Redner(in): Horst Köhler
Datum: 1. Oktober 2005

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051001_Rede.html


Der folgende Beitrag des Bundespräsidenten zum 15. Jahrestag der Deutschen Einheit ist in der Schweriner Volkszeitung ( Ausgabe 01. 10. 2005 ) erschienen:

Am 3. Oktober feiern wir Deutsche den 15. Jahrestag unserer staatlichen Einheit in Freiheit. Es ist ein guter Tag für Deutschland. Er erinnert uns daran, wie sich die Menschen in der DDR mit friedlichen Mitteln die Freiheit erkämpften. Sie haben damit eines der schönsten Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben, und sie haben es uns allen in Deutschland geschenkt. Daraus ist am 3. Oktober 1990 die neue gemeinsame Bundesrepublik Deutschland hervorgegangen.

Seitdem haben wir in anderthalb Jahrzehnten dank der Tatkraft und Solidarität der Deutschen in Ost und West viel erreicht: Die Städte in Ostdeutschland zeigen sich in neuem Glanz. Es gibt neue Straßen, Eisenbahnlinien und moderne Telekommunikationsnetze. International erfolgreiche Wissenschafts- und Technologiezentren haben sich entwickelt. Beim Aufbau industrieller Kerne sind beträchtliche Erfolge erzielt worden. Wir haben guten Grund, uns über das Geleistete zu freuen.

Zur Realität gehört allerdings auch: Zu viele Menschen haben keine Arbeit. Es wird zu wenig investiert, und die öffentlichen Haushalte sind hoch verschuldet. Die Gesellschaft altert, und wir haben zu wenig Kinder. Viele dieser Probleme bündeln sich in den östlichen Ländern.

Deshalb war es unumgänglich, dass sich unser Land sich auf den Weg der Erneuerung gemacht hat - im Osten rasch, und häufig verbunden mit schmerzhaften Erfahrungen für viele Menschen, im Westen zögernder, doch mit wachsender Einsicht. Es gilt, neues Vertrauen zu schöpfen. Und wir sollten neues Vertrauen fassen: Der Unternehmer, der sich ernsthaft und verantwortlich für die Arbeitsplätze in seinem Betrieb einsetzt, hat unser Vertrauen ebenso verdient wie der Bürger, der sich unermüdlich für das Gemeinwohl einsetzt. Überall in der Nachbarschaft gibt es Vorbilder. Wir sollten sie erkennen, und wir sollten sie anerkennen. Immer wieder stelle ich bei meinen vielen Besuchen im Land fest: Die Menschen sind dabei, sich auf die großen Herausforderungen einzustellen. Sie haben Ideen, und sie packen an.

Auch die Politik packt die vor uns liegenden Aufgaben zunehmend beherzt an, wenn auch viele Menschen die Politik häufig nicht als Wettbewerb der Ideen erleben, sondern als Wettbewerb der Versprechen - Versprechen, die angesichts der wirtschaftlichen, finanziellen und demographischen Herausforderungen oft nicht gehalten werden können. Das hat vielerorts zu Enttäuschung geführt. Wir müssen ihr entgegenwirken. Die Politik muss sich neues Vertrauen verdienen, durch Ehrlichkeit, Stetigkeit und Gerechtigkeit.

Zur Ehrlichkeit gehört, den Menschen zu sagen, dass nicht überall in Deutschland die gleichen Lebensbedingungen geschaffen werden können. Zukunftsträchtige Technologiestandorte kann es nicht überall geben. Das war schon immer so. Es ist richtig, wenn der Staat seine knappen Fördermittel nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern auf Wachstumszentren konzentriert. Was gelingt, muss gestärkt werden. Die Erfahrung lehrt, dass davon auch die benachbarten Regionen profitieren. Und es gilt auch: Es gibt keine schlechten Standorte, sondern nur schlecht angepasste Wirtschaftsformen. Fehlende Industrie- und Gewerbeparks können auch ein Standortvorteil sein - das zeigt etwa die Bedeutung der Tourismuswirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern. Unser Land ist geographisch und kulturell so vielgestaltig, es bietet so viele unterschiedliche Möglichkeiten. In diesen Unterschieden liegen Chancen, die wir nutzen wollen.

Gerade bei meinen Besuchen in Ostdeutschland habe ich immer wieder Menschen kennen gelernt, die voller Ideen, Selbstbewusstsein und Tatkraft sind. Oft habe ich mich dabei gefragt, wer hier eigentlich wem Mut macht. Geben wir den Menschen die Freiheit und die Freiräume, sich zu entfalten und ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Dann ist mir um die Zukunft Deutschlands nicht bang.

Ich weiß freilich auch um die vielen Entmutigten und Verzweifelten. Mancher, der sich seit Jahren vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht, glaubt nicht länger an eine gute Zukunft. Unsere Gesellschaft darf sich nicht damit abfinden, dass immer mehr Menschen nicht mehr an ihr teilhaben. Wir müssen alles tun, um den Menschen eine Perspektive zu geben. Vor allem müssen wir sie in Arbeit bringen, denn Arbeit stiftet Sinn und ist die wichtigste Voraussetzung für Hoffnung und Zuversicht. Doch genügend neue Arbeitsplätze wird es nicht von heute auf morgen geben. Auch wenn wir die nötigen Erneuerungen zügig und beherzt angehen, wird es doch möglicherweise Jahre dauern, bis sie Wirkung entfalten.

Wer von Arbeitslosigkeit betroffen ist, soll sich darauf verlassen können, dass unsere Solidargemeinschaft niemanden fallen lässt. Zugleich ermutige ich alle, die Chancen zu prüfen und zu nutzen, auch jenseits der Lohnarbeit ein erfülltes und würdiges Leben in der Mitte unserer Gesellschaft zu führen. Diese Chancen gibt es. Sport- oder Heimatvereine, freiwillige Feuerwehren, soziale Einrichtungen, Umwelt- und Naturschutzverbände - sie alle brauchen Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Rund ein Drittel der Deutschen tut das bereits. Es sollten noch viel mehr werden. Auch außerhalb von Vereinen bieten sich viele Möglichkeiten, sich um andere zu kümmern und für sie da zu sein. Für die alte Dame von nebenan etwa die Einkäufe erledigen oder die Kinder der jungen Familie von gegenüber hüten. Nachbarschaftshilfe hilft anderen, bereichert das eigene Leben und fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Seit 15 Jahren leben die Deutschen in Ost und West wieder in einem gemeinsamen Staat. Wir haben in dieser Zeit viel gemeinsam erreicht und manches übereinander gelernt. Wir sind bescheidener in unseren Erwartungen und realistischer in unserer Selbsteinschätzung geworden. Noch immer stehen wir vor großen Herausforderungen. Wir haben aber auch alle Voraussetzungen, sie zu meistern. Unser Land hat nicht ohne Grund überall auf der Welt einen guten Namen. Er steht für Erfindergeist, Fleiß und organisatorisches Geschick, für die Kulturnation, für sozialen Frieden und Rechtssicherheit, für große Erfahrung auf den Weltmärkten und für Spitzenprodukte. Es gibt allen Grund zur Zuversicht.