Redner(in): Horst Köhler
Datum: 12. Januar 2005
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/01/20050112_Rede.html
Dieser Neujahrsempfang ist anders als andere in der Vergangenheit. Uns allen gehen die erschütternden Bilder der Flutkatastrophe nicht aus dem Sinn, die Tod, Leid und Zerstörung über die Menschen in Südasien gebracht hat. Unvorstellbar viele Menschen haben das Leben verloren. Ganze Regionen wurden verwüstet. Millionen von Menschen stehen vor dem Nichts. Die ungeheure Gewalt der Natur hat uns unvorbereitet getroffen. Ganz unmittelbar haben wir erfahren, dass der Mensch nicht Herr aller Dinge und dass Respekt vor der Natur notwendig ist.
Die Katastrophe vereint die Bewohner der Region mit ihren Gästen. Unter den Toten sind auch viele Deutsche und viele Bürger unserer Nachbarn in Europa. Ich danke allen Botschaftern, die mir heute ihr Mitgefühl ausgedrückt haben.
Wir trauen um die Opfer weltweit, und wir fühlen mit den Menschen, die Angehörige verloren haben oder weiter um sie bangen, weil ihr Schicksal noch immer ungewiss ist. Ich bitte Sie um eine Minute stillen Gedenkens.
Ich danke Ihnen.
Diese Katastrophe zeigt, dass wir ineinerWelt leben, und in der ganzen Welt rücken die Menschen zusammen.
Ich freue mich sehr, dass auch die Menschen in Deutschland so empfinden. Die Bereitschaft zu helfen, die sich in der Spendenbereitschaft unserer Mitbürger und der Menschen weltweit manifestiert, ist beispiellos. Sie kann uns allen Mut machen. Unsere Bürger wissen, dass sie die Menschen in Asien nicht allein lassen können. Sie wissen, dass wir als Bewohner des Planeten Erde wechselseitig aufeinander angewiesen sind.
Auch die Politik muss entschlossen und gemeinsam handeln, und ich glaube, sie tut es. Nur die Weltgemeinschaft zusammen kann die richtigen Lehren aus dieser Katastrophe ziehen. Deutschland ist bereit, sich aus tief empfundener Solidarität hierbei einzubringen.
Zunächst geht es darum, humanitäre Hilfe zu leisten, Leben zu retten, Leid zu lindern und den Opfern unbürokratisch zu helfen. Mittelfristig steht der Wiederaufbau im Vordergrund. Langfristig werden wir durch diese Katastrophe aufgerüttelt, grundsätzlich über unsere Entwicklungszusammenarbeit nachzudenken.
Die Staatengemeinschaft wird in diesem Jahr überprüfen, wie weit wir bei der Umsetzung der Millenniumsziele aus dem Jahr 2000 gekommen sind. Bei allen Fortschritten, die es auch gibt, sind Defizite schon jetzt nicht zu übersehen. Ich wünsche mir, dass die Solidarität, die wir heute empfinden, in ein neues Bewusstsein mündet für die große Bedeutung, die die Bekämpfung der weltweiten Armut für uns alle hat. Wann - wenn nicht jetzt - werden wir die Kraft finden, uns von alten Mustern und Fehlern zu trennen? Wann - wenn nicht jetzt - beginnen wir, unser Handeln auch als Weltinnenpolitik zu verstehen? Ja, wir müssen helfen. Aber nicht nur jetzt, sondern langfristig und nachhaltig.
Das Jahr 2005 kann trotz der furchtbaren Katastrophe ein gutes Jahr werden, wenn wir die Überwindung dieser Jahrhundertkatastrophe als einen Auftakt begreifen, um die von allen Staats- und Regierungschefs unterschriebenen Millenniumsziele der Vereinten Nationen zu verwirklichen.
Über das Grauen dieser Katastrophe dürfen wir insbesondere auch die Not und die Armut in Afrika nicht aus den Augen verlieren. Meine erste längere Auslandsreise hat mich im Dezember nach Sierra Leone, Benin, Äthiopien und Dschibuti geführt. Ich habe dort viel Ermutigendes erlebt und gesehen. Das Bewusstsein dafür, dass die Länder Afrikas ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen müssen, dass Rechtsstaatlichkeit und funktionierende Institutionen Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung sind, ist sehr viel größer geworden. Das Engagement zivilgesellschaftlicher Gruppen, vor allem der Frauen, hat mich in meiner Überzeugung bekräftigt, dass sich Afrika positiv entwickelt. Afrika muss seinen gerechten Platz in der Welt finden - als ein Partner unter Partnern, die wechselseitig von einander abhängen und sich gegenseitig ergänzen und bereichern.
Vor dem Hintergrund der Existenznöte der Menschen am Indischen Ozean, in Afrika oder auch in Teilen Lateinamerikas wird jedem klar, wie gut Europa dasteht. Mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsstaaten in die Europäische Union hat Europa endgültig seine Teilung überwunden. Das ist ein historisches Ereignis, über das gerade wir Deutschen uns sehr freuen.
Wir sollten jetzt alle zu Gunsten der zügigen Ratifikation des Vertrages für eine europäische Verfassung arbeiten. Und ich werde mich auch persönlich dafür einsetzen, dass vor allem über die Begegnungen zwischen den Menschen das Bewusstsein über eine europäische Identität wachsen kann.
Wie Sie beobachten können, kommt auch Deutschland in Bewegung. Wichtige Veränderungen sind auf den Weg gebracht worden und zugleich wissen wir: Weitere Reformen zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, der sozialen Sicherungssysteme und des Bildungswesens sind notwendig.
Die Menschen in Deutschland haben in diesen Tagen großartige Solidarität bewiesen und viele überrascht, die das so nicht für möglich gehalten hätten. Ich habe insgesamt keinen Zweifel, dass wir auch die notwendigen Veränderungen im eigenen Land schaffen werden. Deshalb möchte ich fast Ihnen versprechen: Deutschland wird Ihnen, meine Damen und Herren, weiterhin ein verlässlicher und leistungsfähiger Partner bleiben.
Ich danke Ihnen für die gute Zusammenarbeit im vergangenen Jahr und freue mich auf ihre Fortsetzung. Ich hoffe, dass Sie sich in Deutschland wohl fühlen. Für das gerade begonnene Jahr wünsche ich Ihnen und Ihren FamilienFrieden, Glück und Gottes Segen.