Redner(in): Roman Herzog
Datum: 24. April 1997
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/04/19970424_Rede.html
Daß die bayerischen Sparkassen ihren Sparkassentag 1997 in Nürnberg abhalten, wird nicht nur den Oberbürgermeister dieser Stadt und das örtliche Hotel- und Gaststättengewerbe erfreuen. Alle, die - wie ich - ihre Bindung an ihre bayerische Heimat nicht verloren haben oder als Zugereiste in diesem Land leben, können sich auch darüber freuen.
Denn Nürnberg vereint in einer für Bayern typischen Weise Tradition und Moderne. Es steht keineswegs nur für ein liebevoll erhaltenes und wieder neu erstandenes mittelalterliches Stadtbild, für Lebkuchen und Weihnachtsmarkt. Nürnberg war erster Demonstrationsort für die zentrale Basisinnovation des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn. Der Großraum Nürnberg-Fürth-Erlangen fand nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem rasanten Aufschwung. Wirtschaftlichen Erfolg brachte der Region vor allem die Konsumgüterbranche.
Heute ist das Städtedreieck zukunftsorientierter Standort mit zahlreichen universitären und außeruniversitären Einrichtungen für Forschung, Innovation und Invention. Ich nenne als Beispiel nur die Erfindermesse Nürnberg oder das Erlanger Fraunhofer Institut für integrierte Schaltungen. Besonderen Anteil haben die Erlanger Forscher an der Entwicklung des digitalen Rundfunks der Zukunft.
Aber nicht nur die Region um Nürnberg - ganz Bayern steht in vorbildlicher Weise für Offenheit gegenüber Innovationen und technischem Fortschritt. Der Freistaat zeigt damit, daß struktureller Wandel erfolgreich bewältigt werden kann und daß ausreichend neue als Ersatz für alt gewordene Arbeitsplätze entstehen können. Voraussetzung dazu ist allerdings, daß zukunftsorientierte Wirtschaftszweige genügend Raum erhalten und daß an traditionellen, schrumpfenden Branchen nicht über Gebühr lange festgehalten wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in Bayern auf dieser Grundlage ein sehr harter, aber auch erfolgreicher Strukturwandel vom Agrarstaat zum High-Tech-Land vollzogen: 37 Prozent der westdeutschen Branchenumsätze im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung, 36 Prozent der Umsätze in der Luft- und Raumfahrt und 28 Prozent in der Elektrotechnik werden hier erzielt. Und was wir besonders zukunftsweisend erscheint: Der Anteil der privaten Dienstleistungsbranchen an der bayerischen Wirtschaft liegt deutlich über 50 Prozent.
Diese Erfolge wären nicht möglich gewesen, wenn sich Bayern gegen den zukunftsorientierten Trend gestemmt und den Agrarstaat der 50er Jahre unverändert am Leben erhalten hätte. Vor allem: Neue Arbeitsplätze in den modernen Dienstleistungsbranchen wären nicht oder nur in sehr viel geringerem Maße entstanden, ohne daß der Arbeitsplatzabbau in den traditionellen Branchen letztlich hätte verhindert werden können.
Erhaltungssubventionen sind zwar manchesmal nicht zu vermeiden, sie fallen aber nicht vom Himmel, sondern sie müssen von allen Steuerzahlern erwirtschaftet werden. Und: sie fehlen für andere, sinnvolle, zukunftsorientierte Zwecke, für Forschung, Entwicklung und Innovation.
Hier leben wir übrigens z. T. von der Substanz. Gemessen am Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung ist Deutschland unter den sieben größten Industrienationen der Welt vom zweiten auf den vierten Rang abgerutscht - hinter Japan, den USA und Frankreich. Jede Mark kann nur einmal ausgegeben werden. Auch wenn es immer wieder notwendig ist, Strukturbrüche zu vermeiden und den Wandel sozial abzufedern - oft stehen wir vor der Entscheidung: Subventionierung der Vergangenheit oder Forschung, Entwicklung, Innovation für die Zukunft?
Das gilt übrigens nicht nur für Bayern, sondern für ganz Deutschland: Unsere drängenden Beschäftigungsprobleme lösen sich nicht dadurch, daß wir nicht mehr wettbewerbsfähige Arbeitsplätze um jeden Preis zu erhalten versuchen. Zukunftsorientierte, dauerhafte Arbeitsplätze werden nur durch neue Produkte, neue Verfahren und eine umfassende Veränderungsbereitschaft der ganzen Gesellschaft - das ist nicht nur eine Sache der Regierungen - möglich. Selbstverständlich muß der Strukturwandel in der sozialen Marktwirtschaft sozial begleitet werden. Verzögerter oder gar verhinderter Strukturwandel schafft aber letztlich nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze.
Maßgeblichen Anteil an der Dynamik, Flexibilität und Zuverlässigkeit der bayerischen Wirtschaft haben die bayerischen Sparkassen. Von Anfang an waren die Förderung der lokalen mittelständischen Wirtschaft, der Auf- und Ausbau der örtlichen Infrastruktur und die Unterstützung gemeinnütziger Anliegen ihre obersten Ziele. Und: Sie sorgen erfolgreich dafür, daß die Ersparnisse aus ihrem Geschäftsgebiet auch wieder an Ort und Stelle investiert werden.
Das ist vor allem für junge, kleinere und mittlere Unternehmen wichtig. Denn die haben in der Regel keinen Zugang zu überregionalen Kapitalmärkten, sind aber der eigentliche Beschäftigungsmotor der deutschen Wirtschaft geworden. Ich sage es immer wieder: Nur selbständige, kleine und mittlere Unternehmen schaffen derzeit netto neue Arbeitsplätze und gleichen bis zu einem gewissen Grad die Arbeitsplatzverluste, die anderswo entstehen, aus.
Ich begrüße es deshalb sehr, daß die bayerischen Sparkassen hier einen besonderen Akzent setzen. Es ist kein Zufall, daß fast jede zweite Existenzgründung in Bayern mit Hilfe der Sparkassen finanziert wird. Die Sparkassen wissen offenbar: Der globale Sturkturwandel und die rasante technologische Entwicklung werden nicht bewältigt durch Reden - auch nicht des Bundespräsidenten - , sondern vor allem durch konkrete Taten der Unternehmer, der Arbeitnehmer, der politisch Verantwortlichen, aber eben auch der Banken.
Deshalb will ich heute bei Ihnen keine umfangreiche Ansprache zu den Herausforderungen an den Standort Deutschland halten. Ich will nur einen einzigen Punkt hervorheben:
Was die jeweils Verantwortlichen zur Überwindung unserer Standortprobleme, vor allem zum nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit, tun müssen, ist einigermaßen klar. Analyse- und Diskursmaterial dazu liegt ausreichend vor. Es ist auch gar nicht so umstritten, wie es oft den Anschein hat. Das wissen auch die meisten verantwortlichen Akteure - Wirtschaftspolitiker, Sozialpolitiker, Tarifpolitiker, Forschungs- und Bildungspolitiker, um nur einige zu nennen.
Aber: Wir müssen jetzt endlich handeln und nicht immer nur verhandeln. Wir müssen etwas tun und nicht immer nur reden. Wir müssen das Notwendige verändern und nicht immer nur aufzeigen, warum etwas nicht geändert werden kann oder darf. Wir müssen die virtuelle Problem- und Verhandlungsszenerie verlassen und endlich wieder zur Realität der Menschen, zu ihren Problemen und deren Bewältigung zurückkehren.
Niemand muß mich davon überzeugen, wie wichtig Verfahren der Konsensbildung und gesichtswahrende Lösungen sind. Oft werden aber Verhandlungsrituale um ihrer selbst willen befolgt oder gar zur Durchsetzung eigener Partikularinteressen instrumentalisiert. Die öffentlich ausgetragenen Kontroversen beeindrucken vielfach vor allem durch ihre Aufgeregtheit und durch die Verteidigung von auch geistigen Besitzständen, damit man keine neuen Ideen hat, nicht aber durch das Bewußtsein, in gemeinsamen Interessen verbunden zu sein.
Ein solches Verhalten mag in konjunkturellen Schönwetterzeiten angehen. Jetzt, wo allen Beteiligten das drängende Gewicht unserer Beschäftigungsprobleme klar sein muß, sollte aber niemand konsensfähigen Lösungen nur deshalb nicht zustimmen, verzögern oder gar ablehnen, weil man sich durch Zuwarten einen kleinen gruppenspezifischen Vorteil versprechen mag. Die Bürger haben dafür kein Verständnis mehr. Und ich auch nicht.
Die Menschen in Deutschland sind heute reform, - innovations- , aber auch opferbereiter, als ihre Vertreter häufig glauben. Sie fragen sich zunehmend, mit wessen Mandat notwendige Veränderungen immer wieder verzögern werden, zu denen sie selber bereit sind. Staat und Tarifpartner und alle, die es sonst noch angeht, müssen jetzt handeln! Und ich muß jetzt gehen.
Vielen Dank!