Redner(in): Johannes Rau
Datum: 4. März 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/03/20030304_Rede.html
Akademischer Austausch hat eine jahrhundertealte Tradition: Lange bevor die ersten Touristen in die Ferne reisten, brachen Gelehrte zu Forschungs- und Entdeckungsreisen in alle Welt auf. Sie brachten von ihren Reisen allerlei unbekannte Dinge mit und wussten oft Unglaubliches aus fernen Ländern und von fremden Völkern zu berichten. Ihre Reiseerfahrungen weiteten vor allem die Horizonte der Wissenschaften: Der Vergleich mit dem Neuen und Fremden warf auch ein neues Licht auf das Bekannte und Vertraute und machte es selber zum Forschungsobjekt.
Die Wissenschaften leben davon, auch territoriale Grenzen zu überschreiten, sie leben davon, dass Wissenschaftler ihre Erfahrungen und ihr Wissen austauschen, vergleichen, prüfen und korrigieren. Dieser Austausch hat den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt in den letzten hundert Jahren in atemberaubender Weise beschleunigt und weltweit zugänglich gemacht, da jedenfalls, wo die nötigen Voraussetzungen gegeben sind.
II. Heute werden wichtige Forschungsdaten im Internet veröffentlicht und sind deshalb innerhalb kürzester Zeit weltweit verfügbar. Die Genomdatenbanken zum Beispiel, die in den letzten Jahren erstellt wurden, dienen Wissenschaftlern auf der ganzen Welt als Arbeitsgrundlage. Freilich kann auch die beste und schnellste Verbreitung von Forschungsergebnissen die persönliche Begegnung von Wissenschaftlern nicht ersetzen. Die gemeinsame Arbeit und das persönliche Gespräch bleiben unverzichtbar. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit lebt von den persönlichen Bindungen und von dem Vertrauen, das sich im Laufe der Zeit entwickelt.
Viele von Ihnen haben in Deutschland studiert und geforscht. Sie haben deutsche Hochschulen und Forschungseinrichtungen kennen gelernt und Sie haben Kontakte geknüpft, die häufig ein Leben lang halten und zu Keimzellen für grenzüberschreitende Zusammenarbeit geworden sind. Über einhundert indisch-deutsche Forschungsprojekte gibt es zur Zeit. Viele davon sind persönlichen Begegnungen zu verdanken.
III. Die deutsch-indischen Wissenschaftsbeziehungen sind traditionell gut. Besonders intensiv waren sie schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als es allein in Berlin über 200 Studierende aus Indien gab. Damals wurde ein indisches Studentenbüro in Berlin gegründet, das sich um die Betreuung der indischen Studierenden kümmerte. In diese Zeit fiel auch die Neuausrichtung der Alexander von Humboldt-Stiftung auf die Förderung von Gastwissenschaftlern in Deutschland und die Gründung eines akademischen Austauschdienstes der deutschen Hochschulen. Wie so vieles andere zerstörten die Nationalsozialisten die guten wissenschaftlichen Beziehungen zu Indien.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen wieder indische Studenten nach Deutschland. Immer mehr bevorzugten dann aber die USA und Großbritannien. Das hat gewiss etwas mit der Sprache zu tun, es lag aber auch daran, dass wir uns in Deutschland zu spät intensiv für die besten Studenten aus aller Welt interessiert haben. Wir haben uns zu lange in dem Glauben gewiegt, eines der besten Hochschulwesen der Welt müsse sich gar nicht um Studenten aus dem Ausland bemühen. Mittlerweile sind wir klüger geworden.
In den vergangenen Jahren ist viel für die bessere Betreuung ausländischer Studierender getan worden. Auch wer heute aus Indien zum Studium nach Deutschland kommt, wird mit offenen Armen empfangen. Heute gibt es an deutschen Hochschulen schon über eintausend Bachelor- und Masterstudiengänge. Deutschland unterstützt nach Kräften den "Bologna-Prozess" zur Angleichung von Studienabschlüssen und zur vereinfachten Anerkennung von Studienleistungen. Das kommt auch indischen Studenten zugute. Wir wissen freilich auch um die Aufgaben, die noch vor uns stehen:
IV. Deutschland steht, das hat jüngst die OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" bestätigt, hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle der Beliebtheitsskala für ausländische Studierende. Zwölf Prozent aller im Ausland Studierenden sind an einer deutschen Hochschule eingeschrieben.
In den letzten Jahren ist auch die Zahl der jungen Menschen, die aus Indien zum Studium nach Deutschland gekommen sind, wieder stark gestiegen: in fünf Jahren, von 1996 bis 2001, um über zweihundert Prozent. Darüber freue ich mich. Sieben von zehn indischen Studenten in Deutschland studieren ein ingenieur- oder naturwissenschaftliches Fach - kein schlechtes Indiz dafür, wie gut gerade auf diesem Gebiet die Ausbildungsangebote in Deutschland sind. Doch so positiv die prozentuale Zunahme ist, so niedrig ist leider noch die absolute Zahl der Studierenden aus Indien: Bisher sind es nur rund zweitausend. Zum Vergleich: Derzeit sind vierzehntausend Studenten aus China und über dreißigtausend Studenten aus Osteuropa an deutschen Hochschulen eingeschrieben.
Deutschland braucht gerade in den technischen Berufen, in denen die Beziehungen zwischen Indien und Deutschland traditionell stark sind, langfristig noch viel mehr junge Nachwuchskräfte. Gerade in diesen Bereichen genießt Deutschland weltweit einen sehr guten Ruf und kann Studierenden nicht nur hervorragende Ausbildung und Spitzenforschung bieten, sondern auch außerordentlich günstige berufliche Perspektiven. Auch für Indien sind der Austausch und die Zusammenarbeit im technischen Bereich besonders wertvoll. Von keinem anderen Bereich hängen Entwicklung und Wohlstand der ganzen Bevölkerung heute stärker ab als von modernen Technologien.
Die guten wissenschaftlichen Beziehungen, die Sie zwischen Indien und Deutschland geknüpft haben, müssen nun an die jüngeren Generationen weitergegeben werden. Wenn Ihre Studenten dem von Ihnen geebneten Weg folgen und nach Deutschland kommen, dann sind sie uns herzlich willkommen.