Redner(in): Roman Herzog
Datum: 8. Juli 1996

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/07/19960708_Rede.html


Herzlich willkommen im Schloß Bellevue! Ich freue mich, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind und Ihre Beratungen unterbrochen haben, um mit mir zu diskutieren. Ganz fremd sind mir Ihre Probleme ja nicht, wenn auch mein eigenes Rektorat in Speyer schon ein knappes Vierteljahrhundert zurückliegt: Aber ich möchte weniger über das Vertraute sprechen, als über das, was sich ändern soll.

Dabei kann ich Ihnen die Erkenntnis nicht ersparen, daß jeder, der mich zum Reden animiert, ein gewisses Risiko eingeht. Da Sie heute kein Jubiläum feiern - was gemeinhin zu längeren Freundlichkeiten des Redners Anlaß gibt - und weil ich auch keinen Nachruf auf die eigene Vergangenheit als Rektor beabsichtige, darf ich mich gleich in aller Offenheit in medias res begeben.

I. Lassen Sie mich dazu einige Vorbemerkungen wagen:

1. Wissen - das ich in bewußter Vereinfachung zugleich als Grundlage und Ergebnis von Bildung betrachte, ist - neben Kapital und Arbeit - unser zentraler Produktions- und Standortfaktor geworden. Ohne Wissen und Bildung gibt es keine Zukunft!

2. Bildungsinstitutionen - Hochschulen ausdrücklich eingeschlossen - sind keine philanthropischen Inseln abstrakten Diskurses, sondern Dienstleistungszentren, die - zumal wenn sie vom Souverän, dem steuerzahlenden Bürger finanziert sind - einem Legitimationsdruck ausgesetzt sind.

3. Diese Legitimation erfolgt nicht nur durch bildungspolitische Vorgaben, sondern auch durch einen Wettbewerb der Hochschulen untereinander - übrigens über die Grenzen unseres Landes hinaus. Wettbewerbe haben es an sich, nicht nur die Besseren zu prämieren, sondern auch die Schlechteren zu identifizieren. Und sie machen es - noch wichtiger - nötig, daraus auch Konsequenzen folgen zu lassen.

4. Hochschulen als Schnittpunkt zwischen Bildungsvermittlung und Forschung können sich Berührungsängste zur Wirtschaft nicht leisten.

5. Mittelknappheit ist nicht nur ein beklagenswerter Zustand der Gegenwart für die Hochschulen, sondern sie kann auch Motor für notwendige Neuerungen sein.

6. Bildung ist mehr als die Grundausstattung für das Leben; sie ist persönlicher und gesellschaftlicher Dauerauftrag mit Anforderungen an jeden Bürger und an die Vermittler von Bildung gleichermaßen. Es gibt also noch ein "Leben nach dem Studium", so daß Hochschulen und Studenten durchaus auch stoffliche und damit zeitliche Limitierungen der Studiengänge verkraften.

Keine Sorge, ich bin nicht zum Ökonomen geworden, der alle Themen dieser Welt - so auch die Bildung - "zum Markte trägt". Ich vollziehe auch keinen Abschied von Humboldt. Aber Bildungshistorie ist eben nur Wurzel und Fundierung, Bildungshistorie kann nicht Entwicklungsziel sein.

Ich argumentiere vor Ihnen - schon aus Zeitgründen - bewußt holzschnittartig. Mir fallen deshalb zu meinen Ausführungen selbst viele Relativierungen ein. Aber noch mehr Gründe habe ich für die These, daß wir aus Veränderungen Konsequenzen ziehen müssen! Und zwar schnell. Auch für die Hochschule gilt, daß alle notwendigen Diskussionen eigentlich längst geführt worden sind. Jetzt ist Handeln gefragt. Wir haben kein Ideendefizit, sondern ein Handlungs- und Vollzugsdefizit.

Jürgen Mittelstraß hat die Universitäten einmal als "konturenarme Betriebe" beschrieben, die unter Elephantitis litten und die Durchschnittlichkeit produzierten. Das ist hart. Ich glaube es im wesentlichen auch gar nicht. Aber ist das völlig unzutreffend?

II. Universitäten sind heute Massenbetriebe. Ein Viertel jedes Geburtsjahrganges drängt in die Hochschulen, und die Tendenz ist steigend. Die Lebenswirklichkeit heutiger Studenten ist nicht mehr so, daß einem umfänglichen studium generale ein spezifischer Studienschwerpunkt folgt, der dann mit einem Examen abgeschlossen wird. Für die ganz überwiegende Zahl geht es schlicht um eine für den Arbeitsmarkt qualifizierende Ausbildung. Ich plädiere damit nicht, aber ich beschreibe wie es ist.

Das arbeitsmarktorientierte Studienziel wird aber keineswegs immer zielstrebig angestrebt. Eher Regel als Ausnahme ist ein Studium, das schlecht beraten beginnt, wenig sinnvoll strukturiert durchgeführt wird und - im positiven Fall - meist zu spät mit dem Erfolg eines Studienabschlusses gekrönt wird. Nicht selten versandet es aber auch ohne diesen Abschluß.

Ich wünsche mir durchaus Studenten, die über den Tellerrand ihres Faches hinausblicken und einen interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch pflegen. Ich akzeptiere auch, daß eine breite Fundierung mit einem oder zwei Zusatzsemestern erkauft wird. Aber heute wird zu oft ein Schmalspurstudium mit einem Zeitaufwand betrieben, der unter normalen Umständen für eine Doppelqualifikation ausreichen würde. Ich verbinde mit dieser Feststellung gar keine Schuldzuweisungen an irgendwen. Aber ich habe den Eindruck, daß wir uns mit diesem Phänomen ernsthaft befassen müssen.

Dazu stelle ich ein paar Fragen: - Soll jeder Abiturient wirklich überall jedes Fach studieren können? Oder sollen die Hochschulen Auswahlrechte haben? - Soll die Studiendauer wirklich ganz ins Belieben des Studenten gestellt sein? - Sind die Studieninhalte wirklich noch kompatibel mit den Studienzielen? - Sind die Strukturen unserer Hochschulen geeignet, die veränderten Herausforderungen zu bewältigen?

Ich stelle diese Fragen nicht schlaumeierisch, um zu bestimmten Antworten zu kommen, sondern weil ich weiß, daß auch Sie diese Themen besprechen und auf einige Fragen bereits Antworten haben. Ich verwende die Vokabel "Antworten" dabei bewußt im Plural; erstens weil es in einem föderalen Staat mit Länderverantwortung für die Hochschulen unterschiedliche Wege gibt. Und zweitens deshalb, weil ich der festen Überzeugung bin, daß auf die Dauer nur ein Wettbewerb verschiedener Antworten fruchtbar ist.

III. Lassen Sie mich einem möglichen Mißverständnis vorbeugen: Ich bin mir meiner Meinung, wir hätten heute zu viele Akademiker, noch nicht völlig sicher. Das zu beurteilen, gibt es ja keinen wirklich objektiven Maßstab. Und ich weiß sehr wohl den hohen Wert einer freien Berufswahl zu schätzen, die Ausdruck einer freien Gesellschaft ist und zu der auch die Entscheidung für einen bestimmten Studiengang gehört. Nur bedeutet das nicht automatisch auch einen dauerhaften freien Zugriff auf alle Studieneinrichtungen.

Je mehr Menschen um knappe Ressourcen konkurrieren, desto wichtiger wird ein verantwortliches Abwägen aller Interessen. Mir ist beispielsweise das Recht, Jura überhaupt studieren zu können, wichtiger als der Anspruch, beliebig lang Jura studieren zu dürfen. Und mir ist eine rechtzeitige Leistungskontrolle während des Studiums lieber als ein Verstopfen von Studiengängen durch - aus welchen Gründen auch immer - "parkende" oder schleichende Kommilitonen. Wer ein Examen anstrebt, sollte selbst daran interessiert sein, auch zwischendurch seinen Leistungsstand kontrollieren zu können. Jedenfalls ist weder den Betroffenen noch der Gesellschaft gedient, wenn der Zeitpunkt des Ernstfalles immer weiter hinausgezögert wird.

Beim Berufseinstieg ist ein hohes Alter bekanntlich kein Werbeargument. Und gerade bei Hochqualifizierten ist der Arbeitsmarkt heute international. Da schlägt möglicherweise ein 23jähriger Brite, gut ausgebildet, hochmobil und überdies mit geringerer Einkommenserwartung, den 28jährigen deutschen Konkurrenten sehr leicht aus dem Feld.

Die Freiheit der Entscheidung korrespondiert immer auch mit der Veranwortung für die Folgen. In einem freien Land, das seine Bürger nicht den Arbeitsplätzen zuteilt, hat niemand einen Anspruch gegenüber dem Staat, ihm einen bestimmten Arbeitsplatz zu verschaffen oder gar zu garantieren. Auch ein Hochschulabsolvent nicht. Früher mochte man "auf A-13 hin" studieren in der Gewißheit, daß der Staat für einen hohen Anteil der Absolventen gesicherter Arbeitgeber sein würde und die übrigen problemlos in der Wirtschaft unterkämen. Heute und künftig ist das nicht mehr so. Man mag das als "Kohortenschicksal" bedauern, aber es wird sich dadurch nicht ändern!

Und gerade weil das so ist, dürfen die jungen Menschen bei ihren beruflichen Richtungsentscheidungen nicht allein gelassen werden. Sie brauchen eine rechtzeitige Berührung mit der Praxis. Aus meiner Sicht ist es nicht akzeptabel, daß viele Endzwanziger nach Durchlaufen einer 13-jährigen Schulphase und anschließend eines 10- oder 12-semestrigen Studiums gerade noch rechtzeitig vor Beginn ihrer "midlife-crisis" erstmals mit beruflicher Lebenswirklichkeit konfrontiert werden. Es ist ja richtig, daß ein hoher Schulabschluß die besten Optionen eröffnet, und auch, daß nach aller Erfahrung höhere formale Qualifikationen zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt führen. Nur darf man darüber nicht vergessen, daß die so Qualifizierten rechtzeitig auf eigenen Beinen stehen sollten. Lebenslanges Lernen ist nötiger denn je - aber bitte vorwiegend im Beruf und nicht als Beruf!

Infolgedessen bedarf es heute mehr denn je einer rechtzeitigen, permanenten und vor allem fundierten Beratung über Studiengänge und künftige Arbeitsmarktchancen, damit nicht am Ende eines langen und überdies erfolgreichen Lernabschnitts die völlige Desillusionierung steht. Zwar wird es nie gelingen, Bildungssystem und Arbeitsmarkt völlig zu synchronisieren. Aber ein massenhaftes Ausbilden am Markt vorbei ist eine gewaltige Fehlinvestition - sowohl für die Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen, um den es geht.

IV. Ich bin mir bewußt, daß wir trotz solcher Anstrengungen von einer im Zweifel noch wachsenden Zahl Absolventen verlangen müssen, sich jenseits ihrer formalen Qualifikation am Arbeitsmarkt zu bewähren. Das deutlich auszusprechen, bewirkt möglicherweise schon ein Stück positiven Steuerungseffekt im Hinblick auf Studienwahl und Studienaufnahme.

Vorhin sprach ich das Problem hoher Abbrecherzahlen an. Mir ist klar, daß dahinter keineswegs immer ein individuelles Versagen steckt. Viele schließen das Studium nicht ab, weil sie schon vorher den Absprung in den Arbeitsmarkt geschafft haben. Und gar nicht selten werden aus Studienabbrechern junge Unternehmer. Im Einzelfall ist der Abbruch des Studiums also möglicherweise sogar Ausdruck für Wagemut. Aber das sollte weder dazu verleiten, hohe Abbrecherzahlen als naturgegeben hinzunehmen, noch sollte der Studienabbruch zum denkbaren Ziel eines Studiums umstilisiert werden. Denn einerseits werden damit knappe Kapazitäten für andere blockiert, die sie für ihren Abschluß brauchen, und andererseits sollten gerade auch die nicht gescheiterten, wagemutigen Abbrecher die Chance eines - wenn auch vielleicht minderqualifizierten - Abschlusses haben.

V. Wenn ich anfangs sagte, wir hätten nicht grundsätzlich zu viele Akademiker, dann meine ich allerdings nicht, es sei alles im Lot. Wir haben jedenfalls eine falsche Bewertungs- und Anerkennungshierarchie: Ein Hochschulabschluß schlägt heute immer noch jeden Berufsabschluß im dualen System.

Warum aber ein Anglist bedeutsamer sein soll als ein Bauzeichner, das vermag ich nicht einzusehen. Im öffentlichen Dienst haben wir diese problematische Wertehierarchie sogar bis zur Perfektion überdehnt. Da ist der Volljurist fast automatisch dem höheren Dienst zugeordnet - auch wenn er das Examen nur um Haaresbreite bestanden hat. Ein höchstqualifizierter Software-Spezialist ohne Hochschulstudium hat dagegen Schwierigkeiten, überhaupt den Beamtenstatus zu erhalten und ist darüber hinaus noch in seinen Entwicklungsmöglichkeiten ungemein beengt.

Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beginnen sich die Dinge mittlerweile zu korrigieren. Einkommenschancen machen sich hier an der Knappheit des Angebotes fest und steigende Studentenzahlen vergrößern das Angebot. Das dämpft die Einkommenserwartung und schafft eine neue Balance.

VI. Ich plädiere - heute nicht zum ersten Mal - für ein unverkrampftes Umgehen mit unserer Elite und insbesondere mit dem Begriff Elite. Aber Elite ist nicht allein, wer Qualifikation an Qualifikation reiht, sondern wer sich durch Höchstleistung seinen gesellschaftlichen Platz erkämpft. Elite ist also kein Privileg der theoretisch Ausgebildeten. Diplome geben hier kein Zugangsrecht! Deshalb kann ein Handwerkermeister sehr wohl zur Leistungselite gehören, während keineswegs jeder Universitätsabsolvent diesem Anspruch gerecht wird.

Lassen Sie mich außerdem ergänzen, daß Elite sich nicht durch gutes Funktionieren auszeichnet. Erst die Kombination aus Leistung und Verantwortung macht wirkliche Elite aus!

Hochschulen, die ein Drittel eines Altersjahrgangs ausbilden, leben zwangsläufig im Spannungsfeld zwischen Massenausbildung und Eliteförderung. Wie können wir aber das Ziel erreichen, die begabtesten, leistungsstärksten, motiviertesten jungen Menschen besonders zu fördern? In anderen Ländern gibt es dafür Elite-Hochschulen; ich weiß freilich nicht, ob dort Ruf und Realität immer übereinstimmen. Das Umstrukturieren bestehender Bildungseinrichtungen zu Anstalten mit besonderer "Höhenluft" scheint mir in Deutschland jedenfalls wenig erfolgversprechend zu sein. Das heißt aber nicht, die Qualität der Studenten völlig aus dem Blickfeld zu verlieren.

Ich kann verstehen, wenn sich Hochschulen bemühen, selbst Auswahlkriterien für Studenten festzulegen. Und warum nicht die Mittelzuweisung an Hochschulen zumindest auch daran orientieren, wie die Studenten abschneiden - anstatt nur auf Kopfzahlen zu achten? Ziel solcher Schritte wären aber keine Eliteuniversitäten. Denn Hochbegabte gibt es in der Breite unseres Bildungssystems überall, und sie sollen auch dort Förderung finden, wo sie nicht nur unter ihresgleichen sind.

VII. Die Aufgabe lautet also: die Besten fördern, ohne die Durchschnittlichen aus dem Auge zu verlieren. Und das vor dem Hintergrund wachsender Studentenzahlen bei auf mittlere Sicht nicht abänderbaren knapperen Finanzmitteln. Ich beneide Sie nicht um diese Herausforderung.

Für alle Studiengänge gilt, daß eine rasante Wissensvermehrung es immer unmöglicher macht, in die Ausbildung die gesamte Wissensbreite eines Faches aufzunehmen. Also muß das Studium vor allem wissenschaftliche Grundlagen und Methodenkenntnis vermitteln und dadurch weiterbildungsfähige Absolventen hervorbringen.

Ich spreche dabei bewußt noch immer vom wissenschaftlichen Studium, obwohl ich mir darüber im klaren bin, daß heute viele Studiengänge fachlich weitgehend verschult sind. Viele Studenten wollen das sogar; anders kann ich mir nicht erklären, daß inzwischen keineswegs mehr nur die Juristen auf kommerzielle Repetitoren zurückgreifen. Die Überfüllung der Hochschulen fördert diesen Prozeß, der zu Lasten der Wisschenschaftlichkeit geht und die Qualität mindert. Dennoch wäre es blauäugig, die Entwicklung zu leugnen.

Klar ist auch, daß trotz Wissensexplosion eine Verkürzung der Studienzeiten notwendig ist. Ich plädiere damit nicht für "Fallbeilmodelle", die bei Überschreiten bestimmter Zeiten zur Exmatrikulation führen. So etwas kann "kontraproduktiv" wirken. Besser sind sicher Anreizmodelle wie die "Freischuß-Regelung" bei den Juristen, die ja gerade beweist, daß kürzere Studienzeiten nicht automatisch schlechtere Ergebnisse produzieren. Je kürzer die Studienzeit, desto besser für unsere überlasteten Hochschulen, desto besser für unseren Arbeitsmarkt, desto besser aber auch für die jungen Menschen.

VIII. Auch die Frage der Studiengebühren will ich nicht tabuisieren. Ich stelle mir natürlich nicht vor, daß an den Hochschulen neue soziale Barrieren entstehen. Aber es ist nun einmal eine bekannte Erkenntnis, daß mit völlig kostenfrei verfügbaren Gütern nicht sehr sorgfältig umgegangen wird. Und mit Peter Glotz will ich fragen, welche Ratio denn dahintersteckt, wenn wir für die Nutzung von Kindergartenplätzen, die von 90 Prozent jedes Jahrganges in Anspruch genommen wird, eine Gebühr verlangen, aber die ungleich teureren Studienplätze für nur ein Viertel jedes Jahrganges gebührenfrei bereitstellen. Plausibel ist diese Differenzierung nicht. Ganz nebenbei nutzen Jurastudenten jeglicher sozialer Herkunft seit Jahrzenten ganz selbstverständlich private Lernhilfen, ohne dabei soziale Ungerechtigkeiten zu behaupten. Gebühren können neben einer Finanzierungs- auch eine Steuerungsfunktion haben.

Es liegt an der Ausgestaltung, ob und wie sie es tun, und daran, wie sie sozial gestaltet werden. Deshalb sollte das Nachdenken darüber, ob sie es tun dürfen, zumindest erlaubt sein. Erst dann ist eine verantwortliche Entscheidung über sie möglich.

IX. Der Erfolg des Studiums hängt sicher nicht nur von der Qualität der Lehrinhalte und der Ausstattung der Hochschule, sondern auch von den Lehrpersonen ab. Noch ist es oft Zufall, ob Hochschullehrer gute Wissensvermittler sind oder nicht. Die didaktische Ausbildung ist sicher unterentwickelt - auch die Fähigkeit und Möglichkeit, moderne Formen und Methoden der Wissensvermittlung einzusetzen. Es ist erfreulich, daß es inzwischen Auszeichnungen für innovative Lehre gibt, wie sie etwa der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in den letzten Jahren verliehen hat. Es gibt also ein Innovationspotential an den Hochschulen. Aber es gibt eben auch besonders viel zu tun.

Nachdenken wird man auch über die Frage müssen, ob die bisherigen Abschlüsse ausreichend sind. Offenkundig gibt es einen Bedarf an Zwischenabschlüssen unterhalb des Diploms oder Staatsexamens. Wir könnten hier möglicherweise von ausländischen Erfahrungen lernen. Nicht, um dem ohnehin vorhandenen Drang der Deutschen zu formalen Abschlüssen weiteren Auftrieb zu geben, aber um das Selbstvertrauen der Studierenden durch eine vorzeigbare Qualifikation zu stärken.

X. In meinen bisherigen Gedanken habe ich mich weitgehend auf die Lehre konzentriert. Ich will keine bloße Pflichtübung absolvieren, wenn ich nun auch ein paar Worte zur Forschung sage. Ich berufe mich dabei nicht einmal auf Humboldt, der bekanntlich von der Einheit beider Elemente ausging, sondern ich glaube tatsächlich, daß beides zusammengehört. Und wir würden uns einen Bärendienst erweisen, wenn wir ein weiteres Auseinanderdriften zulassen würden.

Allerdings bin ich auch überzeugt, daß Hochschulen im Bereich der Forschung sowohl Innovationskraft entwickeln als auch Praxisbezug verwirklichen müssen. Beides kommt den Hochschulen zugute. Die HRK hat bereits 1993 beschlossen, an den Hochschulen Forschungskollegs einzurichten, in denen der Rahmen für Spitzenforschung in der institutionellen Verbindung von Wissenschaftskolleg und Graduiertenkolleg geschaffen werden soll. Ich finde diesen Gedanken vorzüglich, bin mir aber nicht ganz sicher, ob bisher genügend Umsetzungwille existiert. Noch einmal: Nur Spitzenleistungen in der Forschung - nicht nur in Naturwissenschaften und Technik, auch in den Kulturwissenschaften - garantieren uns einen Spitzenplatz unter den Industrienationen der Zukunft.

XI. Forschung kann nur erfolgreich sein, wenn sie - zumindest auch - anwendungsorientiert erfolgt. Auch die Hochschulforschung muß dieses Ziel im Auge behalten. Es sollte selbstverständlich sein, daß die Forschung an den Hochschulen und in der Wirtschaft in Sichtnähe zueinander bleiben. Jedes Nörgeln daran, daß Universitäten auch im Auftrag privater Unternehmen oder Institutionen forschen, ist für mich unverständlich. Intensive Forschung ist aktive Zukunftsfürsorge. Wenn wir ihre Anwendung und ökonomische Nutzung aus dem Auge verlieren, dann werden wir die Basis unserer künftigen Existenz untergraben.

Für mich ist es im Grundsatz völlig unproblematisch, wenn sich Berührungspunkte und Schnittmengen zwischen dem öffentlich finanzierten Hochschulbereich und privat finanzierten Aufträgen ergeben. Klar ist natürlich, daß keine Abhängigkeiten mit illegitimer Einflußnahme entstehen dürfen. Aber aus Furcht vor einer möglichen, aber auch eingrenzbaren Gefahr darf man die Chancen dessen, was Angelsachsen als public-private partnership bezeichnen, nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.

Ich will hier nur - gewissermaßen in Klammern - hinzufügen, daß ich Sympathie für die Existenz privater Universitäten habe. Private Hochschulen sollen das öffentliche Hochschulsystem nicht ersetzen, sondern ergänzen. Aber insoweit haben sie eine wichtige Funktion. Im Ausland ist das längst selbstverständlich, und auch in Deutschland setzt sich diese Erkenntnis allmählich durch. Ich unterstütze sie ausdrücklich. Wir brauchen nicht ein Witten-Herdecke, sondern eine ganze Reihe.

Natürlich sind mir die mentalen Reserven gegen solche Grenzverwischungen zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor bekannt. Ich nehme sie auch durchaus ernst. Aber wir müssen beim Stichwort Innovation eben auch an eine mentale und eine institutionelle Innovation denken. Strukturen dürfen nicht in einer unseligen Gemengelage aus gewachsenen Apparaten, verfestigtem Dienstrecht und mentalen Vorbehalten alternativlos versteinern.

XII. Unser Bildungs- und Ausbildungssystem befindet sich in einem internationalen Wettbewerb. Schon heute beobachte ich mit einer gewissen Sorge, daß offenbar die Attraktivität deutscher Hochschulen für ausländische Studenten sinkt. Das ist ein ernstes Alarmzeichen. Wir müssen sehr darauf achtgeben, daß die Attraktivität nicht zusätzlich auch für deutsche Studenten abnimmt.

Die Menschen werden gottlob mobiler und die Sprachbarrieren der Vergangenheit sind für junge Menschen heute kaum mehr vorhanden. Es ist gut, wenn junge Deutsche im Ausland lernen, um so ihren Horizont zu erweitern. Aber es wäre bedenklich, wenn das Motiv die Unzufriedenheit mit dem hiesigen sein sollte. Erst recht müssen wir darauf bedacht sein, daß unsere Absolventen Qualifikationen mitbringen, die auf dem sich zunehmend internationalisierenden Arbeitsmarkt überhaupt noch nachgefragt werden.

Was heißt das für unsere Hochschulen? Im Wettbewerb können sie nur bestehen, wenn sie nicht durch ein zu engmaschiges Normensystem gefesselt, sondern mit wirklicher Autonomie ausgestattet werden, aus der ihnen natürlich auch die entsprechende Verantwortung erwächst. Aber gerade in Zeiten knapper Kassen eröffnet Autonomie ein besonderes Gestaltungsfeld. Staatlicher Oktroi wäre dafür ein zwar bequemerer, aber ein schlechter Ersatz!

XIII. Ich habe bisher die gewaltigen Veränderungen ausgespart, die durch die deutsche Vereinigung auf die Hochschullandschaft zugekommen sind. In den neuen Bundesländern ist wirklich Großes geleistet worden. Es hat nicht nur tiefgreifende strukturelle Veränderungen gegeben, sondern vor allem auch schmerzliche personelle Anpassungen. Dieser Prozeß ist noch keineswegs beendet. Ich weiß, daß keiner der Verantwortlichen um diese Aufgabe zu beneiden ist. Umsomehr will ich Dank sagen für die großen Anstrengungen, die auf diesem Gebiet unternommen worden sind. Auch für die vielen Gesten der Solidarität zwischen Ost und West. Hier gab es nicht nur Konkurrenz, sondern auch viele Beispiele sinnvoller Hilfe.

Die Anpassungsnotwendigkeiten sind mit der Angleichung der Hochschulsysteme in Ost- und Westdeutschland aber keineswegs erledigt. Im ganzen Land steht es uns noch bevor, uns auf die europäischen und weltweiten Herausforderungen einzustellen. Dazu möchte ich Sie ermuntern, und darüber sollten wir miteinander sprechen. Ich erwarte, daß die Hochschulangehörigen - Studenten und Professoren, vor allem natürlich die Rektoren - an der Spitze der Innovation stehen und nicht die Barrikadenverteidiger unserer Besitzstandswahrer sind! Wenn wir in Deutschland nicht auf die Position der "Graeculi" herabsinken wollen, müssen unsere Hochschulen neuen Glanz erhalten. Und Schönheit kommt bekanntlich von innen!

Ich freue mich auf unsere Diskussion!