Redner(in): Johannes Rau
Datum: 26. Februar 2004

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/02/20040226_Rede.html


Ich bin ganz besonders gern hier nach Lahr gekommen, weil diese Stadt mit der Integrationspolitik gegenüber den Russlanddeutschen und gegenüber denen, die aus anderen Ländern kommen, stellvertretend etwas leistet, was weit über die Stadt hinaus strahlt und was wichtig ist für uns alle. Die zweitgrößte Exportnation der Welt darf nicht so tun, als könnten wir unter uns bleiben und als seien wir Menschen mit einer Wagenburg-Mentalität. Nein, wir sind ein Land mit offenen Grenzen.

Die ersten, die den Anspruch haben, durch diese offenen Grenzen zu uns zu kommen, sind diejenigen die in Jahrzehnten, zum Teil in Jahrhunderten, ihr Deutschtum nicht aufgegeben sondern oft erlitten haben. Wenn ich mir bewusst mache, was in den zweihundert Jahren die Familien der Russlanddeutschen erlebt haben, mit Verschleppung und Vertreibung innerhalb der späteren Sowjetunion und mit später Heimkehr, dann haben wir mancherlei Anlass zum Dank und zum Respekt vor diesen Menschen. Dass diese Menschen, die nun hier unter uns leben und manche Familien sich fremd vorkommen, weil wir ihnen gegenüber fremdeln, das kann ich gut nachvollziehen. Unlängst habe ich diesen Satz gelesen: "Zu Hause war ich Fritz und jetzt bin ich hier Iwan." Das ist sehr schwierig. Wir alle wissen, der Mensch lebt von und in der Sprache. Wenn man die Sprache nicht als Muttersprache von Kind an annimmt, dann ist das eine besonders schwierige Existenz und da ist Integrationsarbeit nötig.

Es gibt in Deutschland zwei Missverständnisse. Das eine Missverständnis ist, die die kommen, müssten sich anpassen, dann seien sie integriert. Das zweite Missverständnis ist, nur die Einheimischen hätten Integrationsarbeit zu leisten und die die hinzukommen nicht. In Wirklichkeit ist Integration ein Prozess, der beide Seiten in Anspruch nimmt und der alle Kräfte der Beharrlichkeit und Geduld braucht, Bereitschaft zum Zuhören und Bereitschaft zum Reden. Bei jedem Dialog ist natürlich eines der Probleme, dass man mit Gutwilligen am Tisch sitzt und dass die, die ihn nicht wollen, gar nicht erst kommen und gar nicht erst mitreden und mittragen und dass dann Gewalttäter, Radikale, Extremisten, auch wenn sie nur einen Promillesatz ausmachen, das öffentliche Bild bestimmen.

Wichtig ist mir auch, dass der Besuch des Bundespräsidenten in Lahr deutlich macht: Dies ist hier keine Sondersituation, mit der die Hiesigen fertig werden müssen, sondern dies ist eine gemeinsame Aufgabe, die sich uns Deutschen stellt und die sich denen stellt, die zu uns kommen. Wer zu uns kommt soll seine Kultur bewahren und behalten dürfen. Nur in einem Punkt müssen wir rigoros sein: Wer sich nicht auf den Boden des Grundgesetzes stellt, wer nicht bereit ist, die Freiheiten und die Bindungen unserer Verfassung anzunehmen, der ist hier nicht willkommen. Wer aber die Freiheiten, die Angebote des Grundgesetzes annimmt, der soll willkommen geheißen sein.

Dass ich so gerne in Lahr bin, das hat viele Gründe. Ich kenne natürlich viele Lahrer. Der prominenteste Lahrer im Augenblick dürfte der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Lufthansa sein, Jürgen Weber. Da ich fünfzehn Jahre im Aufsichtsrat der Lufthansa war, der Dienstälteste in diesem Gremium, bin ich mit ihm wohl vertraut. Lahr ist auch die einzige Stadt, in der es einen Verlag gibt, in dem man Postkarten mit Texten meines Vaters und mit Texten von mir kaufen kann. Und wenn ich an frühere Zeiten denke, vor mehr als fünfzig Jahren, an Herrn Gutmann dann habe ich gute Erinnerungen. Auch an Heinz und Rosemarie Kaufmann natürlich, an die ich gern denke und mit denen ich Jahrzehnte eine Weggenossenschaft hatte, die auch bis heute strahlt in meine jetzt beginnende nachberufliche Lebensphase. Ich höre ja im Sommer auf, wie Sie vielleicht gehört haben und dann bin ich Rentner; und mal sehen wie das dann geht.

In vielen Rathäusern steht das Wort: Suchet der Stadt Bestes. Ich kenne kaum einen Politiker, der das nicht bei irgendeinem Anlass zitiert. Wer das zitiert, der müsste sich die Stelle noch einmal ansehen, denn das ist eine Rede die ist nicht gehalten an die Bürgermeister und Stadtverordneten. Sondern das ist eine Rede, die ist gehalten worden gegenüber Vertriebenen in Babylon, gegenüber den gefangenen Juden in Babylon. Denen wird gesagt: Sucht Babylon Bestes. Nehmt an, wo ihr seid, dass das Heimat sein kann. Das wünsche ich denen, die hier nach Lahr gekommen sind und das wünsche ich denen, die hier aus Lahr stammen. Dass sie das Miteinander erleben, dass es Heimat gibt.

Es gab jemanden in meinem Heimatland, in Nordrhein-Westfalen, dem reichte die Seligschreibung nicht wie sie in Matthäus 5 steht. Da stehen nämlich sieben Seligpreisungen. Der hat eine achte dazugeschrieben. Das war Heinrich Jung-Stilling. Ein großer Freund Goethes. Der hat dazugeschrieben: Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen. Ich wünsche allen hier in Lahr, dass sie sich zu Hause fühlen. Ich wünsche den Menschen in Lahr, dass sie anderen die Sicherheit und das Gefühl geben nach Hause gekommen zu sein. Ich grüße die Stadt und alle ihre Bürger und danke für alle mir erwiesene Freundlichkeit.