Redner(in): Johannes Rau
Datum: 20. April 2004

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/04/20040420_Rede.html


Das ist der letzte Staatsbesuch in meiner Amtszeit. Ich möchte damit ein Zeichen setzen, wie wichtig für uns die Beziehungen zu unseren ungarischen Freunden sind.

Uns verbinden tausend Jahre gemeinsamer Geschichte. Eine bewegte, eine fruchtbare, aber vor allem: eine Geschichte arm an Konflikten und Kontroversen. Deutsche und Ungarn haben sich immer gut verstanden, und das gilt bis zum heutigen Tag.

Uns Deutschen fallen zu Ungarn nur positive Begriffe ein. Das ist ja nicht selbstverständlich!

Die Deutschen, immer geneigt, am anderen Ort das Bessere zu suchen, denken an Musikalität und Ritterlichkeit, an Temperament und Fleiß, an Einfallsreichtum und Leistungsbereitschaft.

Und natürlich verbinden wir - und andere - mit Ungarn gutes Essen und Trinken.

Aber auch bei nüchterner Betrachtung: Das Urteil Reginos, im 9. Jahrhundert Abt des ehrwürdigen Eifelklosters Prüm, Normannen und Ungarn seien gleich barbarisch, war wohl das letzte böse Wort, das in Deutschland über unseren Nachbarn fiel. Und ich habe zudem den Verdacht, dass Regino nie in Ungarn war.

Wenn es denn einmal Konflikte gab, dann wurden sie nach den Regeln der sportlichen Fairness ausgetragen. In keinem deutschen Schulgeschichtsbuch fehlt der Hinweis auf das "Wunder von Bern", den unerwarteten Sieg über die berühmte ungarische Fußballnationalmannschaft im Finale der Weltmeisterschaft 1954. Ungarn hat uns damals, freilich gar nicht freiwillig, einen unschätzbaren Dienst dabei erwiesen, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs unser Selbstvertrauen wiederzugewinnen.

Dieses Wunder wird dieses Jahr 50, und es ist in Deutschland noch so präsent, dass ein erfolgreicher Film darüber gedreht worden ist.

Aber ich sollte nicht in alten Wunden bohren. Die Ungarn haben uns ja verziehen, sonst hätten sie heute keinen deutschen Nationaltrainer.

Ich möchte mit meinem Besuch wenige Tage vor dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union vor allem aber auch unterstreichen, welch epochale Bedeutung die Erweiterung Europas für uns hat. Mit dem Beitritt Ungarns und der weiteren Länder aus der Mitte Europas endet jene Übergangszeit zwischen der Überwindung des kommunistischen Systems und der vollen Eingliederung in das freie Europa. Wir mögen uns dessen nicht völlig bewusst sein, aber wir erleben einen Vorgang von historischer Bedeutung.

Damit Europa gelingt, müssen die Länder, aber auch die Regionen ihre Eigenheiten bewahren können. Europas Kennzeichen ist die Vielfalt, und das muss auch so bleiben. Die Menschen würden einem Europa, dessen Reichtum im Einerlei untergeht, nicht länger zustimmen. Wir Deutsche freuen uns auf eine hörbare und wohlklingende ungarische Stimme im europäischen Chor.

Das große Europa der 25 Mitgliedsstaaten braucht neue Strukturen und Verfahren. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns bald auf eine Verfassung werden einigen können, die für die Zukunft Bestand hat. Diese Verfassung muss einen Ausgleich finden zwischen dem natürlichen Gewicht der großen Länder und dem Recht auch der kleineren, ihre Interessen effektiv zu vertreten. Das Erfolgsrezept Europas heißt: Niemand darf die Nummer Eins sein wollen!

Wenn die Bürger an Europas Zukunft denken, erwarten sie auch, dass Europa aus dem Irak-Konflikt Lehren zieht. Dazu gehört gewiss, dass wir Europäer außenpolitisch mit einer Stimme sprechen müssen. Nur so können wir der wichtige Partner für Amerika sein, der wir sein müssen und sein wollen.

Morgen werde ich ein Stück Ihres wunderschönen Landes kennenlernen. Ich werde mit dem Zug von Budapest nach Herend fahren, zu der weltberühmten Porzellanmanufaktur.

Ich gehe auch deshalb besonders gerne nach Herend, weil es Ihr Heimatort ist, Herr Präsident Madl, und weil auch Ihr beruflicher Lebensweg mit der Manufaktur verbunden ist.

Dieses Unternehmen verbindet in eindrucksvoller Weise Tradition und Moderne. Es expandiert, es bewährt sich auf dem globalen Markt, und bewahrt doch seine althergebrachten künstlerischen Traditionen in vollem Umfang.

Diese Manufaktur ist auch ein Modell für den gelungenen Übergang von staatlich gelenkter in die vom Markt bestimmte Wirtschaft. Sie ist ein Spiegel des modernen Ungarn.

Auf dieses Ungarn setzen deutsche Unternehmen. Sie lassen hochmoderne Motoren hier bauen. Sie alle wissen, meine Damen und Herren, wie wichtig uns Deutschen unser Auto ist. Mehr Vertrauen in ein Land können wir nicht haben, als dass wir das Herz unserer Autos dort fertigen lassen!

Frühere Beitritte zur Europäischen Union hatten beispiellose wirtschaftliche Entwicklung zur Folge. Ungarn, da bin ich sicher, wird die Chance zu Aufschwung und Wohlstand nutzen, die sich ihm jetzt eröffnet.

Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, gemeinsam jetzt mit mir das Glas zu erheben und mit mir zu trinken auf das Wohl von Präsident Mádl, auf das seiner Gemahlin, auf eine glückliche Zukunft Ungarns und auf ein fruchtbares Miteinander unserer beiden Länder in einem friedlichen und geeinten Europa!