Redner(in): Horst Köhler
Datum: 8. Oktober 2004

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2004/10/20041008_Rede.html


Mein Thema ist, nach fünf Monaten eine Bilanz der EU-Erweiterung zu ziehen. Das erscheint mir etwas kühn. Ich glaube, man muss sich heute darauf beschränken oder auch konzentrieren, Trendrichtungen zu identifizieren. Und dabei ist es sehr wichtig, sich an die Ausgangslage zu erinnern.

Wo standen wir vor fünfzig Jahren, und wo standen wir am 1. Mai 2004, also dem Zeitpunkt der Erweiterung? Wer aus der Generation meiner Eltern hätte sich vorstellen können, dass Deutschland jetzt von Freunden umgeben ist? Dass es zwischen Deutschland und Frankreich eine dauerhafte Aussöhnung gibt? Dass gemeinsame Bemühungen um Wohlstand und um Sicherheit die frühere bittere Konfrontation ersetzt haben? Dass kriegerische Auseinandersetzungen zwischen europäischen Mächten auf dem Gebiet der Europäischen Union nicht mehr vorstellbar sind?

Und die Europäische Union ist in der Tat viel mehr als nur ein Wirtschaftszusammenschluss, als eine Art Freihandelszone. Das Ziel ist die Integration überall dort, wo es gemeinsam besser und erfolgreicher geht als alleine.

Uns war bis zum 1. Mai 2004 immer klar: Europa war nicht vollständig. Es atmete nur auf einer Lunge. Alte europäische Nationen waren gezwungen, außen vor zu bleiben. Immer waren daher in die europäische Vision die eingeschlossen, die jetzt beigetreten sind. Natürlich, und das ist sehr persönlich, freue ich mich, dass gerade Polen jetzt Mitglied dieser Europäischen Union ist.

Die Europäische Union wollte ihre Nachbarn aufnehmen, und die Nachbarn wollten zu uns. Wir freuen uns alle zu Recht am 3. Oktober über die deutsche Einheit und den Fall der Mauer 1989. Aber wir sollten nicht vergessen: Da war schon eine geraume Zeit etwas in Bewegung, vor allem in Polen, das uns - den Deutschen - half, die Einheit zu bekommen. Das war natürlich Lech Walesa seit Anfang der 80er Jahre und es war auch der Papst, der sich auch in der kritischen Phase der Vereinigung eindeutig und spontan zur deutschen Einheit bekannt hat.

Wir wollten die Erweiterung also aus guten Gründen und haben sie mit großer Freude am 1. Mai mit unseren neuen Partnern in der EU gefeiert. Mein Vorgänger, Bundespräsident Rau, konnte am Vorabend der Erweiterung im Sejm, dem polnischen Parlament, sprechen. Am Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen, und an der Oder gab es große Feste.

Es ist jetzt die wichtigste europäische Aufgabe, dass diese Erweiterung gelingt zum Nutzen aller. Sie wird neue Dynamik bringen, neue Ideen, Impulse zu Innovation und Modernisierung. Das wird uns allen gut tun, vor allem denen, die sich mit den notwendigen Reformen des Wirtschafts- und Sozialsystems bei uns in Deutschland schwer tun.

Der politische Schritt ist getan. Die Erweiterung jetzt zum Erfolg zu führen, ist freilich wohl ein längerer Prozess. Vor allem für die neuen Mitgliedsstaaten ist das eine große Herausforderung.

Niemand konnte erwarten, dass sich über Nacht, nach dem 1. Mai, die Verhältnisse beiderseits der alten Grenze der Europäischen Union schlagartig ändern. Festhalten kann man erfreulicherweise aber bereits jetzt: Die Unkenrufe über diese Erweiterung sind bereits weitgehend verstummt. Weder ist es zu einem Ansturm auf die polnische Erde noch zu einer Flut auf dem deutschen Arbeitsmarkt gekommen. Und auch manche Befürchtungen über einen Anstieg der Kriminalität haben sich als hinfällig erwiesen.

Das Zusammenwachsen von Ost und West führt sehr unterschiedliche historische Erfahrungen und stark divergierende Wirtschaftskraft zusammen. Es gibt auch Unterschiede in den Erwartungen: Das Gefühl der Sicherheit durch die europäische Einigung, ausgeprägt bei den Altmitgliedern, ist bei den neuen noch weniger entwickelt. Naturgemäß behalten damit die Vereinigten Staaten von Amerika als Sicherheitsgarant bei ihnen zusätzlich Gewicht. Hinzu kommt die Hoffnung auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufholprozess. Das hoffen natürlich auch die Altmitglieder - aber es muss den "Neuen" klar sein, dass dies vor allem von ihren eigenen Anstrengungen abhängt.

Neben den ökonomischen Anstrengungen brauchen wir den Willen und das Bewusstsein der Völker, zusammenzugehören. Und dafür müssen wir arbeiten. Das kommt nicht einfach, indem man die Füße ausstreckt. Vor Missstimmungen sind wir möglicherweise auch in der Zukunft nicht gefeit. In einem geeinten Europa sollten Missstimmungen, Irritationen zwischen den Partnern in der Europäischen Union aber doch leichter zu überwinden sein.

Doch über dem schwierigen Prozess des Zusammenwachsens darf uns die gemeinsame Vision von der Europäischen Union nicht verloren gehen. Wir müssen das Ziel der Vertiefung der Integration im Auge behalten. Wir Europäer, und zwar alle fünfundzwanzig, haben sonst unter den Bedingungen der Globalisierung schlechte Karten. Wie können wir uns als Wirtschaftsraum auf den Weltmärkten behaupten, wenn wir untereinander zerstritten sind? Und die Welt wartet nicht auf uns. Nur ein geeintes Europa kann die Handlungsspielräume zurückgewinnen, die die Nationalstaaten verloren haben.

Die gemeinsame Währung, der Euro, ist der stärkste Ausdruck der bisher erreichten Integration. Hinzutreten muss eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Entwicklungen politischer und wirtschaftlicher Art in jedem Winkel der Welt berühren jetzt unsere Interessen. Und nur gemeinsam können wir diese Interessen besser wahren.

In gemeinsamer, europäischer Außenpolitik sollten wir bereit sein, überall auf der Welt für das europäische Modell von Freiheit, menschlicher Würde, Demokratie und des Wirtschaftens in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung einzustehen. Ich glaube, dieses europäische Modell hat Zukunft. Und dafür wünsche ich mir, dass Europa in den Vereinten Nationen mit einer Stimme dieses europäische Modell vermittelt.

Es wäre allerdings grundlegend falsch, wenn sich Europa als Gegenmodell zu den Vereinigten Staaten von Amerika verstehen würde. Und ganz bestimmt geht es nicht um sicherheitspolitische Konkurrenz. Sie wäre gefährlich und töricht. Selbst wenn wir in gewissen Politikfragen einmal mit der US-Regierung unterschiedlicher Auffassung sind, und das darf sein, so verbinden uns doch gemeinsame Grundwerte. Europas politisches Gewicht muss deshalb im partnerschaftlichen Zusammenwirken mit der USA zur Geltung gebracht werden - kooperativ und nicht konfrontativ.

In der Vorbereitung auf die Erweiterung hat die Europäische Union mit dem Verfassungsvertrag nochmals eine Anstrengung unternommen, ihre Integrationsstrukturen anzupassen. Das ist weiß Gott notwendig. Mit diesem Verfassungsvertrag können wir einen neuen Stand der Integration erreichen. Auch weil in diesem Verfassungsvertrag vor allem ein klares Bekenntnis zu gemeinsamen Werten als Notwendigkeit erkannt wurde. Und ich nenne noch einmal diesen Wertekanon: das sind Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Ich habe das zitiert aus dem Entwurf des Verfassungsvertrages. Das ist ein schöner, ein guter Wertekatalog.

Gewiss: die Union war auch bisher selbstverständlich eine Wertegemeinschaft. Aber künftig soll jeder Bürger seine Rechte auch auf europäischer Ebene durchsetzen können. Das sollte ins Bewusstsein der Bürger Europas dringen und für mehr europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl sorgen. Die Politik sollte jetzt offensiver für den Verfassungsvertrag werben und seinen Inhalt erklären. Europa insgesamt muss den Bürgern viel besser und geduldig erklärt werden. Wir dürfen uns davor nicht drücken.

Europa hatte bisher immer Prozess- oder Projektcharakter. Jeder war sich klar: Man war noch nicht ans Ende gelangt. Weder inhaltlich noch geographisch. Stets wurde auf die nächste Regierungskonferenz verwiesen. Das war in Maastricht so, wo ich selber dabei war, und erst recht in Nizza. Der jetzt diskutierte Verfassungsvertrag besitzt keine solche Klausel mehr. Er setzt einen vorläufigen Endpunkt zumindest für absehbare Zeit.

Das bedeutet nicht, dass Fortentwicklungen ausgeschlossen werden. Aber wir müssen wissen, dass auch die Konsolidierung nach innen uns noch viel Arbeit abverlangen wird, von den alten wie von den neuen Mitgliedern.

Die Europäische Kommission hat in dieser Woche ihre Empfehlung über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgegeben. Der Bericht zeigt Fortschritte und Defizite der Entwicklung in der Türkei auf. Deshalb ist es folgerichtig, dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden sollen. Wir müssen die Gewissheit haben, dass das Erreichte durch weitere Schritte nicht in Frage gestellt wird.

Die alten Mitgliedstaaten werden den neuen bei ihrem Anpassungsprozess helfen. Das ist immer schon Politik der Europäischen Union gewesen, und das liegt auch im Interesse aller. Jeder erfolgreiche Impuls in einem neuen Mitgliedsstaat nützt der gesamten Union. Solidarität wird es also weiterhin geben und geben müssen. Und es wird natürlich Umschichtungen in der Förderung zugunsten der neuen Mitglieder geben.

Aber Unterstützungsleistungen anderer Länder, nicht zuletzt Deutschlands - und dieser Beitrag ist enorm - , sind ein Mittel zur Integration, nicht das Ziel selbst. Dabei gilt auch: die Leistungsfähigkeit der Geberländer hat ihre Grenzen.

Wenn Mittel zu den bedürftigeren Mitgliedern fließen, müssen sich andere mit weniger bescheiden. Das stellt auch eine Region wie Passau sicherlich vor Probleme. Deshalb ist es gut, dass die Bayerische Staatsregierung ein Ertüchtigungsprogramm Ostbayern beschlossen hat und es anbietet. Und ich denke auch, dass die zweite Komponente dieses Programms - noch mehr zu tun für Innovation - die richtige Antwort ist auf diese Entwicklung. Und es ist auch gut, dass es durch Brüssel eine Regionalförderung über 2006 hinaus gegeben wird.

Passau, dieser alte Knotenpunkt für Handel und Verkehr, hat jahrzehntelang erfahren müssen, was es bedeutet, buchstäblich im Eck zu liegen. Jetzt ist diese Region wieder im Zentrum Europas, wo sie hingehört. Das allein ist nach meiner Auffassung eine Riesenchance und eine gewaltige Verbesserung für die Region.

Jetzt setzen sich deutsche, österreichische, tschechische und polnische Bürgermeister an den Grenzen, Landräte, Bezirkshauptleute zusammen und beraten zum Nutzen aller zum Beispiel über Infrastruktur, Verkehr und Versorgung.

Menschen treffen sich vor allen Dingen in den Grenzregionen. Und von den Grenzregionen geht vermutlich der beste Impuls für das Zusammenwachsen unserer Länder aus, hier entscheidet sich wesentlich die Zukunft des künftigen Verhältnisses der Mitglieder in der Europäischen Union.

Jean Monnet sagte, dass man mit der Kultur beginnen muss. Das ist ein ganz wichtiger Satz, dass die Kultur das Bindeglied der europäischen Identität bleibt. Jean Monnet sagte also, Europa muss mit der Kultur beginnen, und ich sage, es muss bei der Kultur bleiben. Dafür gibt es in Passau großartige Beispiele, und eins davon ist "Menschen in Europa". Die Veranstaltungsreihe dieses Hauses nenne ich zuerst. In Passau gibt es aber auch seit 1952 die Festspiele Europäische Wochen. Heute können sie dem grenzüberschreitenden Anspruch in ihrem Namen gerecht werden: Künstler aus ganz Europa und auch darüber hinaus präsentieren sich in Ostbayern, Böhmen und Oberösterreich. Auch das weist in eine Zukunft enger Nachbarschaft und strahlt aus.

Um alles auf einen Nenner zu bringen: Europa hat Zukunft. Wir Deutsche können diese Zukunft in unserem eigenen Interesse mitgestalten in Europa. Und ich bin sicher, Bayern wird und soll sich dabei nicht verstecken.