Redner(in): Horst Köhler
Datum: 30. Mai 2007

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2007/05/20070530_Rede2.html


Wir feiern ein Ereignis. Die Spitzenwerke der französischen Malerei aus dem Metropolitan Museum in New York sind für vier Monate zu Gast bei uns. Die Vorfreude hier in Berlin ist gewaltig - und ganz sicher werden wieder aus ganz Deutschland und ganz Europa Besucher kommen und vor den Toren der Nationalgalerie Schlange stehen. Sie alle wollen dabei sein, wenn hier in Berlin etwas sehr denkwürdiges geschieht.

Was geschieht hier nämlich? Ich glaube, dass hier mehr stattfindet als eines der Kunstgroßereignisse, der sogenannten Events, die mit großen medialen Paukenschlägen die Massen mobilisieren, die aber zum großen Teil bald wieder vergessen sind.

Diese Ausstellung ist in meinen Augen etwas anderes: Sie ist ein geistiges, ein kulturgeschichtliches Ereignis von großer Aussagekraft. Vielleicht kann man es mit einem ganz kurzen Satz sagen: Europa kehrt heim zu sich selbst.

Diese großen französischen Maler des 19. Jahrhunderts haben einen sehr spezifischen Blick auf die Welt riskiert, der in dieser Weise nur hier in Europa entstehen konnte, in der Folge der europäischen Kultur- und Malereigeschichte. Ganz gewiss sind sie auch sehr französisch - und wie sehr sie sich von deutscher Malerei zum Beispiel unterscheiden, kann man in der Alten Nationalgalerie sehen. Dort hängen ja, inmitten der großen deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, auch Spitzengemälde des französischen Impressionismus. Hier wird Dialog sichtbar, gegenseitiger Einfluss und Lernen voneinander, sichtbar werden aber auch immer sehr spezifische Unterschiede.

Dieser europäische Blick auf die Welt, der im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts immer subjektiver und individueller wird, namentlich im Impressionismus, hat zwar nicht sofort alle Zeitgenossen überzeugt. So ist das bekanntlich oft bei aktueller, gegenwärtiger Kunst. Aber er hat doch in sehr kurzer Zeit die ganze Welt fasziniert. Und diese Faszination ist im Laufe der Zeit immer stärker geworden und sie dauert bis heute an.

Dieser französische, dieser europäische Blick auf die Welt ist zu einer weltweit verständlichen Sprache der Kunst geworden. Überall liebt man diese Bilder.

Deswegen sind viele dieser Bilder nicht im Alten Europa geblieben. Gerade in der Neuen Welt, gerade in Amerika, war man fasziniert und begeistert. Und zwar nicht erst später, sondern sofort. Die meisten Bilder der Sammlung, die wir hier sehen werden, sind von Zeitgenossen gekauft worden. Im übrigen ist das eine kleine Parallele zu Berlin, wo die französischen Impressionisten für die Alte Nationalgalerie auch von Zeitgenossen gekauft wurden, nicht erst, nachdem sie sich, wie man so sagt, am Markt durchgesetzt hatten.

In Amerika fand die europäische Kunst bei vielen begeisterten Sammlern und Kunstliebhabern ein Zuhause. Und nachdem manche dieser Kunstliebhaber ihre Sammlungen an das Metropolitan Museum gegeben hatten, hängen jetzt die zarten Seerosen von Monet, die Äpfel Cézannes und der provencalische Obstgarten van Goghs mitten in New York, in der Stadt, die nie schläft, in der brodelnden Metropole der Neuen Welt. Sie erinnern ihre amerikanischen Besucher und Betrachter an die europäischen Wurzeln ihrer Kultur und an die bleibende Verbindung mit Europa und den gemeinsamen kulturellen Werten.

Jetzt sind diese Meisterwerke zu Gast in Europa. Sie sind zwar nicht nach Paris, sondern nach Berlin gekommen, aber dennoch kann man sagen: Sie sind auf Besuch zu Hause und wir freuen uns sehr darüber.

Wie sehr die europäische Kunst in der ganzen Welt nicht nur geschätzt, sondern begehrt wird, erkennt man an manchen spektakulären neuen Museumsvorhaben außerhalb Europas. Ich denke an die kürzlich in Paris getroffene Entscheidung, eine Art zweiten Louvre in Dubai zu errichten, oder an ähnliche Kooperationsmodelle großer Museen mit Städten in China. Ich weiß, dass diese Entscheidungen bzw. Projekte äußerst umstritten sind. Ich will mich hier auch nicht auf eine bestimmte Seite schlagen.

Ich konstatiere aber an diesen Projekten folgendes: Die europäische Kunst, die alte und die neuere, ist offenbar ein weltweit begehrtes Gut. Und auch in den Kulturen, deren Ideenwelt und Ästhetik so ganz anders ist, also etwa in der arabischen und der chinesischen, ist man bereit, sehr viel dafür zu tun, nicht zuletzt sehr viel Geld dafür auszugeben, diese europäische Kunst auch bei sich zu haben, sie bei sich zeigen zu können und zu sehen. Europa hat - und das können wir ohne falschen, übertriebenen Stolz sagen - in dieser seiner Kunst, die sich über die Jahrhunderte in einer unvergleichlichen Vielfalt entwickelt hat, einen unermesslichen Schatz, einen Schatz, an dem die ganze Welt teilhaben möchte.

Aber wenn man europäische Kunst einkauft, dann kauft man, um es einmal so schlicht zu sagen, nicht nur schöne bunte Bilder.

Die europäische Kunst ist ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur und ihrer Geschichte insgesamt. In ihr spielt das Christentum eine bedeutende Rolle, das zwar einen Bilderstreit, aber kein Bilderverbot kennt und so die Kunst, wie wir sie kennen, erst ermöglicht hat. In der Kunst der Reformationszeit drückt sich dann die persönliche, individuelle Frömmigkeit aus, ohne deren Ausdruck wiederum die Innigkeit, die tiefe Empfindsamkeit für Schönheit und Bedeutung des Alltäglichen nicht denkbar ist. Die Romantik und später der Impressionismus sind schließlich Ausdruck einer zutiefst subjektiven und freien Sicht auf die Welt und den Menschen.

Immer wieder hat die Kunst Konventionen entwickelt und Konventionen wieder gesprengt. Immer wieder haben die Künstler sich zu einem neuen Bild vom Menschen und von der Welt hinbewegt und so am beständigen Prozess der Selbstverständigung der europäischen Kultur mitgearbeitet. Aufklärung und Individualität, Freiheit und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Glaube und Glaubenskritik: all das gehört zur europäischen Kunst und zur europäischen Kultur. Europäische Kunst versteht nur, wer auch die Werte und Überzeugungen versteht, die diese Kunst tragen - und die diese Kunst zu einem großen Teil wiederum mit hervorgebracht hat. Wenn also europäische Kunst weltweit begehrt wird - sind es dann nicht letztlich auch diese in der langen Konfliktgeschichte Europas entstandenen Werte und Überzeugungen?

Ich freue mich wirklich sehr, dass wir in Berlin heute diese fantastische Ausstellung eröffnen können. Sie wird der Stadt einen wunderbaren Kunstsommer schenken.

Viele haben dafür gesorgt, dass diese Ausstellung möglich wurde. Ganz besonders haben wir aber zu danken dem Verein der Freunde der Nationalgalerie. Das Engagement dieses Vereins und seiner Mitglieder ist beispielhaft - eben weil es nicht nur für so unübersehbare, große Ereignisse sorgt wie die überaus erfolgreiche MOMA-Ausstellung und nun wieder diese Ausstellung hier, sondern weil sie sich beharrlich und unbeirrbar auch für das Nicht-spektakuläre einsetzt und es so immer wieder ermöglicht, dass auch die neue und neueste Kunst ihren Platz finden kann.

Diese Ausstellung hier, da bin ich mir ganz sicher - aber dafür braucht man kein großer Prophet zu sein - wird sicher ein Erfolg.

Lassen wir uns die Augen öffnen von diesen Meistern des Sehens. Sicher sind uns viele dieser Meisterwerke von Drucken und Abbildungen her vertraut. Aber täuschen wir uns nicht: wenn wir genau hinsehen, dann sehen wir eben nicht bloß alte Bekannte, sondern wir können immer noch neu lernen hinzusehen: auf diese Kunst - aber durch sie auch auf die Welt und die Menschen und auf uns selbst.