Redner(in): Horst Köhler
Datum: 1. Juli 2004

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2004/07/20040701_Rede.html


Antrittsrede von Bundespräsident Horst Köhler am 1. Juli 2004 im Deutschen Bundestag Ich danke ganz herzlich für die freundlichen Worte und guten Wünsche. Darüber freue ich mich. Sie sind mir Ansporn und Ermutigung für mein Amt.

Ihnen, sehr verehrter Herr Bundespräsident Rau, ist gedankt und Sie sind gewürdigt worden. Ich erinnere mich gern an unsere Diskussion über die Globalisierung. Wir waren uns einig, dass die Globalisierung Chancen bietet, dass sie aber auch der politischen Gestaltung bedarf. Für Sie, lieber Herr Rau, ist es immer der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Würde, der im Zentrum Ihres Denkens und Handelns steht. Und es ist Ihr christlicher Glaube, der Ihr Menschenbild prägt. So haben Sie das Vertrauen der Menschen gewonnen. So waren Sie im besten Sinne ein Bürgerpräsident. So bleiben Sie uns Vorbild. Lieber Herr Rau, wir danken Ihnen heute dafür. Wir danken Ihnen für Ihren großen Dienst an unserem Land.

Sie sagten einmal: "Ohne meine Frau hätte ich dieses Amt nicht ausfüllen können." Ich bin überzeugt: Auch mir wird es nicht anders gehen.

Umso mehr, liebe Frau Rau, gebühren auch Ihnen heute Respekt und Anerkennung. Mit Ihrem zupackenden Einsatz vor allem für Kinder in Not und dabei besonders für Straßenkinder haben Sie Herzen geöffnet und gewonnen. Sie haben gezeigt: Not und Bedürftigkeit sind nicht anonym. Dahinter stehen Namen, Namen von Menschen, mit deren Schicksal man sich nicht abfinden darf. Sie haben viel Gutes getan, liebe Frau Rau. Danke dafür!

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zunächst von etwas berichten, was mich in dieser Form schon etwas verwundert hat. Seit dem 23. Mai, dem Tag der Bundesversammlung, werde ich immer wieder gefragt: "Was genau lieben Sie an Deutschland?" oder "Warum lieben Sie denn Deutschland?" Wenn ich dann auf die Landschaften, die Dialekte, die Literatur, die Musik verweise, sagen die Leute: "Na ja, das ist sicher richtig." Aber sie sagen auch: "Das allein kann es ja wohl nicht sein."

Und tatsächlich: Landschaft, Sprache, Musik - ist das wirklich alles? Zumal in einer Zeit, in der nicht wenige Menschen in Deutschland große Sorgen haben, in der unser Land unübersehbar in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist, in der sich neue Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft bemerkbar machen. Spaltungen, wie sie es in dieser Form vor zwei oder drei Jahrzehnten noch nicht gab.

Damit meine ich nicht allein Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Ich meine die Unterschiede, die mitten durch unsere Gemeinschaft gehen: Menschen, die Arbeit haben, und diejenigen, die ohne Aussicht auf Arbeit leben; Gutverdienende ohne Kinder und Familien mit Kindern oder Alleinerziehende ohne geregeltes Einkommen und Perspektive. Ich meine die dramatische Alterung der Bevölkerung mit drohenden Konflikten zwischen Alt und Jung. Und ich meine auch die Gefahr der Entwicklung von Parallelgesellschaften in unseren Städten, ausgelöst dadurch, dass die Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion nicht klappt.

Meine Damen und Herren, wahr ist aber auch: Die Schönheit unseres Landes, die Geschichte unseres Landes, die Probleme unseres Landes - das alles ist und bleibt Deutschland. Das ist unser Land, das ist unsere Heimat. Und wahr bleibt auch: Trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Krisen, die unser Land zurzeit durchläuft, geht es uns Deutschen weit besser als drei Vierteln der Menschheit.

Wissen wir eigentlich, was es heißt, von weniger als 2 Euro am Tag leben zu müssen - wie über 3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten?

Doch ich will diesem Argument auch keinen falschen Zungenschlag geben. Dass es anderen in der Welt schlechter geht, ist sicherlich kein Trost für diejenigen bei uns, die ihren Cent dreimal umdrehen müssen.

Dennoch: Unser Land sollte uns etwas wert sein. Trotz aller aktuellen Schwierigkeiten stehen das Grundgesetz und die soziale Marktwirtschaft für eine besonders glückliche und friedliche Phase unseres Landes; Bundespräsident Rau hat darauf hingewiesen. Ich selber bin Teil einer Generation, die die Geschichte der Bundesrepublik als einzigartige Erfolgsgeschichte miterlebt hat, von der Aussöhnung mit unseren Nachbarn über das Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung. All dies sind große historische Leistungen und gute Gründe, uns selbst zu vertrauen, uns etwas zuzutrauen. Es sind für mich gute Gründe, unser Land, unsere Heimat, zu lieben. Und deshalb frage ich: Kann es uns egal sein, ob unser Land wächst und gedeiht oder im globalen Wettbewerb weiter zurückfällt? Kann es uns egal sein, ob einer der Motoren Europas immer mehr ins Stottern gerät, wie manche sagen? Ich denke, nicht. Warum? Erstens, weil unsere Partner in Europa und in der Welt auf uns schauen und zu Recht viel von uns erwarten. Wir sind 80 Millionen Menschen im Herzen Europas und wir haben gar keine andere Wahl, als Verantwortung zu übernehmen. Deutschland muss ein Land sein, das Ideen zur politischen Gestaltung hat und zum Ausgleich fähig ist, das souverän ist und gleichzeitig weiß, dass es seine Partner dies- und jenseits des Atlantik braucht.

Vor wenigen Wochen wurden wir daran erinnert, dass andere Völker - im Besonderen die Vereinigten Staaten von Amerika - dafür gekämpft haben, dass wir Deutsche in Freiheit leben können. Das sollten wir nie vergessen.

Für mich ist Freiheit der wichtigste Wert, der Europa und Amerika dauerhaft verbindet, und ich sehe Amerika weiterhin als Hort der Freiheit. Es ist wahr: Die Amerikaner haben ihre Fehler gemacht, wir Europäer die unsrigen. Klar ist für mich aber auch: Niemandem kann an einem Zerrbild Amerikas in der Welt gelegen sein. Das schadet allen, die auf dieser Welt für Freiheit und Demokratie eintreten. Wir Deutsche sollten uns um eine gute Partnerschaft und einen neuen Dialog mit Amerika bemühen - selbstbewusst und auch fähig zur Kritik unter Freunden, mit denen uns gemeinsame Werte und Interessen verbinden.

Gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen - das trägt mehr und weiter als nur Dankbarkeit.

Viele Menschen unseres Landes leisten bereits jeden Tag in vorbildlicher Weise ihren Beitrag für Freiheit und internationale Stabilität. Ich möchte unseren Soldaten, der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem Technischen Hilfswerk, den karitativen Organisationen und den vielen Nichtregierungsorganisationen danken. Sie leisten in aller Welt einen großartigen Dienst und sind exzellente Botschafter für Deutschland.

Meine Damen und Herren, Deutschlands Schicksal entscheidet sich vor allem in Europa. Versöhnung und Zusammenarbeit in Europa haben uns Freiheit, Frieden und Wohlstand gesichert. Wer hätte vor 50 Jahren all dies zu glauben gewagt? Die Erweiterung der Europäischen Union und die Einigung der Staats- und Regierungschefs auf den Verfassungsvertrag sind weitere Meilensteine auf dem Weg zu einem vereinten Europa, einer Wertegemeinschaft. Deutschland sollte diesen Weg weiter mit Festigkeit und auch Geduld gehen.

Aber es muss uns nachdenklich stimmen, dass kaum mehr als vier von zehn Deutschen bei der diesjährigen Europawahl wählen gingen. Zu viele Bürger verstehen Europa offensichtlich nicht. Lassen Sie uns gemeinsam Europa besser erklären. Ich möchte als Bundespräsident dazu beitragen, das Gefühl der europäischen Identität zu stärken. Sie verdrängt die nationale Identität ja nicht. Transparenz, demokratische Entscheidungsprozesse und eine klare Zuordnung der Kompetenzen - das wird den Menschen das Gefühl nehmen, einer anonymen Bürokratie in Europa ausgeliefert zu sein, und daran wird die neue Verfassungswirklichkeit gemessen werden.

Die deutsch-französische Freundschaft ist in über vier Jahrzehnten von einer Vision zu gelebter Wirklichkeit geworden. Sie war entscheidend für die Einigung Europas. Eine neue historische Phase für Europa hat mit der Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 begonnen. Ich empfinde diese Phase gerade angesichts meiner eigenen Biographie als Auftrag und Verpflichtung.

Deshalb werde ich mich für persönliche Begegnungen Deutscher mit den Menschen in den neuen Mitgliedsländern einsetzen, insbesondere für Begegnungen zwischen jungen Menschen. Und deshalb wird mich meine erste Auslandsreise nach Polen und nach Frankreich führen.

Ich wünsche mir allerdings auch ein Europa, das die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorbildlich unterstützt, konkret durch weitere Öffnung der Märkte für die armen Länder und auch durch mehr öffentliche Entwicklungshilfe.

Bei meiner Arbeit für den Weltwährungsfonds habe ich Hunger und unermessliche Not gesehen, vor allem bei Frauen und Kindern. Doch ich habe auch gesehen, dass gezielte Entwicklungszusammenarbeit viel Gutes tun kann.

Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas. Ist es nicht eine Frage der Selbstachtung Europas, sich mit Blick auf unsere eigenen Fundamente, unsere Werte und Geschichte in Afrika ehrlich und großzügig zu engagieren?

Meine Damen und Herren, es gibt einen zweiten, noch wichtigeren Grund, warum wir uns nicht einfach mit dem derzeitigen Zustand unseres Landes abfinden sollten: Wir haben die Verantwortung, die schöpferischen Kräfte der Menschen zu wecken und zur Entfaltung kommen zu lassen. Aus ureigenem Interesse braucht Deutschland einen neuen Aufbruch. Wir müssen die Spaltungen in unserer Gesellschaft überwinden. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir ihre Ursachen bekämpfen und nicht nur Symptome beschreiben, und wenn wir unser Land so sehen, wie es ist. Wir haben Stärken, aber wir haben auch Schwächen. Es kommt darauf an, die Stärken zu bewahren und auszubauen. Aus den Schwächen gilt es zu lernen. Ich bin sicher, wir haben alle notwendigen Talente. Was uns fehlt, sind die richtigen Rahmenbedingungen, das richtige Klima, damit sich diese Talente entfalten können. Wir sollten uns nicht selber einreden, wir könnten das nicht packen.

Bundespräsident Roman Herzog hat schon 1997 gesagt: "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen." Er hatte Recht. Nur haben wir seitdem viel Zeit verloren. Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin? Weil wir alle immer noch zu sehr darauf warten, dass er passiert.

Was braucht man für einen Ruck? Nun, man braucht vor allen Dingen Ideen, die verwirklicht werden. Jeder Einzelne hat Ideen, Sie und ich. Aber wir kämpfen nicht genug um ihre Verwirklichung. Wir alle warten.

Das gilt auch für die Parteien. Die Agenda 2010 weist in die richtige Richtung.

Was wir jetzt brauchen, ist Konsequenz und Stetigkeit bei der Fortsetzung dieses Weges.

Deshalb sage ich der Mehrheit im Bundestag und der Mehrheit im Bundesrat: Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten.

Wir brauchen den Mut der Bundesregierung zu Initiativen, die den Weg der Erneuerung konsequent fortschreiben, und wir brauchen den Mut der Opposition, ihre Alternativen umfassend und vollständig klar zu machen.

Wir brauchen noch etwas: die Fähigkeit zu konstruktiven Kompromissen. Die Einigung über das Zuwanderungsgesetz und das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zur Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zeigen, dass Deutschland in Bewegung kommt. Ich begrüße das.

Auch die überparteiliche Diskussion zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung - Herr Bundesratspräsident Althaus hat darauf hingewiesen - macht mich zuversichtlich. Derzeit erfordern zu viele Gesetze des Bundestages die Zustimmung des Bundesrates.

Das Ergebnis sind Kompromisse, hinter denen die Menschen nicht mehr erkennen können, wer wofür verantwortlich ist.

Ich wünsche mir, dass die Politik die Kraft findet, ihre Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Gemeinden klar zu trennen und zu ordnen und Wettbewerb für die bessere Politik zu ermöglichen.

Nicht zuletzt wünsche ich mir mehr politischen Spielraum für die Verwirklichung von Ideen auf kommunaler Ebene; denn dort droht uns einiges wegzubrechen.

Wenn wir in diesen Fragen weiterkommen, ist für die Reformfähigkeit unseres Landes viel gewonnen.

Meine Damen und Herren, wenn wir wissen, wo wir hinwollen, ist auch ein mühsamer Weg erträglich. Überall wird gesagt, dass wir Reformen brauchen. Ich selbst habe das auch gesagt. Viele Menschen können das Wort Reform aber schon nicht mehr hören. Es ist uns offensichtlich nicht gelungen, das Ziel der Reformen zu erklären. Dieses Ziel zu erklären ist unsere Verpflichtung.

Was ist denn unser Ziel? Nun, ich sage es ganz einfach: Wir wollen aus Deutschland wieder ein erfolgreiches Land machen, ein Land, in dem Menschen gerne leben, vor allen Dingen ein Land, in dem Menschen Arbeit finden und ihre Ideen entfalten können, ein zuversichtliches Land, ein zupackendes Land, ein Land der Ideen. Das sollten wir erreichen und das können wir erreichen.

Unsere deutsche Geschichte ist gespickt mit ideenreichen Köpfen. Genau heute, am 1. Juli, vor 358 Jahren wurde Gottfried Wilhelm Leibniz geboren. Dieser Universalgelehrte dachte nicht nur über die mittlerweile sprichwörtliche "beste aller Welten" nach, sondern hatte dafür auch ganz praktische Ideen, zum Beispiel die Nutzung des Windes zur Grubenentwässerung im Harzbergbau.

Das ist Ihnen nicht zukunftsträchtig genug?

Leibniz hat auch, unabhängig von Newton, die Differenzialrechnung erfunden und das binäre Zahlensystem mit den Ziffern 1 und 0 eingeführt, auf dem die moderne Computertechnik fußt - vor über 300 Jahren.

Ideen müssen aber zu Taten werden. Sie müssen es werden können. Warum sind wir dennoch in den letzten Jahrzehnten bei Ideen und Innovationen zurückgefallen? Es gibt unzählige Beispiele dafür, wo Ideen in Deutschland entstanden sind, die Arbeitsplätze aber anderswo, zum Beispiel die braunsche Röhre, Konrad Zuses erster Computer oder - ganz aktuell - die MP3 -Technik. Ich erkläre jedem nach der Sitzung, was MP3 -Technik ist.

Das ist etwas ganz Modernes. - Diese Dinge wurden bei uns erfunden. Aber weiterentwickelt und wirtschaftlich ausgewertet wurden sie vor allen Dingen anderswo. Ähnliches droht derzeit bei der Nano- und Biotechnologie zu passieren. Hier müssen wir etwas ändern, damit wir nicht zum Brachland der Ideen werden.

Von der Globalisierung hat Deutschland als Exportnation gerade in den letzten 50 Jahren profitiert wie kaum ein anderes Land der Welt. Wahr ist aber auch, dass uns aktuell immer mehr Länder überholen. Heute heißt es eben in der ganzen Welt mit Respekt zunehmend "Made in China" oder "Made in Malaysia". Unsere Antwort kann nicht Abschottung sein, sondern nur die kreativeren Ideen "Made in Germany".

An diesem Punkt gibt es für uns Deutsche sogar eine gute Nachricht von der Fußballeuropameisterschaft.

Der offizielle Ball der EM wird zwar in Asien produziert. Sein aufwendiges Know-how, also der darin enthaltene Wissensanteil, stammt aber aus Deutschland und sichert bei uns Arbeitsplätze. Anders als sein bleischweres, vom Regen voll gesogenes Vorgängermodell beim "Wunder von Bern" 1954 hat der EM-Ball 2004 eine nahtlose Oberfläche; das ist eine Spitzenleistung deutscher Materialforschung.

Das zeigt: Vor allem mit Innovationen und Wissensvorsprung können wir einen Weg finden, auch in der Globalisierung Arbeitsplätze bei uns zu sichern. Dazu gehört noch mehr, aber das ist ein wichtiger Teil. Es gibt heute noch unternehmerische Erfolgsgeschichten in Deutschland, zum Beispiel bei der Softwareentwicklung oder im Maschinenbau. Hier gibt es auch deutsche Technologie- und Weltmarktführer. Aber wir haben zu wenige solcher Unternehmen. Wir brauchen mehr davon.

Auch im sozialen Bereich brauchen wir noch mehr Ideen, Ideen wie die der Berliner Stadtmission. Diese hat vor fünf Jahren gemeinsam mit privaten Spendern und Firmen das "Zentrum Lehrter Straße" gegründet. Eine Anlaufstation für Wohnungslose und Strafgefangene ist dort entstanden, ein Jugendgästehaus und gesellschaftliches Forum zugleich. Ohne auf den Staat zu warten, haben sich hier Bürger zusammengeschlossen, um anderen Bürgern in Not tatkräftig zu helfen. Sie waren mutig, kreativ, risikobereit. Sie haben nicht gewartet. Solche Beispiele gibt es noch mehr in Deutschland und wir brauchen auch noch mehr. Auch das sind Ideen "Made in Germany"; auch das lässt mich hoffen und macht mich zuversichtlich.

Warum tun wir uns aber momentan noch so schwer mit der Erneuerung? Von all den vielen möglichen Antworten möchte ich zwei herausgreifen: Zum einen klammern wir uns schlicht zu sehr an dem fest, was wir haben. Zum anderen leben wir zu sehr in der Angst zu scheitern.

Der Sozialstaat ist für mich eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die wir stolz sein können.

Aber der Sozialstaat heutiger Prägung in Deutschland hat sich übernommen. Das ist bitter, aber wahr.

Wir haben es vor allen Dingen nicht geschafft, den Sozialstaat rechtzeitig auf die Bedingungen einer alternden Gesellschaft und einer veränderten Arbeitswelt einzustellen. Weitere Staatsverschuldung ist auch kein Ausweg, weil die hohen Schulden schon jetzt die Zukunft unserer Kinder belasten.

Wir brauchen einen Mentalitätswandel in unserem Land, eine neue Balance von Eigenverantwortung und kollektiver Absicherung. Wir müssen auch die Sozialpolitik nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit gestalten, also bei allen Entscheidungen, allen Gesetzesvorhaben immer auch die Auswirkungen auf zukünftige Generationen, unsere Kinder, berücksichtigen. Das haben wir zu lange vernachlässigt.

Uns allen muss dabei bewusst sein: Der Umbau des Sozialstaates verlangt schon jetzt vielen Menschen in Deutschland vieles ab. Es gibt soziale Härten, weil Einschnitte Menschen treffen, die ohnehin nicht viel haben. Ich weiß das und wir alle sollten das wissen. Niemand kann seriös bereits nach kurzer Zeit neue Verteilungsspielräume versprechen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass alle Verantwortung tragen und Opfer bringen, und zwar entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.

Wir brauchen eine "Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land", wie es die deutschen katholischen Bischöfe formuliert haben. Wohlweislich: Entwicklung, nicht Abriss oder Abbau, Entwicklung als Umbau.

Dazu brauchen wir auch die Kraft, Lagerdenken in unserer Gesellschaft zu überwinden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft - wir sitzen alle in einem Boot. Jeder kann Verantwortung für das Wohl des Landes übernehmen. Jeder kann Vorbild sein, zum Beispiel der Krankenpfleger, die Lehrerin, der Jugendtrainer im Sportverein, die Journalistin, der Unternehmer. Die meisten Unternehmer in Deutschland leisten Vorbildliches in schwieriger Zeit. Diesen Unternehmern ist klar, dass gerade in der Wissensgesellschaft motivierte und leistungsbereite Mitarbeiter das größte Kapital eines Unternehmens sind. Ich wünsche mir, dass Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft gerade in dieser schwierigen Zeit in Deutschland eine Kultur der Verantwortung und der Mäßigung vorleben.

Ein zweiter Grund, warum wir uns in Deutschland mit der Erneuerung so schwer tun, ist - ich habe das bereits erwähnt - die Angst zu scheitern. Rückschläge und Irrtümer sind aber Teil des menschlichen Tuns. Wichtig ist, sich nicht aufzugeben, immer wieder Neues anzufangen und sich nicht hängen zu lassen. Denken Sie an die Leipziger Olympiabewerbung! Ich möchte die Probleme und Fehler Einzelner dabei nicht herunterspielen. Dennoch: In Leipzig wurde Neues, Großartiges angepackt. Leipzig wagte es, mit Städten wie New York, London oder Paris in Wettbewerb zu treten. Es hat am Ende nicht gereicht. Aber ich bin mir ganz sicher: Die Erfahrung wird die Leipziger und übrigens auch die Rostocker stärker machen.

Menschen mit Mut, Ideen und Verantwortungsbewusstsein fallen nicht vom Himmel. Sie werden geprägt: in der Familie, in der Schule, im Wohnviertel. Deshalb sind Bildung und Erziehung der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Bildung und Erziehung - das bedeutet, Kreativität zu fördern, Ideen zu wecken und Werte zu vermitteln. Das gelingt nur denen, die Vorbilder schaffen und Ideale selbst vorleben und an denen sich junge Menschen orientieren oder auch reiben können. Hier haben wir aus meiner Sicht möglicherweise den größten Handlungsbedarf. Bildung heißt, in Herzen und in Köpfe zu investieren. Wir brauchen ein Bildungswesen, das Leistung fördert, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist.

Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft entwickelt sich eine Renaissance der Familie. Das spüre ich und das gibt mir Zuversicht. Diese Entwicklung muss gestärkt und gefördert werden. Über Familie und Kinder habe ich vor kurzem einen bemerkenswerten Satz gelesen: Kinder sind die einzig unkündbare Beziehung.

Deshalb kommt es darauf an, dass sich die Eltern wieder ihres Erziehungsauftrags bewusst werden. Das heißt vor allem: Sie müssen Vorbild sein. Wir wissen: Vater und Mutter zu sein ist einer der schwierigsten Berufe, zumal heute, in einer Zeit, in der junge Menschen um Arbeitsplätze und soziale Anerkennung ganz anders kämpfen müssen als meine Generation: Sie haben es heute schwerer.

Bildung und Familie müssen auch deshalb zusammen und neu gedacht werden, weil uns die rapide Alterung unserer Gesellschaft vor gewaltige Probleme stellt. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft. Daher ist es so wichtig, dass Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder wird.

Deutschland muss zu einem Land werden, in dem wir es nicht zulassen, dass Kinder verwahrlosen können, in dem es kein Schild mit der Aufschrift "Spielen verboten" mehr gibt und in dem Kinderlärm kein Grund für Gerichtsurteile ist.

Dabei sollte klar sein: Kinder sind nicht allein Frauensache, sondern Elternsache.

Die Mehrheit der jungen Menschen wünscht sich die Vereinbarkeit von Kind und Beruf. Aber da ist noch ein weiterer, sehr wichtiger Punkt: Wir müssen zu einem Land werden, in dem die Gleichberechtigung von Frau und Mann selbstverständlich ist.

Und das gilt nicht zuletzt für Führungspositionen von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland gehört hier zu den Entwicklungsländern. Das kann ich Ihnen aufgrund meiner internationalen Erfahrung berichten.

Wir Männer müssen uns klar machen: Es geht dabei nicht einmal so sehr um das Thema Kinder und Familien. Es geht vielmehr um die Kreativität und die Kompetenz der Frauen. Wir brauchen sie dringend.

Wir müssen die Kraft haben, Familiengründungen auch parallel zu Ausbildung, Berufstätigkeit und Aufbau einer Existenz möglich zu machen. Ich appelliere an Politik und Wirtschaft, an Verbände und Verwaltung, vor allen Dingen an die Selbstverwaltungseinrichtungen: Schaffen Sie schneller bessere Bedingungen! Helfen Sie mit, dass Frauen und Männer die Entscheidung für eine berufliche Karriere frei treffen können, ohne sich deshalb gegen Kinder entscheiden zu müssen!

Wir brauchen mehr Kindertagesstätten und bessere Arbeitszeitmodelle, die es möglich machen, Beruf und Zuhause zu verbinden.

Gleichzeitig ist es mir ganz wichtig, zu sagen: Auch die Mütter, die sich zu Hause für ihre Familien engagieren wollen, sollten in unserer Gesellschaft stärker Anerkennung finden, sichtbar und handfest.

Einen besonderen Appell möchte ich an die jungen Menschen in Deutschland richten. Das 21. Jahrhundert ist euer, ist Ihr Jahrhundert! Bei der Erneuerung Deutschlands geht es vor allem um Ihre Zukunft, um die der jungen Menschen. Es geht um Ihre Ideen, Ihren Einsatz. Sie haben so viel Freiheit, so viele Chancen! Nehmen Sie das 21. Jahrhundert in die Hand! Und - auch das ist ganz wichtig - verwerfen Sie nicht die Erfahrung der Alten. Sie ist wertvoll und hilfreich. Natürlich, meine Damen und Herren: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Aber auch hier gibt es eine gute Nachricht: Für Ideen und Engagement ist man nie zu alt.

Das ist mein Appell an die Älteren: Gehen Sie auf die Jungen zu! Sie werden gebraucht! Die neue Gemeinschaft zwischen Alt und Jung ist eine große Chance für uns und unser Land der Ideen im 21. Jahrhundert.

Ja, meine Damen und Herren, wir müssen diesen Umbruch bei uns und in der Welt als Chance begreifen und nutzen. Wir haben in der Vergangenheit in Deutschland erfahren, dass die Kraft der streitigen Debatte, die Kraft zur Überwindung von Gegensätzen und die Kraft der Freiheit zu Gutem geführt haben: Westbindung, Wirtschaftswunder, auch die 68er mit ihren Impulsen und Auswüchsen, die deutsche Einheit, die europäische Einigung.

Trotz vieler, oftmals bitterer Auseinandersetzungen haben wir Brücken gebaut, Gegensätze überwunden, Lösungen gefunden. Mut zur Zukunft sollte uns nicht zuletzt die Erinnerung daran machen, was vor 15 Jahren in Deutschland geschah: Den Menschen in Ostdeutschland gelang eine friedliche Revolution. Ihr Mut und ihre Veränderungserfahrung sind wertvoll für uns alle.

Wir sind jetzt alseinVolk gefordert.

Meine Damen und Herren, ich weiß, dass ich hier und heute nicht alles und alle Gruppen in unserem Land angesprochen habe. Ich mache mir keine Illusionen, dass einige, die sich nicht wiederfinden, enttäuscht sein werden. Besonders denen möchte ich sagen, aber nicht drohen: Mit der heutigen Rede ist ja nicht das letzte Wort gesprochen.

Dabei will ich zugleich einräumen: Niemand hat auf die vielen offenen Fragen in dieser Zeit bereits alle Antworten. Wir müssen mit Offenheit leben. Wichtig ist, dass wir als Individuen und als Gesellschaft dialog- und lernfähig bleiben.

Meinen Amtseid verstehe ich als Verpflichtung, zur Erneuerung Deutschlands beizutragen. Als Bundespräsident werde ich hinschauen, nachfragen, auch hinterfragen. Persönlicher Kompass ist mir dabei mein christliches Menschenbild und das Bewusstsein, dass menschliches Tun am Ende immer vorläufiges Tun ist. Ich bin Optimist.

Von Goethe stammt der Satz:

Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat.

Lassen Sie uns unsere Ideen und unsere Kräfte versuchen! Wir können in Deutschland vieles möglich machen. Dazu brauchen wir zugleich mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft. Ich bin sicher: Wir werden es schaffen. Ich glaube an dieses Land, weil ich an seine Menschen glaube.

Vielen Dank.