Redner(in): Horst Köhler
Datum: 30. Mai 2006
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/05/20060530_Rede.html
Ich bin gerne nach Leipzig gekommen, um Sie zu empfangen. Für mich ist es der erste Besuch im "neuen" Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts. Wie Sie vielleicht wissen, war Berlin bis 2002 Sitz dieses Gerichts. Das glückliche Ereignis der Wiedervereinigung in Deutschland brachte viel in Bewegung - nicht zuletzt auch den Umzug von Bundesbehörden und Bundesgerichten. Es ist richtig und wichtig, dass Organe des Bundes in den neuen Ländern vertreten sind. Dies ist ein Ausdruck des lebendigen Föderalismus. Mit seinen Behörden und Gerichten in den Ländern ist der Bund den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort präsent und "residiert" nicht nur im - für viele Menschen fernen - Berlin.
Der Umzug eines obersten Bundesgerichts nach Leipzig lag auf der Hand. Leipzig ist eine Stadt mit einer großen Rechts- und Gerichtstradition. Schon im 15. Jahrhundert wurde an der Leipziger Universität eine juristische Fakultät gegründet und die Stadt war Standort des Kursächsischen Oberhofgerichts. Untrennbar verbunden ist Leipzig mit dem Reichsgericht, seit der Gründung des Deutschen Reiches das oberste Straf- und Zivilgericht. Es hatte von 1879 bis 1945 seinen Sitz in der Stadt. Der Bau ist - wie Sie sicherlich nachvollziehen können - neben dem Reichstagsgebäude in Berlin der bedeutendste Staatsbau des wilhelminischen Kaiserreichs. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach der Wiedervereinigung die Gunst der Stunde genutzt und ist nach Leipzig umgezogen. Ich kann mir vorstellen, dass es heute von vielen um dieses prachtvolle Gebäude beneidet wird.
Wir leben in einer immer enger zusammenwachsenden Welt. Diese Entwicklung hat auch vor dem Recht nicht halt gemacht. So geht es heute nicht mehr nur um nationale Rechtsanwendung und Rechtsprechung. Das gilt in ganz besonderer Weise für Europa. Seine heutige Gestalt ist in hohem Maße die einer Rechtsgemeinschaft - eine Charakterisierung, die maßgeblich vom ersten deutschen Präsidenten der Kommission, Walter Hallstein, geprägt wurde. Die "römischen Verträge" werden im nächsten Jahr 50 Jahre alt. Sie bilden bis heute den Kern des europäischen Integrationswerkes. Und sie sind - bis heute - auch die Grundlage für die Integration Europas. Auch wenn in der Öffentlichkeit Politiker oft als die Wegbereiter eines einheitlichen Europas gelten, so spielten gerade auch die Gerichte der Mitgliedstaaten und der Europäische Gerichtshof eine maßgebliche Rolle. Nicht umsonst wurde der Europäische Gerichtshof früher als "Motor der Integration" bezeichnet. Denn die Durchsetzung der in den Gründungsverträgen niedergelegten Freiheiten und Grundsätze wäre ohne die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kaum möglich gewesen. Ich erinnere nur an die Urteile zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts, die Rechtsprechung zur Freizügigkeit der Unionsbürger, die Entscheidungen zum Beihilfeverbot oder in Wettbewerbsfragen. Und nicht selten erfolgte die Fortentwicklung des Europarechts in Kooperation mit den Gerichten der Mitgliedstaaten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und sein Dialog mit den nationalen Gerichten zeigen, wie Gerichtsentscheidungen die Verfassungsstruktur der Europäischen Gemeinschaften nachhaltig beeinflussen: So ist beispielsweise die Bindung der europäischen Hoheitsgewalt an Grundrechte diesem Zusammenwirken zu verdanken. Aber wem erzähle ich dies: Sie alle kennen - sicher besser als ich - die Bedeutung, die die "Dritte Gewalt" für die Entwicklung eines gemeinsamen Europas hat.
Die Tätigkeit Ihrer Vereinigung trägt der "Europäisierung" des Rechts schon seit bald vierzig Jahren Rechnung. Schon früh haben Sie die Unterschiede der Rechtsordnungen und der Gerichtsstrukturen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften erkannt. Daraus erwuchs für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Wunsch nach regelmäßigem Austausch, nach einem "Voneinander-Lernen" und "Sich-Kennenlernen". Mit Ihrer Vereinigung haben Sie diese Ziele in die Tat umgesetzt. Waren es im Jahre 1968 sechs EWG-Mitgliedstaaten, so hat Ihre Vereinigung heute Mitglieder aus 25 EU-Staaten. Und als Beobachter sind auch die Gerichte derjenigen Staaten schon vertreten, die einen Beitritt anstreben. Ich wage die Prognose, dass es Ihnen an Themen nicht so schnell mangeln wird: Denn die Unterschiede des Rechts und der Justizsysteme in Europa sind immer noch beträchtlich. Von Ihren Gesprächen und von der Erfahrung der langjährigen Mitglieder können die neuen Mitglieder profitieren. Umgekehrt werden - und das ist mindestens ebenso wichtig - die langjährigen Mitglieder vermeintlich Bewährtes hinterfragen und auf den Prüfstand stellen.
Wir müssen in Europa drängende Fragen der Zukunft beantworten. Sie selbst werden es hier auf Ihrer Tagung gespürt haben: Schon in einem Europa der sechs fand man nicht immer auf Anhieb zusammen - in einem Europa der 25 oder gar 30 Mitgliedstaaten ist die Vielfalt von Sprache, Geschichte, Kultur und Wirtschaft noch größer. Das macht es nicht leichter, die Einheit Europas zu erreichen. Wenn wir jetzt über die Zukunft der Integration nachdenken, müssen wir die Ängste der Menschen vor einer Europäisierung aller Lebensbereiche ernst nehmen. Und wir sollten uns mehr Gedanken über die Folgen und Wirkungen einer forcierten Rechtsangleichung machen. Ich glaube, es wäre hilfreich, wenn Sie, meine Damen und Herren, Ihre Erfahrungen aus der Rechtsanwendung in die laufende Diskussion einbrächten.
Doch ich bin fest davon überzeugt: Zu einer Weiterentwicklung der Europäischen Union gibt es keine bessere Alternative. Deshalb sind wir in Deutschland auch der Auffassung, dass der Europäische Verfassungsvertrag viel Gutes enthält. Die Entwicklung eines leistungsfähigen Rechtssystems ist eine große kulturelle Errungenschaft. Mit der Osterweiterung haben auch die Bürger in den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Vorzüge einer unabhängigen Justiz kennen gelernt. Dazu hat auch Ihre Vereinigung sehr viel beigetragen. Dafür gilt Ihnen Dank und Anerkennung. In diesem Sinn möchte ich meinen Gruß an Sie mit einer Erkenntnis Immanuel Kants beschließen, die aktueller ist denn je: Geltung und Achtung des Rechts ist die Grundlage für den Frieden zwischen Völkern und Staaten.