Redner(in): Horst Köhler
Datum: 2. September 2006
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/09/20060902_Rede.html
I. Für die Theologin Katharina Elliger begann die Geschichte ihrer Vertreibung aus dem oberschlesischen Bauerwitz gestern - gestern vor 67 Jahren. In ihrem anrührenden Erinnerungsbuch "Und tief in der Seele das Ferne" schreibt sie: "Am 1. September war besonders schönes Wetter. Meine Geschwister und ich spielten mit ein paar anderen Kindern hinter der Scheune Fußball. Da winkte Vater durchs Küchenfenster, wir sollten heraufkommen. Wir standen dann alle vier vor ihm in der Küche, erhitzt vom Spiel. In merkwürdig verhaltenem Tonfall sagte er: ' Es ist Krieg. Es wird schlimm werden. Möge Gott uns helfen. '"
Es wurde schlimm, und es wurde schwer, Gott zu verstehen. Getrieben durch Hitlers Wahn vom "Lebensraum im Osten" begann Deutschland einen Krieg, dessen Ziel die ethnische Neuordnung weiter Teile Osteuropas durch Vertreibung, Umsiedlung, Deportation, Vernichtung und Germanisierung war. Millionen von Menschen fielen diesem Wahn zum Opfer. Allein über eine Million Polen wurden von Deutschen deportiert und vertrieben. Fünf bis sechs Millionen polnische Staatsbürger kamen unter der deutschen Besatzung ums Leben, davon drei Millionen Juden.
Am Ende schlug die von Deutschland ausgegangene Gewalt grausam dorthin zurück. Dabei verloren etwa 15 Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat. Zwei Millionen von ihnen, meist Alte, Kinder und Frauen, überlebten den Marsch nach Westen nicht. Sie erfroren auf den Rückzugsstraßen, ertranken in der eisigen Ostsee oder gingen an Hunger und Seuchen zugrunde. Abertausende Deutsche wurden ermordet, ungezählte Frauen vergewaltigt. Und vielen Überlebenden sind die Schrecken jener Zeit noch immer gegenwärtig, als wäre alles erst gestern geschehen.
Deutschen Vertriebenen ist Unrecht angetan worden. Und doch reichten sie die Hand zur Versöhnung. In der Charta der Heimatvertriebenen vom August 1950erteilten sie dem Gedanken an Rache und Vergeltung eine entschiedene Absage. Sie versprachen: "Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas." Dieses Versprechen haben sie gehalten. Das gehört zu den großen Leistungen der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die sie mit Recht stolz sein können. Und ich möchte Ihnen auch heute dafür meinen Dank aussprechen.
II. Dass wir das heute sagen können, ist alles andere als selbstverständlich. Es ist ein Wunder genannt worden, dass zehn, zwölf Millionen völlig verarmte Menschen in die spätere Bundesrepublik und in die DDR so erfolgreich integriert wurden. Aber das Wunder ist hart erarbeitet worden, und die Ausgangsbedingungen dafür waren ungeheuer schwierig - so schwierig, dass die Flüchtlingsfrage damals als "Sprengstoff" und als "Deutschlands Problem Nr. 1" betrachtet wurde, wie es 1952 in der Zeitschrift "Das Parlament" hieß.
Denn der Strom von Flüchtlingen kam ja in ein vom Krieg verwüstetes Land. Wohnraum und Lebensmittel waren knapp und mussten nun auch noch mit den Vertriebenen geteilt werden. Das führte unweigerlich zu Spannungen. Vor allem auf dem Lande stießen die Vertriebenen nicht selten auf Argwohn und Ablehnung, manchmal sogar offene Feindschaft. Aber fast jeder Vertriebene kann auch von der Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft erzählen, die er erlebt hat; so wie im übrigen manche auch berichten können von anrührenden Gesten der Mitmenschlichkeit während der Vertreibung, zum Beispiel von Polen oder Tschechen gegenüber Deutschen.
Und die Neubürger erwiesen sich schon bald gerade nicht als sozialer "Sprengstoff", sondern als eine entscheidende Kraft beim deutschen Wiederaufbau und Wiederaufstieg. Mit Fleiß, Leistungswillen und der Bereitschaft, sich auf Neues einzustellen, nahmen sie ihr Schicksal in die Hand. Hätten die Vertriebenen nicht so tatkräftig mit angepackt und den Blick nach vornegerichtet, das westdeutsche Wirtschaftswunder wäre mindestens bedeutend kleiner ausgefallen.
Und trotz mancher Vorurteile im Einzelfall: Die Einheimischen zeigten sich damals mit den Vertriebenen solidarisch und ließen ihnen große materielle Unterstützung zukommen. Der Lastenausgleich in Westdeutschland war eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung von historischen Dimensionen. Bis in unsere Tage hinein übrigens. Erst vor kurzem habe ich ein Gesetz zur Änderung und Bereinigung des Lastenausgleichsrechts unterschrieben. Dabei habe ich gelernt, dass immer noch rund 800 Anträge auf Lastenausgleich zu bearbeiten sind. Natürlich ist der Lastenausgleich alles in allem längst abgeschlossen - und auch das ist eine unserer ganz großen Erfolgsgeschichten.
III. Die Integration der Vertriebenen war auch das Ergebnis der Bereitschaft, sich auf Neues einzustellen und aufeinander zuzugehen. Einheimische und Vertriebene fanden zueinander, übrigens auch nicht selten vor dem Traualtar.
Dieses gute Miteinander hat Deutschland und die Deutschen zutiefst verändert. Nur rund ein Drittel der Vertriebenen war noch in den Berufen tätig, die sie vor ihrer Vertreibung ausübten. Auf der konfessionellen Landkarte wurden die Farben kräftig gemischt - rein evangelische und rein katholische Landstriche gab es nun fast gar nicht mehr. In ländliche Gebiete zogen Städter ein und in die westdeutschen Großstädte Vertriebene, die bisher auf dem Lande gelebt hatten. Soentstand auf tausenderlei Weise ein neues Volk "aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen", wie es in einer Analyse heißt, und diese Vermischung trug wesentlich dazu bei, gegenseitige Vorurteile erst in Frage zu stellen und schließlich zu überwinden - zum Wohle Aller.
Ich finde, daraus lässt sich auch heute manches lernen. Gewiss, damals kamen Deutsche zu Deutschen, und das hat die Integration erheblich erleichtert. Aber dafür waren die materiellen Begleitumstände viel schwieriger und härter als heute. Damals ist die Integration im Lauf der Jahre gelungen, weil auf allen Seiten die nötigen Anstrengungen dafür geleistet wurden. Das kann uns darin bestärken, dass wir auch die Integrationsaufgaben meistern können, vor denen wir heute stehen.
IV. Die Integration der Vertriebenen ist gelungen, und dieser Erfolg und die Überwindung der Teilung Europas geben uns die Freiheit, nun gemeinsam auch mit unseren Nachbarn über die Vergangenheit zu sprechen - über die eigene Leidensgeschichte und über die Leidensgeschichte unserer Nachbarn.
Darum ist es gut und begrüßenswert, dass sich immer mehr Menschen mit diesem Thema beschäftigen: in ihrer Arbeit als Historiker, Journalisten, Künstler, im Familienkreis, in der Schule und auch in vielen grenzüberschreitenden Projekten, zum Beispiel im Rahmen von Städtepartnerschaften. Es gibt ein riesiges Interesse an Büchern, Fernsehdokumentationen und Ausstellungen über "Flucht, Vertreibung, Integration". Für die gleichnamige Ausstellung des Bonner Hauses der Geschichte habe ich die Schirmherrschaft übernommen. Warum? Weil ich überzeugt davon bin, dass wir auch weiterhin über dieses Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte sprechenundnachdenken müssen, damit wir den Weg in die Zukunft finden.
Wir müssen darüber sprechen, weil die Menschen, denen unermessliches Leid widerfahren ist, Anspruch auf unser Mitgefühl und unsere Solidarität haben.
Wir müssen darüber sprechen, weil die Kultur und die Geschichte der Vertriebenen zu unserer Identität gehören.
Und wir müssen das Gespräch darüber mit unseren polnischen, tschechischen, slowakischen, undungarischen Nachbarn, den anderen Nachbarländern und Freunden suchen, weil zu einer gemeinsamen guten Zukunft auch gehört, dass wir aufrichtig und auf Versöhnung bedacht mit unserer Vergangenheit umgehen.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat einmal gesagt: "Man muss nicht zum Sklaven der Vergangenheit werden, aber in diesem Teil Europas muss man niederknien und die Vergangenheit auf die Schulter laden. Dann kann man hingehen, wo immer man will."
V. Daher tun wir gut daran, auch den Vertriebenen zuzuhören, Ihnen zuzuhören. Nicht nur, um zu erfahren, wie es damals war. Sondern auch, um den Flüchtlingen und Vertriebenen dabei zu helfen, mit der Last umzugehen, die ihnen noch immer auf der Seele liegt. Und ich weiß, wovon ich spreche, auch mir liegt ein Stück davon auf der Seele.
Das Psychologische Institut in Hamburg hat 1999 erstmals eine Untersuchung unter 270 Vertriebenen durchgeführt. Davon 205 Frauen, die bei der Flucht zwischen 9 und 21 Jahren alt waren. Mehr als die Hälfte von ihnen war vergewaltigt worden. Drei Fünftel der Befragten litten unter traumatischen Störungen. Weit überproportional sind heute Vertriebene und ihre Kinder unter den Patienten von Schmerztherapeuten zu finden. Viele Vertriebene haben jahrzehntelang über ihr Schicksal geschwiegen. Aus Scham über die Demütigungen, die sie erleben mussten, und aus Schmerz über die schrecklichen Erlebnisse, die sie zu verdrängen suchten, so gut es eben ging. Erst spät, im hohen Alter, fanden manche Worte für das, was sie erlebt haben. Viele dieser Worte erreichen mich durch Zuschriften, durch Bücher, durch Dokumente. Und ich bin dankbar dafür.
Ich finde es gut, dass immer mehr Enkel und Urenkel sich für weiße Flecken ihrer Familiengeschichte interessieren, dass sie wissen wollen, was damals geschah, dass sie die Wurzeln ihrer Familie genauer kennen lernen wollen. Diesen Wunsch teilen sie im Übrigen mit gleichaltrigen Polen, Slowaken, Tschechen, Ungarn, Esten, und anderen Mittel- und Osteuropäern.
VI. Zum Verständnis der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört das Verständnis für die Tragödie und die Leistung der deutschen Heimatvertriebenen. Zum Verständnis der deutschen Geschichte und Kultur gehört das Verständnis der Geschichte und Kultur des ehemaligen deutschen Ostens. Dafür stehen Namen wie Andreas Gryphius, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Joseph von Eichendorff, E. T. A Hoffmann und Käthe Kollwitz. Und Orte wie die Marienburg in Ostpreußen, die Jahrhunderthalle in Breslau, die Friedenskirchen in Schweidnitz und Jauer - sie alle gehören heute zum Weltkulturerbe und bleiben doch Teil unseres kulturellen Erbes, auch wenn sie unwiderruflich nicht mehr Teil Deutschlands sind.
Darum halte ich es für wichtig, dass gerade die jungen Deutschen mehr über die Geschichte des Ostens erfahren. Darum ist es so wünschenswert, dass ihre Bildungsreisen sie eben auch nach Masuren und ins Riesengebirge, nach Tilsit und nach Oppeln führen, um wichtige Wurzeln unserer Geschichte und Kultur kennen zu lernen und um gemeinsam mit ihren Altersgenossen aus ganz Europa an einem neuen, besseren Miteinander zu bauen: in einer Europäischen Union, in der uns die staatlichen Grenzen nicht länger trennen, sondern verbinden. Das ist ein Traum, aber ich glaube, er kann Wirklichkeit werden. Und deshalb ist es auch gut, wenn Fußballfans erklären können, warum eigentlich der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 2006 mit Miroslav Klose und Lukas Podolski zwei Spieler angehörten, die in Polen geboren sind.
Und weil Frau Steinbach Bessarabien ansprach, wo meine Eltern herkommen, will ich es doch präzisieren: Wie Sie wissen, stammen meine Eltern aus Bessarabien. Sie wurden umgesiedelt nach Polen. Sie wurden in Polen in ein Haus einquartiert, das vorher die Nazis den polnischen Bauern weggenommen haben. Die Flucht vor der Kriegsfront brachte uns dann nach Deutschland. Die Biografie meiner Familie ist also von Umsiedlung und Flucht bestimmt. Nicht von Vertreibung, aber ich weiß, was die ganze Geschichte bedeutet - durch mein eigenes familiäres Erlebnis.
VII. Gemeinsame Erinnerung eröffnet Chancen für gegenseitiges Verständnis. Wer zuhört, lernt Respekt vor den Lebensläufen der anderen. Wer sich öffnet, findet Trost durch das Mitgefühl der anderen. Dieser Überzeugung waren auch Bundespräsident Johannes Rau und der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, als sie im Oktober 2003 in Danzig gemeinsam erklärten: "Wir müssen der Opfer gedenken und dafür sorgen, dass es die letzten waren. Jede Nation hat das selbstverständliche Recht, um sie zu trauern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nicht missbraucht werden, um Europa erneut zu spalten. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr geben für Entschädigungsansprüche, für gegenseitige Schuldzuweisungen und für das Aufrechnen der Verbrechen und Verluste." Für mich war diese Erklärung auch ein zentraler Ausgangspunkt für die Gespräche mit Präsident Kaczynski. Und wir hatten gute Gespräche, die wir fortsetzen werden. Ich glaube das ist jetzt noch dringlicher als zuvor.
Es ist gut, dass auch Sie, Frau Präsidentin Steinbach, und der Bund der Vertriebenen die Danziger Erklärung und ihre Ziele begrüßt und gutgeheißen haben. Unsere eigene Diskussion über das Thema Flucht und Vertreibung sollte eingebettet sein in einen europäischen Dialog. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir für diesen Dialog Sensibilität und auch die Fähigkeit zur Differenzierung brauchen.
Ich weiß, viele wünschen sich zumindest eine menschliche Anerkennung des Unrechts der Vertreibung. Und es gab und gibt auch Zeichen dafür. So wurde im vergangenen Jahr in Anwesenheit des stellvertretenden tschechischen Außenministers in Aussig an der Elbe, dem heutigen Ústi nad Labem, eine Gedenktafel für die deutschen Opfer des 31. Juli 1945 eingeweiht. In Budaörs in Ungarn ist im Juni dieses Jahres ein Denkmal für die vertriebenen Deutschen errichtet worden. Diese Beispiele zeugen von gemeinsamer Trauer über die Opfer und von der Bereitschaft, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Ich wünsche mir, dass diese Beispiele Schule machen und darauf müssen wir hinarbeiten.
Zugleich finde ich die Frage bedenkenswert, die Helga Hirsch - die den Vertriebenen gewiss wohlgesinnt ist - an sie gerichtet hat: ob nicht womöglich das Pochen auf Wiedergutmachung und auf Rechtspositionen mitunter den Weg versperrt, mit der Vergangenheit und mit sich selber Frieden zu machen? Denn Vieles lässt sich eben nicht "wiedergutmachen", auch wenn es Unrecht war. Und manchmal ist es vielleicht am besten, das als Schicksal anzunehmen. So habe ich Helga Hirsch gelesen, und ich glaube, es ist ein guter Gedanke.
VIII. Wir müssen geduldig vermitteln, dass es in Deutschland keine ernstzunehmende politische Kraft gibt, die die Geschichte umschreiben will. Ich sehe sie nicht, und das müssen wir auch deutlich sagen. Zuletzt hat die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen bei unseren Nachbarn manche beunruhigt und sorgenvoll gestimmt. Diese Besorgnisse sollten wir nicht ignorieren - gerade wenn wir sie für unbegründet halten. Es gibt keinen Zweifel daran, was die auslösende Ursache für Flucht und Vertreibung war: Das nationalsozialistische Unrechtsregime und der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg. Ich begrüße es, dass sich der Bund der Vertriebenen von der Preußischen Treuhand distanziert hat. Es geht eben nicht um materielle Entschädigung, sondern es geht um die Erinnerung an menschliches Leid und um unsere Entschlossenheit, solches Leid nicht mehr zuzulassen. Dafür ist unter Nachbarn immer die erste Voraussetzung: Lassen Sie uns miteinander reden, statt übereinander. Der unvergessene Papst Johannes Paul II. hat einmal gesagt: "Es ist Gottes Wille, der Deutschland und Polen zu Nachbarn gemacht hat." Ich begreife das als Auftrag. Und ich hoffe, dass wir es alle als Auftrag begreifen können, aus dieser Nachbarschaft gemeinsam etwas Gutes zu machen.
Die schon erwähnte Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" zeigt, dass es möglich ist, an das individuelle Leid der Opfer von Vertreibung zu erinnern und zugleich den historischen Zusammenhang im Blick zu behalten. Ich bin überzeugt, dass diesem Anspruch auch das "sichtbare Zeichen" genügen wird, das die Bundesregierung in Verbindung mit dem "Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität" in Berlin setzen will, um an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und sie als Mittel der Politik zu ächten. Und ich bin überzeugt, dass zu diesem Projekt auch die deutschen Vertriebenen beitragen können und sollten.
IX. Die jüngsten Diskussionen zeigen: Ein gemeinsames europäisches Erinnerungswerk aufzubauen, es vom Willen der Menschen getragen zu sehen, das verlangt einen langen Atem. Dabei sollten wir uns durch Widerstände und Schwierigkeiten nicht entmutigen lassen. Es braucht Zeit, bis man gemeinsame Erinnerungen annehmen kann. Ich habe aber keinen Zweifel, dass es uns im gemeinsamen Europa am Ende gelingen wird, Erinnerung und Versöhnung zu verbinden.
Und die Menschen kommen ja auch längst zusammen. Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die baltischen Staaten - sie alle sind Mitglieder der Europäischen Union. Die Grenzen sind offen. Der Historiker Karl Schlögel beschreibt in seinen Essays anschaulich das Werden eines neuen Europas, in dem Waren und Ideen frei zirkulieren. Städte wie Posen, Reval und Riga kehren auf die gemeinsame Landkarte zurück. Und mit ihnen die verschütteten Erinnerungen an die deutschen Kulturleistungen im östlichen Europa. Zum elften Mal bereits findet im November in Prag das Theaterfestival deutscher Sprache statt. Ich bin Schirmherr, zusammen mit dem tschechischen und dem österreichischen Präsidenten. Das Deutsch-Polnische Jahr 2005/2006 hat mit beeindruckenden 2000 Veranstaltungen in Deutschland und Polen gezeigt, wie viele Beziehungen und welch intensiven Austausch es zwischen unseren beiden Ländern gibt. Auch das Deutsch-Polnische Jugendwerk trägt zu einem besseren Verständnis der jungen Generation bei.
Gerade Deutschland und Polen haben seit dem Ende des Krieges und dem Fall des EisernenVorhangsgemeinsam eine Menge erreicht. Bei meinen zahlreichen Besuchen in Polen konnte ich mich davon überzeugen. Aber wir - Deutsche und Polen - haben auch im Rahmen der Europäischen Union viele gemeinsame Interessen, die wir angehen sollten. Ich nenne nur die europäische Nachbarschaftspolitik im Osten. Auf diesen Gemeinsamkeiten sollten wir weiter aufbauen, und ich glaube, dann wird das Werk auch gelingen.
X."Menschenrechte achten - Vertreibungen ächten", so lautet das Motto des diesjährigen Tages der Heimat. Es erinnert uns daran, dass in den 60 Jahren seit der Vertreibung der Deutschen das Recht auf ein Leben in der eigenen Heimat in vielen Teilen der Welt missachtet wurde und bis heute missachtet wird. Ob im ehemaligen Jugoslawien, in Afrika oder in Osttimor - immer wieder stürzen ethnischer Hass, nationalistische Verblendung und nicht zuletzt der blinde Glaube an die Vorzüge eines ethnisch homogenen Nationalstaats die Welt immer wieder in tiefe Konflikte, bringen Tod, Leid und Elend über die Menschen.
Vertrieben, heimatlos - Millionen erlitten und erleiden noch immer dieses Schicksal und tragen für immer daran. Das kann niemanden gleichgültig lassen. Vertreibungen sind Unrecht, und sie dürfen kein Mittel der Politik sein. Es ist Aufgabe der ganzen Völkergemeinschaft, dieser Erkenntnis überall auf der Welt zum Durchbruch zu verhelfen - beharrlich, aber mit dem Ziel, am Ende doch eine bessere Welt zu schaffen. Ich danke Ihnen.
Die Rede in polnischer Sprache alspdf-Datei