Redner(in): Johannes Rau
Datum: 7. November 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/11/20031107_Rede.html
Wahrscheinlich geht es Ihnen wie mir, meine Damen und Herren, ich bin hin- und hergerissen. Ich stelle mir vor, Wolfgang Schulhoff abends am Schreibtisch Bibel lesend und ein Zitat suchend, das passt, wenn der Bundespräsident und das Handwerk zusammentreffen. Er hat, glaube ich, bei Jesus Sirach die entsprechende Stelle gefunden; wobei man sagen muss, Herr Schulhoff, das Buch Jesus Sirach gehört zu den sogenannten Apokryphen, von denen Martin Luther sagt: "Sie seien der Heiligen Schrift nicht gleich zu erachten, aber doch nützlich zu lesen."
Ich habe überlegt, wenn Sie weitergelesen hätten oder die Apokryphen ausgelassen und Sie wären bis ins Neue Testament vorgestoßen, dann im 19. Kapitel bis zum Vers 32, der heißt: "Die einen redeten so und die anderen redeten anders und die Versammlung war gespalten. Sie berieten aber lange, weshalb sie wohl zusammengekommen wären." Also wir wissen schon, warum wir zusammengekommen sind.
Mir ist eben während Ihrer Rede noch eine Überlegung gekommen: Gibt es noch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland, die weniger Präsidenten verbraucht hat als die Handwerkskammer Düsseldorf? Ich glaube nicht. Acht Bundespräsidenten, drei Handwerkskammerpräsidenten. Das ist doch bemerkenswert in einer Zeit, in der, wie ich gelernt habe, lange Verweildauern gelegentlich auch als Vorwurf genannt werden; ist mir auch schon passiert.
Nun aber zu dem, was Sie in der Sache gesagt haben. Da will ich Ihnen offen sagen: Vielem stimme ich sofort zu; zum Beispiel, dass die Schulabgänger, die in handwerkliche Berufe kommen, besser in den Grundfertigkeiten ausgebildet sein müssen. Es gibt zu wenige, die das fordern und fördern, und wir müssen die Lehrer ermutigen, das zu tun. Wir dürfen aber nicht die Schule allein verantwortlich machen. Es gibt zu viele Miterzieher.
Ich habe heute Morgen mit dem Institut für Türkeistudien zusammengesessen. Es gibt inzwischen 38 Fernsehprogramme in der Türkei. Ich weiß nicht, wieviel es in Deutschland jetzt sind. Ich weiß nur, die Neigung, die Schule als Erholungsort vom vorabendlichen Fernsehprogramm misszuverstehen, ist gewachsen. Dann muss man sich auch klar darüber sein, dass auch die Lehrerschaft gelegentlich Ermutigung braucht.
Wir haben ein Schulsystem, ich will das jetzt nicht im einzelnen darstellen - da wird es dann auch unterschiedliche politische Auffassungen geben - in dem von der Belastung und der Bezahlung her die Hauptschullehrer am schlechtesten dran sind. Sie tragen aber eine ganz, ganz besonders schwere Last. Gegen die Art und Weise wie manchmal über die Aufgaben der Schule gesprochen wird, habe ich große Vorbehalte. Da wird diskutiert, als gehe es in erster Linie um die Konkurrenzfähigkeit im internationalen Vergleich, als gehe es nur darum, dass wir sonst nicht Schritt halten können mit Finnland oder Schweden oder Kanada.
Bei Bildung geht es immer um den ganzen Menschen. Wer sich nur an die Köpfe der Menschen wendet, der hat nicht den ganzen Menschen erreicht. Darum ist Musik so wichtig, die ist eben nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig. Das gilt für Literatur und Musik, das gilt dafür, dass unsere Sinne genauso angesprochen werden müssen wie unser Verstand. Das muss Bildung zu erreichen versuchen.
Sie haben natürlich, Herr Professor Schulhoff, auch kontroverse Themen angesprochen, auf die kann und darf ich nicht antworten. Ich bin nicht in der Bundesregierung, ich bin nicht in der Opposition, ich habe keine originäre Aufgabe in diesem Bereich. Ich würde aber doch gerne ein paar Dinge sagen, von denen ich glaube, sie sind Konsens oder mindestens konsensfähig.
Wer auf Ausbildung aus Gründen der Sparsamkeit verzichtet, macht einen großen Fehler. Es ist teurer auf Dauer, Menschen, die woanders ausgebildet worden sind, zu holen als selber auszubilden. Ich habe nie nachgelassen, dem Handwerk dafür zu danken, dass es über seinen Bedarf hinaus ausbildet, denn nur wer über den Bedarf hinaus ausbildet, kann den Bedarf decken. Die Müdigkeit, die ich gelegentlich erlebe gegenüber der Bereitschaft zur Ausbildung, die mag eine Fülle von Gründen haben, über die man wahrlich reden kann und reden muss, aber wir dürfen uns nicht hineinreden lassen in eine Stimmung, als seien wir bereits so auf der abschüssigen Bahn, dass gar nichts mehr passieren kann.
Ich verstehe nicht, dass wir seit drei Wochen wieder wissen: Wir sind die Exportnation Nummer eins vor den Vereinigten Staaten, und dass wir manchmal gleichzeitig ein Lebensgefühl entwickeln und reden über unser Land, als wären wir kurz hinter Bulgarien. Das geht nicht gut. Natürlich gibt es Streit über Reformen, natürlich gibt es Streit über Rentenreform und Gesundheitsreform und all die Bereiche, die Sie kennen und in denen mögen auch dieser Kreis und ich zum Beispiel unterschiedlicher Meinung sein.
Ich bin auch nicht in allen Punkten der Meinung der gegenwärtigen Bundes- oder der gegenwärtigen Landesregierung; aber es geht nicht darum, dass man unterschiedliche Meinungen hat, sondern es geht darum, dass wir Deutschen aufhören müssen, ein Volk von Bedenkenträgern zu sein. Es ist wirklich manchmal so, dass man den Eindruck hat, die Leute, die einem guten Abend sagen, kucken sich dabei auf die Schuhspitzen, als wenn sie sagen wollten: Entschuldigen sie vielmals. Das geht nicht. Man muss Zuversicht pflanzen auch bei jungen Menschen.
Wer sich das ansieht auch in den Meinungsumfragen, dass junge Menschen um die Frage kreisen: Kriege ich einen Ausbildungsplatz? Die zweite Frage ist: Werde ich übernommen? Und die dritte Frage: Ist meine Rente sicher? Das darf nicht in die Rille unserer CD kommen und immer wieder abgespielt werden. Wir brauchen mehr Zuversicht und wir haben Gründe für Zuversicht. Ich meine das jetzt gar nicht im Blick auf die Frage, wann der Aufschwung kommt oder ob er sich verzögert. So kurzatmig darf man da nicht denken. Wir brauchen aber in Deutschland - auch im Vergleich zu anderen europäischen Nationen - mehr Zuversicht und mehr Selbstbewusstsein.
Ich habe darüber heute Mittag aus ganz anderem Grunde gesprochen mit einem Sänger, dem Sänger Herbert Grönemeyer, der in England lebt seit ein paar Jahren. Ich fragte nach der Unterschiedlichkeit und er sagte: "Die sind nicht so quengelig. Es gibt viel mehr zu reklamieren, aber die Grundstimmung des Volkes ist anders." Wenn Sie sich den Vergleich ansehen - ich habe den jetzt mal vom Bundespräsidialamt freundlicherweise zur Verfügung gestellt bekommen - zwischen den Daten von Frankreich und Deutschland bis hin zu den Geburtenraten, da ist nur ein gravierender Unterschied: Die Deutschen sind pessimistischer, die Deutschen sind quengeliger als die Franzosen.
Wenn ich da in meinem Amt ein bisschen helfen kann, dass es mehr Selbstbewusstsein gibt und auch mehr Stolz auf eigene Leistung, dann, meine ich, hätte ich einen guten Job gemacht, wenn ich den abgebe - wer weiß an wen.
Ich war jetzt 48 Stunden in Nordrhein-Westfalen mit einem kleinen Ausbrecher nach Trier. Das war anstrengend und schön, und dass am Schluss diese Auszeichnung steht und dieser Scheck, das ist besonders schön. Ich erzähle Ihnen natürlich, was ich mit dem Geld mache, ich werde es nicht für mich verbrauchen.
Lassen Sie mich noch sagen: Ich finde ja die Zahlen, die sie genannt haben, eindrucksvoll, aber die Zahl von gestern, die Bundeszahl, ist: Wir haben 37.800 Bewerber und 13.800 offene Lehrstellen. Nun können wir den ganzen Abend darüber diskutieren, wie die sich zu einander verhalten, die Zahlen und die Menschen. Ich appelliere von hier aus noch mal an alle: Bitte wenden Sie alles auf an Kreativität, an Intelligenz und an Finanzen, damit Sie Ausbildung anbieten. Dafür bitte ich um Verständnis, denn da bin ich dann wieder beim Buch Jesus Sirach, da bin ich dann wieder bei denen, denen im Alten Testament versprochen wird, dass ihr Werk seinen Lohn hat, und dass man die Hände nicht abtun soll. Das gilt natürlich auch für diese Hauptaufgabe einer demokratischen Gesellschaft, dass man junge Menschen fähig macht, nicht nur zu überleben, sondern ihr Leben zu gestalten und zu gewinnen, sich zu erproben im Leben, etwas zu lernen, Orientierung zu haben und zu finden.
Das Schlimmste in dieser Gesellschaft ist nicht die abnehmende Wahlbeteiligung, sondern die Orientierungslosigkeit, aus der diese sinkende Wahlbeteiligung erwachsen ist. Darum bin ich dafür, dass mehr Menschen sich "outen" als solche, die Orientierung haben und Orientierung geben und die das tun mit der Solidität des Handwerks auch mit der Intelligenz des Akademikertums als Politiker und Wirtschaftler, als Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Ich glaube diese Gesellschaft braucht Orientierung und Ziele. Dazu braucht sie Menschen, die selber orientiert sind und die selber Profil haben und Mut zur eigenen Gestalt. Das wünsche ich mir, das wünsche ich Ihnen und das wünsche ich unserem geliebten Vaterland.