Redner(in): Roman Herzog
Datum: 9. Oktober 1996

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/10/19961009_Rede.html


Ich freue mich, auch einmal vor renommierten Experten der Kulturpolitik reden zu dürfen. Nur bin ich nicht ganz sicher, ob ich diesen Fachleuten genügend Stoff für die anschließende Diskussion bieten kann. Ich nehme auch an, daß Sie selbst genügend Themen haben, zu denen ich Sie nicht erst anregen muß. Schlimmstenfalls müssen Sie das Mittagessen vorziehen, um den Kulturdialog gewissermaßen mit anderen Mitteln fortzusetzen.

Kultur lebt vom Dialog. Dieser Dialog ist vielleicht nicht ganz so alt wie die Welt, aber er hat gleichzeitig mit der Geschichte der Zivilisation begonnen. Kultur ist nämlich keine Einzelkämpferdisziplin, sondern sie beruht darauf, daß Überlieferungen auch wirklich überliefert werden und daß ein Austausch zwischen den Kulturen stattfindet, damit das Rad der Zivilisation nicht ständig neu erfunden werden muß. Das ist nicht nur eine Frage der Arbeitsteilung und somit des ökonomischen Mitteleinsatzes. Es ist vor allem eine Frage der Bereitschaft, voneinander zu lernen. Kulturen reagieren ständig aufeinander. Das hält sie lebendig und bewahrt sie vor musealer Erstarrung.

All das ist nicht neu. Das weiß ich natürlich auch. Neu ist aber, daß wir uns heute, nach der Zeitenwende von 1989, dem Dialog verstärkt stellen müssen. Der Kalte Krieg ist Geschichte geworden, aber die Faszination der Szenarien großer weltumspannender Konfrontationen hat sich damit offenbar nicht erledigt. Man verlagert sie neuerdings in den Bereich der Kultur. An die Stelle der kalten Krieger treten jetzt scheinbar die Kulturkämpfer. Das Problem mit solchen Szenarien ist, daß sie leicht zur sich selbsterfüllenden Prophezeihung werden können. Für uns gewinnt der Kulturdialog gerade deshalb fast die Qualität eines sicherheitspolitischen Imperativs. Ihm kommt eine ähnliche friedenssichernde Rolle zu wie vor dem Ende des Kalten Krieges den Bestrebungen nach der Rüstungskontrolle. Wenn wir nicht zwischen den Kulturen mehr Verbindungen schaffen, dann könnte es wirklich zu der befürchteten Konfrontation kommen.

Sich diesem Dialog stellen, heißt nicht offensiver, sondern offener zu werden. Wir müssen mehr zuhören, weniger belehren wollen und den anderen zu verstehen versuchen. Die Welt rückt enger zusammen, und selbst wenn sich das Kulturkampf-Szenario nicht erfüllt, müssen wir in dieser kleiner werdenen Welt damit rechnen, daß Inspirationen der einen Kultur sich zugleich häufig als Irritationen einer anderen Kultur auswirken. Mit den weiten Räumen der alten Welt und den langen Kommunikationswegen von früher sind auch manche Ventile und manche Abfederungen, manches, was die Grenzen erträglicher gemacht hat, entfallen. Größere Nähe bedeutet also nicht automatisch größere Stabilität. Deshalb muß mit der größeren Nähe auch das Wissen vom anderen und damit das Vertrauen zum anderen wachsen. Ohne gegenseitiges Vertrauen sind Konflikte vorgezeichnet, die sonst tatsächlich im Zusammenprall der Kulturen gipfeln können.

Es gibt, so meine ich, keinen breiteren Weg zum gegenseitigen Vertrauen als den, der über die Kultur führt. Kultur schließt ja nicht nur die Kunst mit ein, sondern auch das Bildungswesen, die gesellschaftlichen Gewohnheiten, die Verhaltensweisen, Weltanschauungen, die Lebensformen, ja sogar Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Der Kulturdialog ist deshalb wohl die umfassendste vertrauensbildende Maßnahme, die man sich denken kann. Er begründet das, was manche als kulturelle Außenpolitik oder meinetwegen auch als auswärtige Kulturpolitik bezeichnen, nämlich eine Politik, die darauf abzielt, Vertrauen durch Vermittlung des Wissens voneinander und des Respekts voreinander zu schaffen.

Kulturelle Außenpolitik in diesem Sinne schließt natürlich die traditionelle auswärtige Kulturpolitik ein. Aber sie ist wesentlich mehr. Sie merken schon, ich operiere hier auf der Basis des sogenannten erweiterten Kulturbegriffs, der ja eigentlich ein weißer Schimmel ist. Vielleicht sollte man besser vom verengten Kulturbegriff reden, wenn man etwa nur die Kunst als Kulturphänomen im Auge hätte.

Die Mittel der klassischen Diplomatie haben sich dabei keineswegs überlebt. Man kann aber auch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß die Diplomatie heute kein Kontaktmonopol zu Vertretern und Angehörigen ausländischer Staaten mehr hat. Täglich finden unzählige Begegnungen auf allen Ebenen statt, an denen kein Berufsdiplomat teilnimmt. Techniker, Wissenschaftler, Unternehmer, Künstler, Publizisten, Journalisten, ja sogar Touristen prägen das Bild unseres Landes in der ganzen Welt. Ein Netzwerk von Kontakten ist da aufgespannt, das entscheidend zur Vertrauensbildung im Ausland beiträgt - oder zumindest beitragen sollte.

Unternehmer und Manager, die im Ausland auftreten, repräsentieren nicht nur das Interesse ihres Unternehmens und ihrer Kapitaleigner, sondern sie werden ganz allgemein als Vertreter ihres Landes angesehen. Sie profitieren gelegentlich auch, ohne daß sie das ausdrücklich zum Thema machen müßten, vom immer noch bestehenden guten Ruf deutscher Produkte und deutscher Kultur im allerweitesten Sinne. Zahlungsmoral etwa ist ebenso eine Frage der Kultur, wie es Verläßlichkeit und Innovationsbereitschaft sind. Auch in bezug auf unsere Entwicklungspolitik würdigt man das, denn man weiß: Die Deutschen halten, was sie versprechen.

Die Vertrautheit mit unserer Kultur hat für ausländische Geschäftspartner oft fast denselben Effekt wie eine persönliche Empfehlung oder eine persönliche Bürgschaft. Ganz am Rande: Man traut deutschen Wirtschaftsvertretern übrigens auch deshalb Qualität und pünktliche Vertragserfüllung zu, weil man weiß, daß Deutschland mit seiner sozialen Marktwirtschaft soziale Interessengegensätze immer noch auf dem Verhandlungsweg ausgleichen kann. Deshalb sind auch Wirtschaft, Politik und Kultur gleich wichtige Faktoren für die Kaufentscheidung, und das nicht nur bei Großprojekten. Die Kultur eines Landes ist also kein bloßer Zierat, sondern sie begründet das, was man im Englischen "good will" nennt. Jeder Unternehmer weiß, was es heißt, wenn ein Betrieb seinen guten Ruf verliert. Im Bankgeschäft spricht man in diesem Zusammenhang von der Bonität eines Kunden. Die hat interessanterweise mit dessen Kontostand nur bedingt zu tun. Die Bonität ist vielmehr die Maßzahl des Vertrauens, das die Bank in den Kunden setzt.

Der Präsident des Goethe-Instituts, Hilmar Hoffmann, hatte diesen gewissermaßen erweiterten Bonitätsbegriff im Blick, als er im Februar dieses Jahres den Internationalen Kulturdialog als "immaterielles Kapital" bezeichnete. An dessen Wahrung und Mehrung muß auch der Wirtschaft im eigensten Interesse gelegen sein. Ihr muß deshalb bewußt werden zu sein, was sie unbewußt längst ist, nämlich auch Botschafter deutscher Kultur.

Ingenieure als Vertreter deutscher Kultur, Wirtschaftsunternehmen als Kulturbotschafter, da fragen sich natürlich viele, ob da nicht etwas zusammengedacht wird, was nicht zusammengehört. Die Berührungsängste zwischen Kultur und Wirtschaft sind auf beiden Seiten trotz leuchtender Gegenbeispiele noch zu groß, entschieden zu groß, wie ich finde. Glauben Sie mir, es ist gar nicht ausgemacht, wer hier wen in den Dienst nimmt, wer wen stärker beeinflußt: die Kunst die Wirtschaft oder die Wirtschaft die Kunst. Die Kultur, um mit ihr zu beginnen, hätte Anlaß, hier ein entspannteres Selbstvertrauen an den Tag zu legen. Denn die Wurzeln unserer Kultur reichen weiter zurück als die Geschichte deutscher Staatlichkeit und deutscher Unternehmerwirtschaft. Ihre Ausstrahlung und die Anregungen, die sie verarbeitet, reichen weit über Deutschland, Europa und die westliche Welt hinaus. Kunst überdauert allemal ihre Mäzene, Kultur überwindet Ort und Zeit. Sie hält das Vergangene präsent, sie rückt das Entfernte nah und sie nimmt das Zukünftige in den Blick. Wenn die Wirtschaft dieses Kommunikationsmedium unterstützt, investiert sie in ihre eigene Zukunft, auch und gerade weil sie die Botschaft selbst nicht manipulieren kann und im allgemeinen auch nicht manipulieren will.

Was ich über die Unternehmer gesagt habe, gilt auch für Wissenschaftler, Techniker, Politiker, Privatleute und Künstler. Ob sie es wollen oder nicht, sie sind im Ausland Träger tausendfacher Botschaften, sie leisten Überzeugungsarbeit im Sinne der "soft power". Oder sie tun das Gegenteil, wofür man sie dann nicht loben kann. Wenn sie sich dessen bewußt sind und die Verantwortung, die sich daraus ergibt, ernstnehmen, können auch sie ein Teil der dezentralen kulturellen Außenpolitik werden. Ich ergänze hier, was ich oft sage: Deutschland ist trotz aller Schwierigkeiten noch immer eine große Wirtschaftsmacht. Wir sind deshalb auf Sympathiewerbung im Ausland besonders angewiesen.

Was nun die eigentlich staatliche Seite der kulturellen Außenpolitik angeht, nämlich die auswärtige Kulturpolitik, so sind wir nicht in der schlechtesten Ausgangsposition. Deutschland ist in der glücklichen Lage, daß es in seinen staatlichen Außenbeziehungen von inhaltlichen Fragen der Kultur weitgehend entlastet ist. Wir haben kein Bundeskultusministerium und auch keine oberste auswärtige Kulturbehörde, in der Arbeitsstäbe weitschauende Kulturkonzepte erarbeiten müßten, die dann noch vor der Drucklegung von den tatsächlichen Entwicklungen überholt würden.

Kulturpolitik ist, und das ist gut so, immer noch Sache der Länder. Für das Auswärtige haben wir das Auswärtige Amt, und sofern die Kulturpolitik außerhalb unserer Grenzen betroffen ist, kommt von hier auch das Geld für die Kulturmittler. Man möchte sich manchmal sogar wünschen, daß das Auswärtige Amt die staatlichen Zuständigkeiten in einer Hand hätte, um sie konzeptionell zu bündeln. Aber das sind leise Wünsche von mir, die ich nicht in die Form eines Antrags zur Änderung der Geschäftsordnung der Bundesregierung gießen möchte.

Mit dem Prinzip der Mittlerorganisationen haben wir das Prinzip der Dezentralisierung und Vielfalt, um das sich die kulturelle Außenpolitik mancher anderer Länder erst noch bemühen muß, in wichtigen Bereichen schon vorweggenommen. Der Staat bleibt auf diese Weise bei den Inhalten außen vor. Das macht es nicht nur solchen Künstlern leichter, die im Ausland nicht gern als Vertreter eines Staates auftreten, sondern es trägt auch entschieden zur Diversifizierung unserer auswärtigen Politik bei. Im Ausland unterscheidet man sehr wohl zwischen der Politik unserer Botschaft und der Arbeit - beispielsweise - des Goetheinstituts. Und wo die eine Seite eventuell einmal ihre Arbeit vorübergehend einstellen muß, bleibt der andere Kanal immer noch offen.

Ich möchte deshalb allen Mittlerorganisationen für die hervorragende Arbeit danken, die sie auf diesem Gebiet leisten, besser gesagt, auf allen Gebieten der Kultur und in allen ihren Aspekten. Sie vermitteln im Ausland deutsche Sprache, Literatur, Musik und Malerei, sie fördern Ausbildung und Studium, politische Bildung, Austausch von Wissenschaftlern, in ihrer Hand liegen die deutschen Auslandsschulen. Ich finde, das ist ein Netzwerk, das sich sehen lassen kann.

Stellvertretend für alle Mittlerorganisationen wie etwa Goetheinstitut, Deutscher Akademischer Austauschdienst und Alexander-von-Humboldt-Stiftung, möchte ich heute - das wird Sie nicht überraschen - die Tätigkeit von Inter Nationes würdigen.

Inter Nationes und seine Mitarbeiter betreuen das Besucherprogramm der Bundesrepublik und vermitteln so vielen Ausländern, die von diesem Angebot Gebrauch machen, den vielleicht entscheidenden ersten Eindruck von unserem Land. Welche Verantwortung das bedeutet, brauche ich wahrscheinlich nicht eigens zu betonen.

Seit seiner Gründung vor 45 Jahren leistet Inter Nationes darüber hinaus einen bedeutsamen Beitrag zum Kulturdialog durch die Verbreitung von Filmen und Publikationen aller Art, die für weltweit 52.000 Ansprechpartner und Multiplikatoren wichtige Arbeitsmittel und eine wertvolle Quelle von Informationen über unser Land sind.

Die vertrauensbildende Arbeit der Mittler ist eine Investition in unsere Zukunft. Auch in Zeiten knapperer Haushaltsmittel sollten wir deswegen hier jedenfalls nicht in erster Linie sparen. Wo aber Einschnitte unumgänglich sind, da müssen wir die Kulturmittler in die Lage versetzen, auch mit etwas weniger Geld effektiv zu arbeiten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Mittler mit den staatlichen Zuwendungen halbwegs frei wirtschaften könnten. Bisher werden die meisten Zuwendungen an lange vorab gebilligte Projekte gebunden, so daß man auf neue Entwicklungen nicht mehr rechtzeitig reagieren kann. Mehr Flexibilität würde auch hier mehr Effektivität bedeuten.

Ich habe bereits einige Vorteile des Mittlerkonzepts erwähnt. Schon die Pluralität der Mittlerinstitutionen ist vielleicht der beste Garant dafür, daß die Komplexität der Kulturvermittlung nicht kurzschlüssig auf eine falsche Einfachheit zurückgeführt wird. Wo Vielfalt herrscht, gibt es natürlich auch Meinungsunterschiede, Spannungen und Differenzen. Welche Kunst und welche Kultur im Ausland vermittelt werden soll, versteht sich nicht von selbst, und es soll sich auch nicht von selbst verstehen. Darüber muß man sich auseinandersetzen. Vielleicht sogar mehr als bis jetzt. Wir haben nämlich nicht zuviel politische Diskussionen um Kultur, sondern zuwenig, oder zumindest über die falschen Themen. Auf manche schrille Töne in dieser Diskussion könnten wir alle leicht verzichten.

Mittler im weitesten Sinne sind natürlich auch die Medien, und im anbrechenden Informationszeitalter wird ihre Rolle sprunghaft wachsen. Hier leistet die Deutsche Welle in vielen Beziehungen Pionierarbeit. Aber man wünscht sich, daß auch die nicht staatlich geförderten Medien ihre Rolle als Mittler des internationalen Kulturdialogs verantwortungsbewußt wahrnehmen.

Man muß nicht Deutscher im Sinne des Grundgesetzes sein, um etwa deutsche Literatur zu schreiben. Viele junge türkische Autoren in unserem Land zeigen das beispielshaft. Niemand will Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt als Deutsche vereinnahmen, und denoch gehören sie selbstverständlich mit zum deutschsprachigen Literaturkosmos. Grenzen der sogenannten nationalstaatlichen Kultur sind heute nicht mehr zu definieren. Das ist kein Unglück, denn aus der Sicht der Kultur sind sie ohnehin ohne Bedeutung. Im Kulturellen herrscht keine staatliche Zugangsbeschränkung. Ein japanischer Pianist, der Stockhausen spielt, und ein deutscher Regisseur, der ein französisches Theaterstück inszeniert, sind Mittler zwischen den Kulturen und bereichern gleichermaßen die japanische, deutsche und französische Kultur.

Kultur ist also keine Sache der Staatsangehörigkeit. Das gilt nicht nur für Europa, hier aber gilt es in besonderem Maße. In Europa, das halte ich fest, haben wir längst auch eine europäische Kultur, die zumindest für die Künstler Realität ist. Schon das angeblich so finstere Mittelalter war in kultureller Hinsicht europäischer als die Europäische Union von heute. Die alten Handelsstraßen, die weit über Europa hinausführten, waren stets auch Straßen des kulturellen Austausches. Welche kulturelle Bereicherung auf diesen Wegen zu uns kam, ist erst durch allerjüngste Forschungen wieder besonders sichtbar geworden.

Es würde sich lohnen, in diesem Zusammenhang einmal das Beispiel der verschiedenen Seidenstraßen zu betrachten, über die die alte Welt mit der chinesischen und ostasiatischen Kultur in Berührung kam. In der Aufklärung berieten und bereicherten Maler, Literaten, Philosophen und Musiker nicht nur die Höfe ihrer Landesfürsten, sondern ebenso häufig die Herrscher benachbarter, ja selbst ganz ferner Länder. Voltaire bei Friedrich II. in Potsdam, Händel in London und Beethoven in Wien sind nur einige wenige Beispiele für die kulturelle Ubiquität der damaligen Kulturträger. All das war und ist kein Schmelztiegel, der den Einheitseuropäer kocht. Das will ich auch gar nicht. Doch in all seiner Vielfalt ist es gemeinsames europäisches Erbe.

Wie schon zu Anfang gesagt, der Kulturdialog über Ländergrenzen hinweg ist fast so alt wie die Welt des Menschen. Unsere nationalen Kulturförderungspolitiken sind sehr viel neueren Datums und trotzdem nicht fortschrittlicher geworden, im Gegenteil. Hier leitet immer noch der alte Reflex, daß jeder an sich selbst denkt und sich dem frommen Wunsch hingibt: was für mich gut ist, wird es dann auch für die anderen sein. In Europa ist aber schon längst nicht mehr klar, wo man die Grenzen der Landeskulturen ziehen soll und ob es solche Grenzen überhaupt noch gibt. Wo sind, so könnte man fragen, die europäischen Kulturhäuser, die dieser europäischen Realität endlich Rechnung tragen? Während wir noch warten, könnten hier ja auch die Mittlerorganisationen nach Gestaltungsmöglichkeiten suchen. Ich finde es jedenfalls sehr begrüßenswert, daß Inter Nationes in den vergangenen fünf Jahren bereits Kontakte zu europäischen Partnerorganisationen aufgebaut hat.

In der Europäischen Union selbst gibt es erste Ansätze einer europäischen Kulturpolitik. Diese Zusammenarbeit gibt es bei der Wahrung des kulturelles Erbes, der gesamteuropäischen Medienförderung, bei Übersetzungen und Bildungsprogrammen wie Sokrates, Leonardo oder beim Erasmusprogramm. Freilich könnte hier noch erheblich mehr getan werden. Wir stehen da erst am Anfang.

Ein besonderes Ärgernis in Europa ist die Frage der Anerkennung von Universitätsabschlüssen. Ich wundere mich immer wieder, wenn es heißt, das Kapital könne in der Europäischen Union frei zirkulieren. Denn offenbar gilt das nur für Geld. Anderes wichtiges Kapital, insbesondere das geistige, zirkuliert immer noch sehr mühsam. Ich denke hier an die Studenten, die allen Abkommen zum Trotz noch immer um die Anerkennung ihrer Studienabschlüsse zu kämpfen haben, wenn sie im europäischen Ausland studieren wollen. Ausländischen Studenten geht es in Deutschland nicht besser; die Sprachanforderungen tun dazu noch ein übriges. Hinzu kommt weiterhin, daß sich unsere heimatlichen Studiengänge nicht genügend in die internationale Universitätslandschaft einfügen.

Wenn sich daran nichts ändert, dann verlieren deutsche Hochschulen international weiterhin an Attraktivität. Die administrativen Hürden müssen niedriger, das Qualitätsniveau unserer Hochschulen und die Kompatibilität ihrer Abschlüsse müssen höher werden, nicht umgekehrt. Auch hier wäre ein Anlaß zum Nachdenken. Ich habe schon beim BDI an die kaum zu überschätzenden Humboldtschen Reformen des Bildungswesens erinnert, die 1810 eingeleitet wurden und der deutschen Wissenschaft einen Aufschwung brachten, den damals niemand für möglich gehalten hätte. Daß Herr von Ploetz den Gedanken eben in seinen Begrüßungsworten aufnahm, ermutigt mich, weiter davon zu sprechen. Das schwindende Interesse ausländischer Studenten an einem Studienaufenthalt in Deutschland ist ein Alarmsignal, das wir ernst nehmen sollen.

Es ist ein Signal für die nationale Bildungspolitik und gleichermaßen für die kulturelle Außenpolitik. Denn: Innere Kulturpolitik und kulturelle Außenpolitik gehören zusammen. Mit der Attraktivität unserer Hochschulen würden wir sonst einen wichtigen Anreiz für Ausländer verlieren, unsere Kultur von der Innenseite her kennenzulernen und sich mit Deutschland anzufreunden. Auf dieses Sympathiepotential können wir aber nicht verzichten. Deutschland wird - zu recht oder zu unrecht - kritischer und genauer beobachtet, seitdem es wiedervereinigt ist. Es gibt also nicht nur ein bildungspolitisches, sondern auch ein außenpolitisches Interesse daran, daß unsere eigene Jugend zur Weltoffenheit, zur Toleranz, zur Neugierde und zur Unternehmungslust erzogen wird.

Wir sollten, und nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen, auch das Vertrauen nicht geringschätzen, das uns aufgrund der Vertrautheit mit unserer Kultur und unserer Sprache entgegengebracht wird. Das gilt vor allem in der Folge der Ereignisse von 1989. Wir erleben die Wiedergeburt der europäischen Kultur nach dem Ende des Kalten Krieges. Osteuropa nimmt wieder teil am europäischen Kulturdialog und sucht insbesondere auch das Gespräch mit dem wiedervereinigten Deutschland. Es gibt neue Erwartungen, die sich an uns richten und auch neue Befürchtungen, die sich damit verbinden. Ich meine, beides sollte uns auf eine bewußtere Kulturpolitik verpflichten. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, beruht oft noch auf alten kulturellen Verbindungen, die aber erneuert und vertieft werden müssen. Hier liegt ein ungeheures Potential kultureller und ideeller Bereicherung für ganz Europa. Welche fruchtbaren Impulse aus Prag, Budapest und Warschau, um nur einige Beispiele zu nennen, noch verstärkt kommen werden, läßt sich jetzt noch gar nicht absehen. Welch ein Zufluß neuer Ideen, neuer Konzepte und kultureller Anregungen steht uns da bevor!

Die Mittler berichten von dem überwältigenden Interesse an deutscher Sprache und deutscher Literatur, an Politik und Wirtschaft. Der weitaus größte Anteil der Deutschlernenden in aller Welt lebt in Osteuropa. Das findet seltsamerweise keinen entsprechenden Niederschlag in dem Umfang der dort für Kulturarbeit auf Dauer eingesetzten Mittel. Mir steht es nicht an, hier den autonomen Institutionen Empfehlungen zu geben, aber ich frage mich schon, ob wir angesichts der veränderten Verhaltnisse die Schwerpunkte noch richtig setzen. Es liegt bei Ihnen, darüber zu befinden. Ich möchte nur hervorheben, daß die Verbreitung der deutschen Sprache einen Verständigungskanal eröffnet, von dem nicht nur die Kultur, sondern gerade auch Politik und Wirtschaft profitieren.

Wir verbinden mit unserer Sprachpolitik nicht die Hoffnung, der neuen lingua franca, dem Englischen, den Rang abzulaufen. Beträchtliche Teile von Wirtschaft und Wissenschaft haben sich längst für das Englische entschieden. Ich sehe darin keine Katastrophe, auch wenn ich mich selbst lieber in meiner Muttersprache ausdrücke. Aber gegen Sprachpräferenzen der Weltkommunikation kommt man mit Beschlüssen nicht an. Es ist damit etwa so wie mit dem Wunsch, Weltliteratur zu schreiben. Ob der Versuch gelingt, darüber entscheidet das Publikum, nicht der Autor. Und doch: daran, daß wir ein Interesse haben, Deutsch als Verständigungskanal international im Angebot zu halten, daran kann es für mich keinen Zweifel geben.

Wirklich erfolgreich wird Sprachförderung aber nur sein, wenn wir die Inhalte, die in der deutschen Sprache vermittelt werden, von der Wissenschaft bis zur Poesie, so gestalten, daß sie weltweit auf Interesse stoßen. Wenn das der Fall ist, wird die Verbreitung der Sprache "selbsttragend". Wenn es nicht der Fall ist, nützt selbst das aufwendigste Förderungsprogramm nichts. Vielleicht sollte ich es, um mich ganz verständlich zu machen, in den Worten der Wirtschaft ausdrücken: "Die beste Exportförderung nutzt nichts, wenn das Produkt nichts taugt." Für die Qualität und die Attraktivität deutschen Theaters und deutscher Filme und das, was wir in der Bildung vermitteln und nicht vermitteln, sind wir schon selbst verantwortlich.

Die Ergebnisse unserer Kulturpolitik im Ausland können nicht besser sein als die Kultur, deren Verbreitung sie fördert. Mit Wissenschaft und Technologie ist es ähnlich. Die Attraktivität der Sprache eines Landes spiegelt das Interesse an diesem Land in allen Aspekten wider, in wirtschaftlicher, kultureller und technologischer Hinsicht. Deshalb sind unsere Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auch Säulen unserer Sprachpolitik im Ausland. Eine kluge Politik, eine reiche Kultur und eine innovative Wissenschaft tragen entscheidend dazu bei, daß Deutsch auch als Fremdsprache auf Interesse stößt.

Eine Kultur, die sich erneuert und damit lebendig hält, halte ich deshalb für das beste Sprachförderungsprogramm. Der Schlüssel zur Innovation, auch zur gesellschaftlichen, institutionellen und mentalen, liegt indessen, ich sagte es bereits, in der Bildung. Deswegen habe ich vom Beispiel der Humboldtschen Reform gesprochen. Und ich frage mich: Warum sollte so etwas nicht wieder gelingen? Ich jedenfalls bin Optimist, weil ich glaube, wir haben eine große Chance, das zu schaffen. Geben wir der Kultur durch Bildung eine Chance. Zu blühen beginnt sie dann von selbst.