Redner(in): Johannes Rau
Datum: 25. Mai 2003

Anrede: Herr Oberbürgermeister, hochansehnliche Festversammlung,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/05/20030525_Rede.html


I. In einer schönen schmalen Mappe liegen Jugenderinnerungen, darunter ein Theaterzettel. Aufgeführt wird Moliere "Der eingebildete Kranke". Hauptdarsteller der Oberterzianer Johannes Rau, Inszenierung Gernot Roemer, Oberprima.

Wer einen solchen Zettel hat, kann eine Einladung nach Augsburg nicht ausschlagen. Außerdem ist Augsburg der richtige Ort, über das zu sprechen, was jetzt auch ansteht, denn am Mittwoch beginnt in Berlin der erste Ökumenische Kirchentag. Darum möchte ich etwas über die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften und des Glaubens in unserer Gesellschaft zu sagen versuchen. Ich kann mir kaum eine Stadt in Deutschland vorstellen, die aufgrund ihrer Geschichte besser geeignet wäre als Augsburg.

II. Mit dem Namen Ihrer Stadt sind entscheidende Weichenstellungen der Kirchengeschichte verbunden - für Deutschland und weit über Deutschland hinaus. Das war Jahrhunderte lang eine schwierige Geschichte von Spaltung und Anfeindung, von Koexistenz und Wiederannäherung.

Augsburg ist die Stadt der Confessio Augustana. Dieses Augsburger Bekenntnis hat Philipp Melanchthon aus dem badischen Flecken geschrieben, der einmal der jüngste Professor der Universität Wittenberg war und mit einundzwanzig Jahren und der 1518 seine Antrittsvorlesung über Studienreformen gehalten hat. Am 25. Juni 1530 wurde das Bekenntnis auf dem Reichstag in Augsburg verlesen. Diese Confessio ist bis heute die Magna Charta der Lutheraner und sie ist für alle evangelischen Christen ein wichtiger Text.

Augsburg ist die Stadt des vielzitierten Religionsfriedens von 1555. Mit dem berühmten "cuius regio, eius religio" wurde neben der katholischen Kirche die reformatorische Kirche offiziell anerkannt.

Das hieß für die Freien Reichsstädte, dass die Christen ihre Konfession frei bestimmen konnten, in vielen anderen Gebieten bestimmten die Fürsten die Religion. Wer die Konfession des Landesfürsten nicht annehmen mochte, der konnte ja umziehen. So war jedenfalls die Theorie.

Die Wirklichkeit war anders. Religionsfriede auf den Papier macht noch keinen Frieden im Alltag. Wir können die Freie Reichsstadt Augsburg als Seismograph für vielfältige Konflikte nehmen: Für unüberbrückbare Glaubensgegensätze, für schreckliche Kriege und doch immer wieder auch für das Bemühen um friedliches Miteinander.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen sind dabei eng verwoben mit den politischen und den sozialen Konflikten der damaligen Zeit. Mancher handfeste politische Streit ist als Konfessionsstreit ausgetragen worden. Wenn um den wahren Glauben gerungen wurde, dann ging es häufig auch um die soziale Stellung und um die sozialen Rechte der verschiedenen Gruppen in der ständischen Gesellschaft.

Da schuf der Westfälische Friede von 1648 nach Jahrzehnten unvorstellbarer, auch heute noch unvorstellbarer, Verwüstung die Grundlagen für friedliches Zusammenleben in Deutschland und Europa. Er bestätigte den Grundsatz "cuius regio - eius religio" und besiegelte damit auch die starke Stellung der Fürsten gegenüber der kaiserlichen Zentralgewalt.

Hier in Augsburg brachte der Westfälische Friede eine Art "Quotenregel" der Geschichte hervor: Die wichtigsten Ämter der Stadt wurden unter den beiden christlichen Konfessionen paritätisch verteilt."Schiedlich, friedlich" hieß das in Augsburg. Der Friedensvertrag griff in die städtische Verwaltung ein: Jede Stelle wurde mit je einem Katholiken und je einem Evangelischen besetzt - in Einzelfällen folgten sie aufeinander. So blieb das bis 1806, als Augsburg seinen Status als Freie Reichsstadt verlor und dem Königreich Bayern zugeschlagen wurde. Über 150 Jahre hielt sich das "Augsburgische Prinzip" - das war gewiss eine sehr eigenartige Lösung, die aber ganz pragmatisch den Frieden in der Stadt sichern half und Konflikte in Grenzen hielt.

Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass der Religionsfriede sich auf die Christen beschränkte. Er hob die Ausgrenzung und die Verfolgung von Juden nicht auf, die durch Beschluss des Stadtrats im Jahr 1440 aus Augsburg vertrieben worden waren. Die Situation der Juden änderte sich grundlegend erst nach 1806, und im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann das liberale Judentum in Augsburg einen gewissen Einfluss. 1913 wurde hier eine der schönsten Synagogen Europas gebaut.

III. So wie Augsburg in der Vergangenheit für die Trennung der christlichen Konfessionen stand, so steht es in der jüngeren Geschichte mehr für ihr Zusammenrücken.

Zu Pfingsten 1971 war Augsburg Gastgeber des ersten Ökumenischen Pfingsttreffens. Zum ersten Mal hatten sich der Deutsche Evangelische Kirchentag und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken auf eine gemeinsame Veranstaltung verständigt. Zugunsten dieses ökumenischen Treffens setzten sie jeweils ihren turnusmäßigen Kirchentag und ihren Katholikentag aus.

Die Laienorganisationen beider Konfessionen wollten Augsburg zu einem Meilenstein der Ökumene machen. Sie waren ermutigt von den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Besonders die katholischen Laien wollten ein Zeichen setzen.

So aufrichtig dieser Wille auf beiden Seiten gewiss gewesen ist, so kompliziert war die Wirklichkeit. Ich war damals Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Ich kann mich noch gut an die Gespräche im Vorfeld erinnern. Ich bin schließlich nicht nach Augsburg gefahren. Ich sah im Programm zu wenig Möglichkeiten für das offene Gespräch und zu wenig Chancen für wirkliche ökumenische Fortschritte.

Es fehlte noch an gegenseitigem Vertrauen - auch wenn es zwischen vielen einzelnen durchaus gewachsen war. Nicht nur die verfassten Kirchen, auch die Laien waren wohl noch nicht so weit. Die Älteren wissen ja, wie das gewesen ist, sie erzählten es gelegentlich. In dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, muss man sich das so vorstellen: Im ersten Stockwerk die fromme evangelische Familie Rau und im zweiten Stock der Ortsgruppenleiter. Und wenn dann die katholische Nachbarin am Karfreitag demonstrativ die Treppe putzte, dann wusste sich meine Mutter wohl zu wehren. Sie hing am Fronleichnamstag die Wäsche auf, und über uns der Ortsgruppenleiter mit der Fahne im Alltag und am Sonntag.

Dennoch war dies ein Schritt in die richtige Richtung, sich als "eineKirche in verschiedenen Konfessionen zu artikulieren", wie das ein Beobachter damals beschrieben hat.

Fast dreißig Jahre später haben Katholiken und evangelische Christen in Augsburg einen neuen Versuch unternommen, den Jahrhunderte alten Glaubensstreit zu beenden - diesmal auf der Ebene der Kirchenleitungen, nicht der "Laien".

Am Reformationstag 1999 setzten hohe Vertreter des Vatikans und des Lutherischen Weltbundes in Augsburg ihre Unterschriften unter die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, in der ein "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" festgestellt wurde.

Zum ersten Mal unterzeichnete die römisch-katholische Kirche mit einer großen evangelischen Kirche ein solches Dokument. Es war das Ergebnis jahrzehntelanger theologischer Gespräche. Die gegenseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die bis zu Krieg und Verfolgung aus Glaubensgründen geführt hatten, gelten damit als überwunden.

Das Dokument war und ist allerdings umstritten. In Deutschland hatten rund 250 evangelische Theologen mit theologischen Argumenten vor der Unterzeichnung gewarnt. Ich glaube freilich, dass die "Gemeinsame Erklärung" in jedem Fall ein außerordentlich wichtiges öffentliches Signal für das Gemeinsame der Christen ist.

IV. Sie sehen meine Damen und Herren: Der ökumenische Kirchentag, der in drei Tagen in Berlin beginnt, hat eine lange Vorgeschichte. Vieles von dieser Vorgeschichte hat in Augsburg stattgefunden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche Bedeutung dieses erste gemeinsame Kirchenfest der christlichen Konfessionen in Deutschland haben kann. Das ist ein Ereignis, das weit über die Kirchen hinaus ragt.

Darum sage ich auch als Bundespräsident, dass ich mich über das enorme Interesse an diesem Ereignis freue. Ursprünglich hatten die Veranstalter mit 100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gerechnet - jetzt werden fast 200 000 Menschen erwartet. Ein Anlass zu Stolz und zum Jubel. 40 000 Ehrenamtliche haben über ein Jahr am Programm gearbeitet.

Es werden Themen behandelt, die für Christen genauso vor 50 Jahren oder sogar vor 150 Jahren auf der Tagesordnung standen. Es gibt andere, die sind ganz neu. Auf jeden Fall aber stehen alle Fragen, die alten und die neuen, in einem neuen Kontext. Heute findet jeder Streit zwischen den Konfessionen, jedes Gespräch über Glauben und Weltverantwortung, auch jede theologische Fachdiskussion in einer Gesellschaft statt, in der eine wachsende Zahl von Menschen keiner der beiden großen Kirchen angehören.

Ich weiß gut, dass die vielfältigen Fragen der Ökumene und auch der Ökumenische Kirchentag nicht jeden interessieren. Viele Leute sagen zwar auch heute noch, dass Glaubensfragen ihnen wichtig seien. Sie sehen aber ihren Glauben als Privatangelegenheit.

Für mich ist noch jeder Katholikentag und jeder Kirchentag ein Kontrapunkt zu der These gewesen, dass Religion Privatsache sei. Katholikentage und Kirchentage, und natürlich auch der Ökumenische Kirchentag, bekunden den Glauben der Menschen als öffentliche Angelegenheit.

Sie stehen damit im Widerspruch zu einem merkwürdigen Phänomen unserer Mediengesellschaft: Auf der einen Seite findet ganz Privates, ja Intimstes vor laufender Kamera statt. Auf der anderen Seite werden wirklich wichtige Angelegenheiten, die unsere Gesellschaft als Ganzes betreffen, ins Private abgedrängt.

Wertentscheidungen, Wertmaßstäbe, Lebensorientierung, Grundüberzeugungen werden zu Privatangelegenheiten gemacht, in die sich niemand einmischen soll. Sogar die Fragen vom Anfang und vom Ende des Lebens sollen - so sagen viele - allein Sache der persönlichen Entscheidung sein.

Mir macht diese Entwicklung Sorge. Es stimmt, es ist richtig, dass persönliche Freiheit ein hohes Gut ist. Keine Gesellschaft kann aber dauerhaft auf einen verbindenden und verbindlichen Wertekonsens verzichten. Jede Gesellschaft braucht Bindekräfte.

Mit dem Privatfernsehen, das auf der Jagd nach der höchsten Quote auch häufig beim kleinsten gemeinsamen Nenner endet, können wir leben - auch wenn es manchmal wehtut - mit einer Minimal-Ethik können wir das nicht. Hier sollten die Kirchen Fehlentwicklungen zum öffentlichen Thema machen und Maßstäbe setzen.

In Deutschland gehören gut zwei Drittel der Bevölkerung einer der beiden großen Kirche an; es gibt mehr als drei Millionen Muslime in Deutschland und ungefähr 100 000 Menschen jüdischen Glaubens. In einer jüngsten Umfrage bezeichnen sich aber nur noch 39 Prozent als "religiös".

In weiten Teilen Deutschlands, besonders in den neuen Ländern, sind die christlichen Kirchen inzwischen in der Minderheit, auch in manchen westlichen Bundesländern. Auf dem Markt der religiösen Angebote haben sie längst keine Monopolstellung mehr.

Der ökumenische Kirchentag soll zeigen, was die kirchlichen Werke und Verbände, was christliche Gruppen und Gemeinschaften, was auch kleinere Kirchen zu den Debatten über grundlegende Fragen menschlicher Existenz beitragen können.

Wo gibt es das noch, dass so viele Junge und Alte, Frauen und Männer, Ostdeutsche und Westdeutsche, Evangelische und Katholische, Menschen anderer Religionen und auch manche, die sich Agnostiker nennen, zusammenkommen und einander offen und unbefangen begegnen?

Wo kommen heute noch öffentlich und "live" so viele Menschen zu Wort - im Gespräch, nicht in der plakativen Kundgebung? Kirchentage und Katholikentage in unterschiedlichen Organisationsformen leisten seit über 150 Jahren einen besonderen Beitrag, einen Beitrag, von dem auch viele nicht gläubige Menschen sagen, dass er unserer Gesellschaft gut tut.

V. Das Verhältnis von Kirche und Staat hat über Jahrhunderte die europäische Geschichte entscheidend geprägt. Der historische Wendepunkt war die französische Revolution mit einer radikalen Trennung von Kirche und Staat.

Heute ist das Verhältnis in allen Ländern Europas klar geregelt, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Von den Staatskirchen in Skandinavien bis zum französischen Laizismus.

In der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 wurde die Kirche als "Hemmschuh der Zivilisation" gescholten, die abgeschafft gehöre. Diese Stimmen haben sich nicht durchgesetzt. Da wurde vielmehr der Grundstein für etwas gelegt, was Wolfgang Huber einmal "aufgeklärte Säkularität" genannt hat.

Der säkulare Staat ist entstanden in der Auseinandersetzung mit den Kirchen als bestimmender Kraft auch gegenüber staatlichem Handeln. Aufgeklärte Säkularität bedeutet, dass der säkulare Staat zu den Freiheiten, die er sichert, auch die Religionsfreiheit zählt. Das ist das Gegenteil eines christlichen oder auch eines quasireligiösen Staates.

Nur der säkulare Staat kann Religionsfreiheit garantieren. Dazu gehört der öffentliche Charakter der Religion und das Recht der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, öffentlich zu wirken.

1919 wurden die staatskirchenrechtlichen Grundsätze der Paulskirchenverfassung durch die Weimarer Reichsverfassung förmlich in Kraft gesetzt. Die Artikel der Weimarer Verfassung, die Religion und Kirchen betreffen, sind unverändert in das Bonner Grundgesetz übernommen worden und sie gelten bis heute.

VI. Kirchen und Religionsgemeinschaften mischen sich nach ihrem eigenen Anspruch auch in die öffentlichen Angelegenheiten ein. Sie suchen - nach dem Prophetenwort - "der Stadt Bestes".

Was haben uns die Kirchen in Staat und Gesellschaft heute also zu sagen? Handelt es sich nur - wie ich das neulich einmal gelesen habe - um Funktionärsvereine ohne Unterbau? Sind es Gruppen, die im Mantel der Nächstenliebe eigene Privilegien und überkommene Rechte verteidigen?

Wo begegnet uns denn die Kirche heute im Alltag? Wo kommt sie vor?

Kirchen und Glaubensgemeinschaften begleiten die Menschen vor allen an den Übergängen des Lebens. Die Kirchen sind dann gefragt, wenn es darum geht, den Schwachen Hilfe und den Stummen eine Stimme zu geben.

Diakonie und Caritas sind keine Ersatzhandlungen für Gottesdienst und Liturgie, sondern zentraler Ausdruck kirchlichen Handelns in der Welt. Die Kirchen sollten in sich in ihrem eigenen Interesse aber nicht darauf beschränken oder beschränken lassen, nur Retter in der Krise und in der Not zu sein.

Ich weiß, dass es auch für die Kirchen zur Zeit nicht leicht ist, ihren Ort in unserer sich ständig verändernden Gesellschaft zu bestimmen. Mir steht es wahrlich nicht zu, ihnen ihren Ort zuzuweisen. Ich weiß aber, dass eine Kirche, die die Orientierungslosigkeit der Gesellschaft nur noch einmal verdoppelt, sich selber überflüssig machte. Eine Kirche, die glaubte, auf jedem Gebiet kompetenter zu sein als die jeweils Zuständigen, die dürfte sich nicht wundern, wenn sie eines Tages auch in den Fragen nicht mehr ernst genommen würde, auf die sie wirklich tragfähige Antworten hat.

Ich habe immer wieder erlebt, dass kirchliches Engagement Menschen mit einer anderen Perspektive, mit etwas "ganz Anderem" konfrontieren kann. Zu vieles, was Staat und Gesellschaft bewegt oder bewegen soll, kommt heute als Allerletztes und Allerwichtigstes daher. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sollten daran erinnern - und sie können es auch - dass sich die meisten unserer Debatten um vorletzte Dinge drehen, die freilich für den Einzelnen und für unsere ganze Gesellschaft große Bedeutung haben können.

VII. Jürgen Habermas hat in seiner viel beachteten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 über die Bedeutung der Religion in unserer "postsäkularen" Gesellschaft gesprochen.

Die Gesellschaft, so mahnte er, dürfe sich nicht "von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung" abschneiden. Sie müsse ein "Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen" bewahren - auch in scheinbar rein wissenschaftlichen und rationalen Debatten. Denn, so sagt er, die "Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen" sei "ohnehin fließend". Die Festlegung dieser Grenze sei eine "kooperative Aufgabe", die "von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen".

Das sagt ein Mann, der sich selber einmal als "religiös unmusikalisch" charakterisiert hat. Er hält es durchaus für eine "vernünftige Entscheidung, so sagt er, von der Religion Abstand zu halten". Er rät aber dazu, für moralische Empfindungen, für Werte, die in der christlichen Tradition begründet sind,"Übersetzungen" zu finden, die diese Herkunft nicht verleugnen. Die Übersetzung, so Habermas, müsse für all jene verständlich sein, die die mit der Herkunft verbundene Glaubenswahrheit nicht teilen. Nur so entstehe eine "Säkularisierung, die nicht vernichtet". Ich finde, meine Damen und Herren, das sind Gedanken, denen nachzugehen und die weiterzudenken wahrlich lohnt.

Wäre die Freiheit des Menschen wirklich größer ohne den Bezug auf etwas Unverfügbares? Die Geschichte hat es gezeigt, auch die Bibel sagt es uns und viele Mythen und Sagen und ungezählte literarische Text erzählen uns davon: Es geht nicht gut aus, wenn der Mensch sich selber für allmächtig hält oder glaubt, er müsse allmächtig werden.

Der Mensch braucht Grenzen, damit er frei sein kann. Selbstbestimmung kann neue Zwänge erzeugen. In der Debatte um Chancen und Grenzen der Genforschung haben viele, gerade auch Vertreter der Kirchen, auf diese Gefahren hingewiesen. Nicht jede zusätzliche Wahlmöglichkeit führt zu mehr Freiheit und mehr Menschlichkeit.

VIII. Für Christen ist nicht jede Vorstellung von Transzendenz und jedes Gottesbild gleich gültig und damit letztlich gleichgültig. Im ökumenischen Dialog, erst recht aber in der pluralen Gesellschaft müssen sie aber lernen, mit Menschen zusammen zu leben, die ganz andere Überzeugungen und Lebensentwürfe haben als sie selber.

Uns ist zu wenig bewusst, was für eine große zivilisatorische Leistung es ist, zu akzeptieren, dass Menschen, die Nachbarn sind, ganz Unterschiedliches für wahr halten und auch manches tun, was der jeweils andere für unbegreiflich hält.

Solange das auf dem Boden des Grundgesetzes geschieht, so lange nicht die Glaubens- und Handlungsfreiheit Anderer berührt wird, müssen wir das nicht nur respektieren, sondern gegen jeden Angriff verteidigen.

Sich wegen solcher Glaubens- und Lebensfragen nicht den Schädel einzuschlagen, das ist die eigentliche zivilisatorische Errungenschaft, die nie ein für alle Mal gesichert ist. Sie muss jeden Tag neu gelebt und weitergeben werden.

Das ist eine anstrengende und eine zugleich spannende Aufgabe. Niemand muss dabei seine Überzeugungen verleugnen. Vielleicht war das lange Zeit ein gefährliches Missverständnis. Manchmal herrschte der Eindruck, Toleranz und Respekt bedeuteten auch, andere Glaubenswahrheiten und Überzeugungen nicht nur zu achten, sondern sie als genauso richtig wie die eigenen anerkennen zu müssen. Das ist ein Irrtum.

Genauso falsch ist aber die Haltung, dass es den Anderen mit seiner Auffassung gar nicht geben dürfe. Wer so denkt, ist zu wirklichem Dialog unfähig.

Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes schützt die Glaubensfreiheit jedes einzelnen und er garantiert das friedliche Zusammenleben aller. Unser Grundgesetz schützt die Freiheit des Glaubens und der Religion aller Menschen in Deutschland, ganz gleich ob sie Christen, Muslime, Juden oder Buddhisten sind.

Für sie alle gilt aber auch: Niemand hat in unserem Land das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die in unserem Grundgesetz garantierten Menschenrechte und Bürgerrechte zu verletzen.

Es ist gut und richtig, dass die Stadt Augsburg, das Theater Augsburg und das "Forum interkulturelles Leben und Lernen" seit dem Jahr 2001 zu Reden über Frieden und Toleranz nach Augsburg einladen. Augsburg zeigt damit Profil als eine Stadt, in der es nicht mehr bloß um das Miteinander der christlichen Konfessionen geht.

Hier leben - wie in allen größeren Städten in Deutschland - Menschen vieler verschiedener Religionsgemeinschaften und kultureller Herkunft zusammen. Viele Vereine und Initiativen haben ein Netz geknüpft mit dem Ziel, das miteinander leben und voneinander lernen zu fördern. Dabei sollen die Unterschiede der Religionsgemeinschaften, Glaubensüberzeugungen und der Kulturen weder vertuscht noch ausgeblendet werden.

IX. Die christlichen Kirchen haben in Grundfragen menschlicher Existenz von je her Maßstäbe gesetzt - auch wenn ihre Geschichte zeigt, dass sie ihren eigenen Maßstäben oft selber nicht gerecht geworden sind.

Anders als die politischen Parteien sollte keine Kirche und keine Religionsgemeinschaft in erster Linie darauf schauen, ob sie Mehrheit oder Minderheit ist. Es ist kein Glaubensziel, möglichst viele zu sein. Der "mutige Rest" zu sein, ist freilich auch kein Wert an sich. Darum haben wir diese Spannung auszuhalten: "Kommet her zu mir alle" und "Fürchte Dich nicht, Du kleine Herde". - Eine Religionsgemeinschaft sollte keine geschlossene Gesellschaft sein mit möglichst wenigen, dafür aber vortrefflichen Mitgliedern.

In modernen Staaten können Kirchen und Religionsgemeinschaften nur dann sinnvoll zu einer Kultur des Dialogs beitragen, wenn die Neutralität des freiheitlichen Staates den Weltanschauungen gegenüber nicht verwechselt wird mit einer Neutralität der Gesellschaft gegenüber diesen Fragen.

Der weltanschaulich neutrale Staat ist auf Überzeugungen angewiesen, die in verschiedenen und unterscheidbaren Gemeinschaften gelebt werden, die Werteorientierung haben und geben wollen. Dazu gehören Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ohne sie wäre unsere Gesellschaft konturloser, als ihr das gut täte. Sie wäre - im Wortsinn - unbegreiflich.

Der Freiraum, den der Staat den Kirchen garantiert, verpflichtet freilich auch. Die Kirchen wissen, dass sie sich selber nicht genug sein dürfen. Sie sind es auch nicht. Ich denke an die vielen konkreten kirchlichen Projekte in diesem Land, die von den Kirchen ausgehen: Ob in der Ausländerintegration, in der Durchsetzung von sozialen Rechten für sogenannte "Illegale" oder in der Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke auch an alte und neue Kirchenmusik und Kirchenkunst.

Gerechtigkeit und Solidarität, Freiheit und Toleranz - das sind Werte, die wir nicht schon deshalb besitzen, weil sie in einer Verfassung verankert sind. Die Kirchen sind nicht die einzigen, die zu diesen Themen etwas beitragen - aber sie haben aus christlicher Perspektive etwas Besonderes dazu zu sagen.

Im Blick auf die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft stehen die Kirchen im Wettbewerb der Argumente wie andere Glaubensgemeinschaften oder nichtchristliche Gruppen. Ich bin überzeugt davon, dass sie in diesem Wettbewerb bessere Ausgangsbedingungen haben als viele andere, denn sie können sich auf Werte und Maßstäbe berufen, die über den Tag und über die Konjunkturlage hinaus reichen. Die Kirchen sind keine Parteien, aber sie können und sie sollen Partei ergreifen - für ihre Wertvorstellungen.

Wie groß das Interesse an solcher Parteinahme ist, haben wir erst in den vergangenen Wochen wieder erlebt, als der Krieg im Irak die Köpfe der Menschen beherrscht und ihnen die Herzen schwer gemacht hat. Kaum jemand hat mit seinen Äußerungen solche Aufmerksamkeit erfahren wie der Papst. Das macht deutlich, wie sehr die Menschen gerade in Zeiten der Krise und der Unsicherheit nach Orientierung suchen und welche Autorität sie dabei noch immer bei den Kirchen sehen.

Die Kirchen machen keine Politik - sie sollten jedenfalls der Versuchung widerstehen - aber sie können Wegweiser aufstellen, an denen sich die Politik orientieren kann. Davon profitieren nicht nur Christen. So verstanden ist Einmischung ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.

Ich hoffe und ich wünsche mir, dass sich der Ökumenische Kirchentag in Berlin dieser Herausforderung stellt. Ich wünsche mir, dass der Kirchentag Impulse geben wird - für eine Welt jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit, für Frieden und Toleranz zwischen den christlichen Kirchen, zwischen den Religionsgemeinschaften untereinander und weit darüber hinaus für unser ganzes Land.

Das kann man fröhlich und unbefangen tun, wenn man, bei der Eröffnung des Ökumenischen Kirchentages den Satz im Sinn hat, den Gustav Heinemann 1950 zum Abschluss des ersten evangelischen Kirchentages gesagt hat: "Wenn Euch die Welt furchtsam machen will, dann denkt daran und antwortet ihr: Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt."