Redner(in): Johannes Rau
Datum: 19. März 2003
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/03/20030319_Rede.html
ich habe heute die Partei- und die Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien eingeladen, um über die Auswirkungen des Irak-Krieges auf die Bundesrepublik Deutschland zu sprechen.
Ich fürchte, es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass wir in den nächsten Tagen und Stunden den Anfang eines Krieges gegen den Irak erleben werden.
Niemand von uns hier in Deutschland hat diesen Krieg gewollt. Aber es liegt jetzt in unserer aller gemeinsamen Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass dem deutschen Volk kein Schaden aus diesem Krieg erwächst. Ich hielt es deshalb für angemessen, dass wir in dieser Situation über alle Parteigrenzen hinweg zusammenkommen, um über die Lage zu sprechen, die sich daraus für Deutschland ergibt.
Ich weiß, dass viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land tief besorgt sind, welche Konsequenzen der Krieg im Irak für Deutschland haben wird. Manche Sorge, die dabei zum Ausdruck kommt, mag übertrieben oder irrational erscheinen. Es ist aber unsere Aufgabe, die Ängste der Bürger ernst zu nehmen.
Das ist nicht nur unsere Pflicht als politisch Verantwortliche. Das ist auch eine Chance, Vertrauen für die Politik in ihrer Gesamtheit wiederzugewinnen.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Parteien und Fraktionen haben heute ihre Einschätzung der Lage vorgetragen. Ich empfinde es als ermutigend, dass es in diesen Äußerungen, bei allen Unterschieden, auch ein hohes Maß an Übereinstimmung in wichtigen Fragen gegeben hat.
Mir sind in diesem Zusammenhang vier Punkte besonders wichtig.
Für Europa können wir nur die Lehre ziehen, in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wirklich handlungsfähig zu werden. Wir haben in den vergangenen Monaten zwar gesehen, wie schwer es auch für die europäischen Staaten ist, sich im Fall von Krieg und Frieden auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Das kann auch in Zukunft wieder einmal misslingen. Wir müssen aber Konsultationsmechanismen entwickeln, die durchlaufen werden müssen, bevor wir mit nationalen Positionen an die Öffentlichkeit gehen. Damit haben wir die Chance, das europäische Einigungswerk weiter voranzutreiben. Es liegt an uns, ein gemeinsames handlungsfähiges Europa zu schaffen, das den Vereinigten Staaten von Amerika ein Partner sein kann.
Ich bin davon überzeugt: Wir Europäer und Amerikaner sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Die transatlantische Partnerschaft bleibt ein Grundpfeiler unserer Außenpolitik. Die Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Bundesrepublik Deutschland verbindet vieles.
Es liegt, jenseits parteipolitischer Unterschiede, in unserem gemeinsamen Interesse, die multilateralen Strukturen in Europa und in der Welt zu stärken. Ich habe die Vertreterinnen und Vertreter der Parteien gebeten, das in der Diskussion der kommenden Wochen deutlich zu machen.
Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung machen. Es ist aller Mühen wert, bis zuletzt noch jede Möglichkeit auszuloten, wie ein Krieg im Irak buchstäblich in letzter Minute verhindert werden kann - auch wenn das aussichtslos erscheinen mag. Das schulden wir auch den Menschen im Irak, die schon unter dem Regime von Saddam Hussein viele Jahre gelitten haben. Jetzt droht vielen unschuldigen Männern, Frauen und Kinder abermals Tod und schreckliches Leid durch einen Krieg.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unternimmt in diesen Stunden einen letzten Versuch, um diese Katastrophe abzuwenden. Wenn er scheitert, wird es unsere gemeinsame Aufgabe sein, den Folgen eines Krieges, so furchtbar er auch ist, mit Besonnenheit und Augenmaß zu begegnen. Das ist die gemeinsame Verantwortung, der alle politisch Verantwortlichen in Deutschland in den kommenden Wochen und Monaten gerecht werden müssen.