu leicht machen, wenn sie die Verantwortung für die Nutzung bestimmter Technologien allein den Ingenieuren und den Wissenschaftlern zuschöbe. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die zivile Nutzung der Kernenergie und die Gentechnik sind gute Beispiele dafür.
Ingenieure und Wissenschaftler haben neben ihrer technischen Arbeit auch die Aufgabe, die potenziellen Folgen des Einsatzes einer bestimmten Technik so zu erklären, dass auch interessierte Laien sich ein Urteil bilden können. Das ist nicht immer leicht. Über die Nutzung ethisch umstrittener Technologien muss in einer Gesellschaft diskutiert und gestritten und dann politisch entschieden werden.
III. Die Ingenieure haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland heute eines der wirtschaftlich stärksten und leistungsfähigsten Länder der Welt ist. Ihre Kreativität, Ihre Phantasie und Ihre Sorgfalt haben Technik "Made in Germany" zu einem weltweit hoch geachteten Markenzeichen gemacht. Damit das auch im 21. Jahrhundert so bleiben kannn, müssen Bedingungen erfüllt sein. Ich nenne einige:
Kürzlich ist eine Studie im Auftrag des Verbandes der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik erschienen, die zeigt, welche Technologien vermutlich das größte Innovationspotenzial haben werden: An erster Stelle stehen die Mikrosystem- und Nanotechnik, gefolgt von der Informationstechnik, der Bio-Technologie, der Elektronik und Mikroelektronik, den optischen Technologien und der Produktionstechnik. In möglichst vielen dieser Bereiche müssen universitäre und industrielle Forschung und Entwicklung den Stand an die Weltspitze halten oder herstellen.
Ich weiß, wie viele unter uns, dass es problematisch ist, bestimmte Fachgebiete jungen Menschen für ihre Ausbildung zu empfehlen. Auch in den Ingenieurwissenschaften gibt es Felder, die heute unverzichtbar scheinen und morgen im Schatten sein können. Wer hätte zum Beispiel vor vierzig Jahren sagen können, dass die damals weltweit führende deutsche Fotoindustrie mit ihren phantastischen feinmechanischen Apparaten durch schlichte Elektronik bald überholt sein würde? Wer hätte damals den Siegeszug der Informatik voraussagen können? Solche Unsicherheiten bestehen immer.
Ich weiß auch, dass es heute rund 56.000 arbeitslose Ingenieure in Deutschland gibt. Dennoch: Die Quote arbeitsloser Ingenieure ist vergleichsweise sehr niedrig. Ein Ingenieurstudium mit einem guten Abschluss ist zwar keine hundertprozentige Garantie für einen sicheren Arbeitsplatz aber nach wie vor eine gute Voraussetzung. Technik hat in Deutschland Zukunft und deshalb hat auch der Beruf des Ingenieurs Zukunft.
IV. Ich habe vor zwei Jahren in der Berliner Rede mich intensiv mit der gentechnischen Forschung beschäftigt. Das hat damals zu vielen und heftigen Diskussionen geführt. Die sind notwendig und sinnvoll. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt und die ständig schärfer werdende internationale Konkurrenz im Zuge der Globalisierung teilweise dazu missbraucht werden, Diskussionen über die Ethik der Forschung mit dem Hinweis auf vermeintliche ökonomische Notwendigkeiten zu unterdrücken.
Wer laut kritische Fragen stellt, der läuft Gefahr, als Feind der Technik, als Feind des Fortschritts und als moralisierender Träumer abgetan zu werden. Da sind nach meinem Eindruck zwei Richtigstellungen angebracht.
Zum einen sind die Deutschen, entgegen manch leichtfertig ausgesprochener Parole, nicht technikfeindlich. Das zeigen alle seriösen Untersuchungen. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat das jüngst wieder in einer sehr lesenswerten Studie herausgestellt. Rund achtzig Prozent aller Bundesbürger bewerten danach "Technik" und "technischen Fortschritt" überwiegend positiv. Als "technikfeindlich" könne man, so die Studie, gerade mal 1,7 Prozent der Bevölkerung bezeichnen.
Freilich, die Deutschen sind kritisch gegenüber Groß- und Risikotechnologien, aber sie sind nicht und sie waren niemals technikfeindlich. Das ist ein erheblicher Unterschied, den man in jeder seriösen Diskussion über Technikakzeptanz beachten muss. Richtig ist natürlich auch, dass Fortschrittsvertrauen und Zukunftsangst eng beieinander liegen. Das gilt ganz besonders in Fragen des technischen Fortschritts.
Wenn die Moderatorin uns das Albert-Einstein-Wort in Erinnerung gerufen hat, das der Zukunft zugewandt ist, dann darf man das andere Einstein-Wort nicht vergessen, der gesagt hat: "Wir leben in einer Zeit perfekter Mittel und verworrener Ziele". Man sollte sich immer bewusst machen, dass die Wirtschaft dem Menschen zu dienen hat und nicht der Mensch der Wirtschaft. Der Markt ist ein effizientes Instrument der Wirtschaft. Er ist aber kein Ersatz für Ethik und er darf ethische Normen nicht außer Kraft setzen. Dass eine Technik möglich ist und dass die mit ihrer Hilfe hergestellten Produkte verkäuflich sind, das ist kein hinreichendes Argument dafür, dass diese Technik auch angewandt werden sollte - nicht einmal dann, wenn dadurch zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Im Katalog der Weltausstellung von 1933 in Chicago stand ein Satz, der schien mir bemerkenswert zu sein: Da war zu lesen: "Die Wissenschaft findet, die Industrie wendet an, der Mensch passt sich an." Ich glaube dass wir diese Denkweise im 21. Jahrhundert endgültig überwunden haben.
Heute stellt sich die Frage, welche Technologien wir im 21. Jahrhundert für eine nachhaltige Entwicklung brauchen und fördern müssen, damit die Konkurrenz um die endlichen Ressourcen der Erde nicht zu Kriegen, zu Hunger, Leid und Vertreibung führen, damit auch die kommenden Generationen eine Welt vorfinden, in der es sich lohnt zu leben. Dazu können Wissenschaftler und Ingenieure einen wichtigen Beitrag leisten und dazu kann der Ingenieurtag 2003 hier in Münster Wegweisungen geben. Ich denke da zum Beispiel an die Frage nach der sicheren Wasserversorgung für alle Menschen auf der Welt. Da ist auch die Frage zu beantworten, mit welcher Technik Mobilität zukunftstauglich werden kann oder wie wir Energieversorgung sicherstellen können, ohne Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen zu treiben. Das sind hohe Erwartungen, aber ich bin zuversichtlich, dass Sie diese Erwartungen erfüllen werden.
Dafür danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses VDI-Kongresses und dem VDI selber schon jetzt ganz herzlich.