Redner(in): Horst Köhler
Datum: 15. Juli 2006

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/07/20060715_Rede.html


Was für ein Sommer für Deutschland! Im Juni durften wir die Fußballweltmeisterschaft erleben und heute haben wir die Freude, Wissenschaftler und Forscherinnen aus ganz Europa zum EuroScience Open Forum zu begrüßen. Und wie bei der WM geht es auch beim ESOF um Spitzenleistungen, um Austausch und um Begegnung. Seien Sie herzlich willkommen! Wenn ich noch einmal mit Europa beginnen könnte, würde ich mit der Kultur anfangen."- Wäre der große Europäer Jean Monnet, dem dieser Satz zugeschrieben wird, heute hier, so würde er wohl ergänzen: mit KulturundWissenschaft. Denn tatsächlich sind die Traditionen des Austausches und die Praxis der Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung Fundamente für den Bau und die Entwicklung Europas. Das, was wir heute unter" moderner Wissenschaft " verstehen, ist in Europa entstanden. Erinnern wir uns: Bacon und Newton waren Engländer, Descartes und Pascal Franzosen, Leibniz und Kant Deutsche; Tycho Brahe war Däne, Galilei Italiener, Huygens Holländer. Sie und viele andere schufen eine neue Welt der Ideen, einen Kosmos des Wissens. Ihnen verdanken wir Begriffe, mit denen wir Wissen von Glauben unterscheiden. Sie haben uns eine Sicht auf die Welt eröffnet, die auf sinnlicher Erfahrung und Beweisbarkeit, auf Kritik und auf dem rationalen Austausch von Argument und Gegenargument beruht.

Das Europa der Neuzeit war nicht zuletzt ein Gelehrtenkontinent, auf dem sich die Forscher zwar eher selten persönlich begegneten, auf dem sie aber in lebhaftem Gedankenaustausch standen - dank der gemeinsamen Gelehrtensprache Latein und ganz ohne E-mail oder Videokonferenzen. Damals entstand die Grundlage für das, was Albert Einstein einmal beschrieben hat als die "unsichtbare Gemeinschaft derjenigen, die nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit" streben.

Auch heute leistet die Wissenschaft einen unverzichtbaren Beitrag zur Verständigung über das, was Europa ausmacht - in der Theorie wie in der Praxis: Ob Geschichts- und Kulturwissenschaft, Philologie, Theologie: viele Disziplinen versuchen, der Identität Europas auf den Grund zu gehen. Indem sie das tun, geben sie schon einen Teil der Antwort darauf, was europäisch ist: das stete, kritische Sich-Hinterfragen, das Ringen um neue Einsichten ausgehend von Zweifel und Erfahrung, die Suche nach Gründen und Sinn - kurz: ich nenne das schöpferische Unruhe. Diese schöpferische Unruhe bestimmt auch die Praxis wissenschaftlicher Zusammenarbeit in Europa, die eine Realität war, schon bevor es europäische Verträge gab und die - wenn auch unter sehr erschwerten Bedingungen - Bestand hatte, selbst als der eiserne Vorhang unseren Kontinent noch teilte.

Die Einheit Europas zu vollenden - das ist heute unsere Aufgabe. Die Politik kann hier noch viel von der Wissenschaft lernen. In der Wissenschaft wird vorgelebt, wie Grenzen überwunden werden - auf der Landkarte und auch in den Köpfen, wie selbstverständlich und intensiv Zusammenarbeit in Europa sein kann. Hubert Markl, der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, hat das einmal so beschrieben: "Die Wissenschaft macht im besten Sinne den lebendigen, einigenden Geist Europas aus und zugleich jenen Geist, der am besten geeignet ist, sich nicht auf Europa zu beschränken, sondern von hier aus weltweit auszustrahlen."

Für diesen Geist steht auch das ESOF. Hier präsentiert sich Europa als Wissenschaftsgemeinschaft, die sich öffnet für Partner aus anderen Teilen der Welt. Ein herzliches Willkommen den Gästen aus Amerika, Asien, Afrika und Australien!

Wir müssen diese Wissenschaftsgemeinschaft Europa stärken - ein Beitrag dazu ist der so genannte Bologna-Prozess, der schon mit seinem Namen eine zweite große Traditionslinie europäischer Begegnung in der Wissenschaft beschwört: die der Hochschulen, unter denen die von Bologna eine der ältesten ist. Die mittelalterlichen Universitäten waren wahrhaft internationale Orte der Begegnung und Tauschbörsen für Ideen. Magister und Scholaren kamen aus allen Richtungen Europas und verteilten ihr Wissen wandernd weiter über den Kontinent.

Im Europäischen Hochschulraum - dem Ziel des Bologna-Prozesses - sollen auch heute Menschen und Ideen leicht und selbstverständlich reisen und vorankommen. Die hohen Teilnehmerzahlen bei den europäischen akademischen Austauschprogrammen wie ERASMUS und LEONARDO DA VINCI zeigen uns: Der wissenschaftliche Nachwuchs hat längst begriffen, wie wichtig es ist, über den Tellerrand der heimischen Hochschule hinauszublicken. Und wir sollten alles tun, um diese Einstellung der jungen Leute zu unterstützen.

Begegnung und Zusammenarbeit in der Wissenschaft zu erleichtern ist ein Beitrag zur Vertiefung der wissenschaftlichen Dimension Europas. Ein anderer ist: Geld.

Zu Beginn des nächsten Jahres soll das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU in Kraft treten. Ich freue mich, dass dies zusammenfällt mit dem Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das gibt uns die Chance, mit Leidenschaft für mehr innovative Spitzenleistungen in Europa zu werben. Und ich werde das persönlich auch tun, denn ich denke, dass wir Leidenschaft brauchen in Europa für Innovationen.

Die gute Nachricht ist: Es wird mehr Geld für grenzüberschreitende Kooperation in der Forschung geben - auch wenn das Volumen hinter den ursprünglichen Vorschlägen der EU-Kommission zurückbleibt. Umso wichtiger ist es, dass die Mittel intelligent und effizient eingesetzt werden für die Forschungs-Ziele, auf die sich die Europäer verständigt haben. Und dazu gehört auch, dass der Zugang zu den Fördermitteln nicht durch zuviel Bürokratie erschwert wird: Einen Förderantrag bei der EU für ein Forschungsprojekt zu stellen - das darf keine Wissenschaft für sich sein.

Ich finde es gut, dass die EU einen neuen Schwerpunkt in der Grundlagenforschung setzen will: Gerade die Forschung an den Grenzen des Wissens braucht öffentliche Unterstützung, weil sich private Geldgeber aus der Wirtschaft leider allzu oft erst dann finden lassen, wenn ein Forschungsprojekt halbwegs sichere Renditen verspricht. Erst die Grundlagenforschung jedoch ermöglicht es, neue Wissensfelder zu erschließen, auf denen Ideen wachsen und zu Innovationen reifen können. Wenn es ein Ziel von Forschungsförderung ist, aus Geld Wissen und aus Wissen Geld und Arbeitsplätze zu machen, dann braucht es bei der Grundlagenforschung oft einen besonders langen Atem, und ich rate dazu, dass wir diesen Atem aufbringen.

Grundlagenforschung ist indes kein Selbstzweck. Sie erfolgreich zu fördern, heißt auch, danach zu fragen, welche Potenziale ein Vorhaben hat, wie neu und viel versprechend der Forschungsansatz ist und wie sinnvoll es erscheint, ihn auf europäischer Ebene zu fördern. In der EU wird darüber künftig der Europäische Forschungsrat mitentscheiden. Dieses neue Gremium soll sicherstellen, dass allein die wissenschaftliche Exzellenz den Ausschlag für die Förderung gibt. Unabhängige Schiedsrichter in diesem Wettbewerb der Ideen werden hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sein. Ich bin überzeugt, dass der Europäische Forschungsrat einen großen Beitrag dazu leisten kann, dass Europa seine Möglichkeiten in der Pionierforschung besser ausschöpft.

Europa braucht neue Impulse in Wissenschaft und Forschung. Darüber sind sich die EU-Mitgliedstaaten einig. Jedoch: den wohltönenden Appellen müssen Taten und messbare Ergebnisse folgen. Noch sind wir deutlich von dem Ziel der Lissabon-Strategie entfernt, 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung auszugeben. Ich rate dazu, dass wir die politische Kraft aufbringen, dieses Ziel zu erreichen. Wenn wir hier keine Ressourcen bereitstellen, schaffen wir keine Gerechtigkeit für die Zukunft. In Wissen zu investieren ist Sozialpolitik für die Zukunft.

Die Welt wartet nicht darauf, dass Europa die Weichen Richtung Wissensgesellschaft konsequent stellt. Die neuen Wachstumsregionen in Asien machen uns vor, was es heißt, Forschung und Entwicklung eine echte, das heißt auch finanzielle Priorität einzuräumen. Im globalen Wettbewerb werden wir Europäer nur bestehen können, wenn wir überzeugendere Ideen haben und sie schneller in Produkte und Dienstleistungen umsetzen. Wissen ist der einzige Rohstoff, der auf unserer Erde unbeschränkt zur Verfügung steht und der sich durch Gebrauch nicht abnutzt, sondern sogar vermehrt. Deshalb ist es so wichtig, in die Köpfe der Menschen zu investieren, statt überalterte Strukturen zu subventionieren!

Es hängt von unserer Innovationsfähigkeit ab, ob wir unseren Wohlstand erhalten und damit auch die sozialen Errungenschaften bewahren können, die Europa so einmalig machen.

Wissenschaft hilft, Werte zu sichern; sie ist selbst kein wertfreier Raum. Der große Physiker Max Planck hat einmal gesagt: "Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, den Glauben zum Handeln."

Mit diesem Zitat will ich nicht etwa einem Primat der Religion das Wort reden, sondern deutlich machen, dass gerade auch unsere moderne Wissenschaft auf Wegweiser und ethische Grundsätze angewiesen ist. Und es ist die gemeinsame Aufgabe von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, diese Leitplanken in einem offenen Dialog zu definieren. Ich glaube, dass es gerade auch die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung ist, die unseren europäischen Weg möglicherweise von der Praxis in anderen Ländern unterscheidet.

Wenn wir die Anstrengungen für Wissenschaft und Forschung steigern wollen, müssen wir den Menschen erklären, warum das nötig und sinnvoll ist. Initiativen wie der Wissenschaftssommer, der heute hier in München beginnt, machen die Bedeutung von Wissenschaft und Innovation erlebbar. Auf dem Wissenschaftssommer gibt es auch einen Informationsstand zum Deutschen Zukunftspreis - dem Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation. Mit dem Preis will ich den Menschen in unserem Land zeigen: Wissenschaft und Wohlstand hängen eng zusammen. Aus Ideen Erfolge für die Menschen zu machen - darauf kommt es an.

Auch beim EuroScience Open Forum wird es viel Raum für den Dialog mit der Öffentlichkeit geben: Interaktive Ausstellungen, Mitmach-Experimente, Wissenschaftscafés bringen Forscher und interessierte Besucher zusammen. Darüber freue ich mich ebenso sehr wie über das rege Interesse, das dieses europäische Wissenschaftsfestival in den Medien findet. Das war schon in Stockholm vor zwei Jahren so und ich hoffe, dass der Funke der Neugier auch in München überspringen wird. Besonders wichtig ist mir, dass gerade junge Menschen sich für Wissenschaft interessieren und sich faszinieren lassen von der Forschung. Das ESOF und der Wissenschaftssommer bieten dafür viele Gelegenheiten. Es wird spannend hier in München - und nicht nur, weil im Wissenschaftszelt drüben auf dem Marienhof wieder Fußball gespielt wird - diesmal von Robotern!

Ich wünsche Ihnen allen eine gute Zeit, viele neue Erkenntnisse und vor allem: viele europäische Begegnungen!