Redner(in): Johannes Rau
Datum: 31. März 2003

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/03/20030331_Rede2.html


I. Im Juni 1948 unternahm ein Berater des amerikanischen Militärgouverneurs Clay eine Rundreise durch die westlichen Besatzungszonen. Danach zog er das Resümee: Fast jeder maßgebliche Deutsche hat einen Verfassungsentwurf in der Tasche.

Fünfundfünfzig Jahre später käme er nach einer Reise durch das vereinte Deutschland vielleicht zu dem Befund: Fast jeder hat einen Verfassungs-Reformentwurf in der Tasche.

Schneller als von vielen erwartet steht erneut das Thema Föderalismusreform auf der Tagesordnung. Die Regierungschefs des Bundes und der Länder sind sich sogar einig in dem Wunsch, dass die Reform bis Ende nächsten Jahres verwirklicht sein soll. Das ist ein ehrgeiziges Programm, und entsprechend groß dürften bald der Zeitdruck und das Bemühen um eine Verständigung sein.

Darum ist es gut, dass jetzt die Präsidenten und Fraktionsvorsitzenden der deutschen Landesparlamente ihre Überlegungen und Vorschläge zu der Reform öffentlich einbringen. Sie stehen damit in einer Tradition, die älter ist als das Grundgesetz: Schon über die Frankfurter Dokumente haben seinerzeit nicht allein die Ministerpräsidenten und Parteispitzen beraten, sondern auch einige Landtage; und an der Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates nahmen auch die elf Landtagspräsidenten der drei westlichen Besatzungszonen teil. Seither haben sich die Präsidenten der Landesparlamente immer wieder sachkundig und engagiert an der verfassungspolitischen Debatte über den Föderalismus beteiligt.

Gut und bemerkenswert finde ich auch, dass diesmal die Parlamentspräsidenten gemeinsam mit den Vorsitzenden der Landtagsfraktionen handeln. Diese Allianz macht deutlich, wie einmütig die Landesparlamente die Stärkung des Föderalismus als ein Gebot der Stunde verstehen. Auch der Deutsche Bundestag sollte sich des Themas bald annehmen, denn es ist zu wichtig, um es allein den Regierungen zu überlassen.

II. Ich bin nun allerdings nicht zu Ihnen gekommen, um mir Ihre heutigen Beschlüsse zu eigen zu machen und deren sofortige Umsetzung zu fordern. Das vertrüge sich nicht mit meinen Neutralitätspflichten, und außerdem sehe ich manches auch etwas anders als Sie. Wir haben darüber im Januar schon gesprochen, als die Parlamentspräsidenten bei mir zu Gast waren. Nein, ich bin heute deshalb hier, weil ich glaube, dass dieser Konvent einen wichtigen Impuls für den Beginn einer breiten öffentlichen Debatte über die Reform unserer föderalen Ordnung geben kann. Zu dieser Debatte will ich mit meinen Überlegungen beitragen.

III. Sie ist nötig, weil viele äußere und innere Faktoren langsam, aber stetig die Gewichtsverteilung, ja die Ausgewogenheit unserer föderalen Ordnung verändert haben. Dabei sind die staatliche Willensbildung und das staatliche Handeln bereits in bedenklichem Maße entparlamentarisiert und kompliziert, ja undurchschaubar geworden. Das trifft unsere Demokratie ins Mark, denn sie lebt von der parlamentarischen Kontrolle des exekutiven Handelns auf der europäischen, auf der Bundes- und auf der Landesebene. Die Demokratie lebt davon, dass für die Bürger klar ist, wem sie auf Zeit welche Verantwortung übertragen haben und wer ihnen nach der Frist Rechenschaft schuldet.

Von den äußeren Faktoren des Verfassungswandels will ich nur auf den wichtigsten eingehen: auf die europäische Einigung. Sie hat die Verfahren und Institutionen unseres Bundesstaates tief und nachhaltig verändert. Das zeigen schlaglichtartig schon wenige Zahlen: Der Deutsche Bundestag behandelte in seiner 3. Wahlperiode ( 1957 bis 1961 ) dreizehn EG-Vorlagen - in der elften Wahlperiode ( 1987 bis 1990 ) waren es genau 2.400 EU-Vorlagen mehr!

Die Europäisierung von Rechtsetzung und Politik entspricht einer Leitentscheidung des Grundgesetzes. Alle wichtigen politischen Kräfte unseres Landes haben diese Entscheidung immer bejaht. Sie hat sich als richtig und segensreich erwiesen, und sie gilt auch für die Zukunft. Der Bundestag und die Landesparlamente haben durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene allerdings erheblich an Gesetzgebungs- und Mitwirkungsrechten verloren. Darauf hat der Verfassungsgesetzgeber 1992 mit dem neu eingefügten Artikel 23 des Grundgesetzes geantwortet. Die fortschreitende Europäisierung ist aber auch darüber hinaus von Bedeutung für die Föderalismusreform:

Wie gesagt: Zum Prozess der europäischen Integration gibt es keine vernünftige und wünschenswerte Alternative. Die geschilderten Entwicklungen rufen aber nach Konsequenzen:

Erstens: Wir dürfen nicht nachlassen im Einsatz dafür, dass die Verfassung der Europäischen Union auf einer klaren und allseits respektierten Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten beruht, die auch dem Subsidiaritätsgrundsatz entspricht. Europas Zukunft soll wohlgeordnete Einheit in Freiheit und Vielfalt sein. Darum ist es gut und erfreulich, dass nach dem jetzigen Stand der Beratungen des Europäischen Konvents die künftige Verfassung für Europa einen ausdrücklichen Bezug auf das föderale Prinzip enthalten soll.

IV. Damit komme ich zu den inneren Faktoren, die in unserer föderalen Ordnung allmählich die Gewichte verschoben haben. Die einschlägigen Sachverhalte sind Ihnen allen vertraut:

Darum ist auch beim Thema Neugliederung Wirklichkeitssinn nötig: Ich habe nichts dagegen, wenn benachbarte Länder darüber nachdenken, wie das Berlin und Brandenburg getan haben; aber keine Neugliederung wird je zum Ende des Bedarfs an gesamtstaatlicher Solidarität führen.

V. Werfen wir einen Blick zurück: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene, die intensive konkurrierende Gesetzgebung und Rahmengesetzgebung des Bundes, die Gemeinschaftsaufgaben, die Mischfinanzierung und die Fälle, in denen von dem Grundsatz "Wer bestellt, bezahlt" abgewichen wird, haben insgesamt folgende Wirkungen:

VI. Es ist nicht meines Amtes, einen Katalog konkreter Änderungsvorschläge vorzulegen. Ich möchte Ihnen aber sagen, an welchen Prüfsteinen nach meiner Überzeugung alle Änderungsvorschläge gemessen werden sollten:

VII. Reformen sind nötig - aber gibt es für sie wirklich die nötigen Mehrheiten?

Viele Beobachter geben darauf eine skeptische Antwort. Sie befürchten, das Stück "Föderalismusreform" werde auch weiterhin unverdrossen aufgeführt, ohne dass sich wirklich etwas zum Besseren verändere. Es hätten sich nämlich längst allzu Viele im Bund und in den Ländern ganz komfortabel in den bestehenden Verhältnissen eingerichtet, ja sie müssten sogar von jeder Reform einen Verlust an eigener Bedeutung befürchten.

Ich bin da inzwischen viel zuversichtlicher. Gewiss werden alle Beteiligten pflichtgemäß die Vor- und Nachteile von Reformschritten für den ihnen anvertrauten Verantwortungsbereich prüfen; aber an der grundsätzlichen Bereitschaft zur Veränderung fehlt es nicht mehr.

VIII. Ich habe vorhin an James Pollock erinnert und an seinen Bericht über den Tascheninhalt deutscher Politiker im Frühling ' 48. Denen, die damals über die Verfassung berieten, gelang unter schwierigsten Bedingungen zu guter letzt Vortreffliches. Es gelang, weil den Müttern und Vätern des Grundgesetzes etwas Entscheidendes gemeinsam war: das Bewusstsein, nicht bloß für Einzelinteressen, sondern für das Gemeinwesen als ganzes verantwortlich zu sein, und der feste Wille, dieser Verantwortung nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden.

Auch eine gute Reform unserer föderalen Verfassung kann nur in einem solchen Geist gelingen. Das Nötige tun statt Ausflüchte machen, seinen angemessenen Beitrag leisten statt bloß auf den eigenen Vorteil sehen - so lautet das Gebot der Stunde für alle, die da beraten und entscheiden, und das müssen zuvörderst auch die Parlamente sein. Was dabei frommt, lässt sich vielleicht am schönsten mit einem Kirchenlied des Grafen Zinzendorf sagen: Wir wollen nach Arbeit fragen,

Wo welche ist,

Nicht an dem Amt verzagen,

Uns fröhlich plagen

Und unsere Steine tragen.

Aufs Baugerüst."