Redner(in): Horst Köhler
Datum: 19. Juni 2007
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2007/06/20070619_Rede.html
Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Die Deutsche Nationalstiftung hat seit ihrer Gründung vor 14 Jahren viel dafür getan, dass die Menschen in Ost und West die deutsche Einigung auch mit dem Herzen erleben konnten. Spätestens der Sommer des vergangenen Jahres hat uns gezeigt: Es gibt in unserem Land eine gemeinsame, eine gute Haltung zu Deutschland. Es gibt ein Nationalgefühl, das geprägt ist von Verantwortung und von Liebe zu Deutschland. Unsere Nachbarn haben diesen Wandel unseres Selbstbildes verfolgt: aufmerksam und zumeist mit großer Sympathie. Das tut gut.
Die Deutsche Nationalstiftung hat sich mit ihrer Arbeit große Verdienste um die politische Kultur in Deutschland erworben.
Die Verleihung des Nationalpreises 2007 an Eustory zeigt das gute Gespür der Stiftung. Die Deutsche Nationalstiftung zeichnet in diesem Jahr ein Netzwerk aus, dessen Besonderheit gerade darin liegt, dass es international ausgerichtet ist. Eustory verbindet mittlerweile 19 nationale Geschichtswettbewerbe. Mit diesem Projekt wird das Bewusstsein für die eigene Geschichte in einen europaweiten Kontext gestellt. Ich finde das nicht nur zeitgemäß, sondern auch spannend. Eustory beschreitet hier Neuland: Nationales Geschichtsverständnis tritt in einen europäischen, grenzüberschreitenden Austausch.
Der Körber-Stiftung, die seit 34 Jahren den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten begleitet, gebührt besonderer Dank und Anerkennung dafür, dass sie nun auch dieses europäische Netzwerk auf den Weg gebracht hat und betreut.
Das Dach von Eustory reicht über die Europäische Union hinaus. Auch nationale Geschichtswettbewerbe aus Russland, Weißrussland, der Ukraine und Serbien sind Teil dieses Netzwerks. Die konkrete Auseinandersetzung der jungen Menschen auch aus diesen Ländern mit ihrer Geschichte zeigt, wie viel Lebendigkeit in der Idee von der Nation steckt, und wie viel Kraft zur Identitätsstiftung sie entwickelt.
Dass dies im Rahmen von Eustory geschieht, zeigt aber auch, wie sehr die Jugendlichen zugleich an einem grenzüberschreitenden Dialog über Geschichte interessiert sind. Sie empfinden es als packend und bereichernd, sich miteinander auseinanderzusetzen, sie ringen darum, dem anderen auch ihre Unterschiedlichkeit begreifbar zu machen. Das stiftet nachhaltig gute Nachbarschaft in Europa.
Ich glaube, die Bedeutung der direkten Begegnung der Menschen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden für ein gutes europäisches Miteinander. Ich weiß noch, wie ich kurz nach Amtsübernahme die baltischen Staaten besuchte und auf dem Marktplatz in Tallin deutsche Studenten traf. Sie erzählten mit solcher Begeisterung von der Stadt, vom Studium und von den neu gewonnenen Freunden, dass ich wusste: Diese jungen Leute werden für den Rest ihres Lebens vom Abenteuer Europa geprägt sein und davon auf ihrem Lebensweg profitieren.
Die Begeisterung dieser jungen Menschen wünsche ich mir auch für das politisch-institutionelle Europa. Ich finde, wir sollten herausfinden, was wir von ihnen für unsere Europapolitik lernen können.
Denn, meine Damen und Herren, wir können es doch nicht übersehen: Europa bewegt zurzeit nicht mehr unbedingt die Herzen vieler Bürger; es schafft im Gegenteil nach meinem Befund auch Verdruss und Unbehaglichkeit.
Der Grund dafür liegt vor allem wohl darin, dass Europa unübersichtlich geworden ist: Die institutionellen Strukturen der Union konnten mit dem raschen Wachstum der Gemeinschaft nicht mehr Schritt halten. Wir haben eine Gemeinschaft, die mit sechs Mitgliedern begonnen hat, in immer schnellerem Tempo auf inzwischen 27 Mitglieder erweitert. Das hatte gute Gründe. Das europäische Integrationsprojekt war von Anfang an auf ganz Europa angelegt. Und es ist ein Grund zur Freude, dass die jahrzehntelange, unnatürliche Teilung Europas überwunden ist.
Doch mit der raschen Erweiterung der Europäischen Union hat sich auch die Qualität ihrer Vielfalt verändert, und ich frage mich manchmal, ob das institutionelle Europa und auch die älteren Mitgliedstaaten diese Veränderung wirklich schon wahrgenommen haben. Da sind Staaten zur Union hinzugekommen, die nach Jahrzehnten der erzwungenen Zugehörigkeit zum sowjetisch dominierten Block jetzt ihre neu gewonnene Freiheit und nationale Souveränität wie einen Augapfel hüten.
Es ist nur allzu verständlich, dass manche von ihnen aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrung vorsichtig sind, nationale Souveränitätsrechte auch nur teilweise abzugeben. Der Stolz auf die so mühsam errungene nationale Souveränität ist eine starke Kraft.
Und beobachten wir nicht auch im Westen Europas, dass die Menschen vor allem in der Nation den Anker sehen, an dem sie sich in einer zunehmend entgrenzten Welt festmachen wollen?
Die Erfahrung von Heimat gibt Halt, überall in Europa. Deshalb werden die Nationalstaaten nach meiner Ansicht die zentrale Bezugsgröße der europäischen Zusammenarbeit bleiben. Es wäre falsch, wenn die europäischen Institutionen das nicht erkennen und positiv aufgreifen würden.
Doch zugleich erleben wir in unserer zusammenwachsenden Welt auch die Grenzen der Handlungsfähigkeit des Nationalstaates. Kein Staat der Welt kann sein eigenes Wohlergehen mehr dauerhaft sichern ohne Rücksicht auf andere. Eine neue, multipolare Weltordnung entsteht, und die große Chance unserer Zeit besteht darin, dass wir sie durch Zusammenarbeit zum Guten gestalten können.
Die Aufgaben, vor denen die Völkergemeinschaft als Ganzes steht, sind groß: Es geht um die Armutsbekämpfung und um die Bewältigung des Klimawandels. Es geht um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, und die organisierte Kriminalität; um die Bekämpfung des Drogenhandels und um den Schutz vor Pandemien.
Wir sollten erkennen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Und die in einem Boot sitzen, sollten sich gegenseitig helfen. Das ist nicht von mir, sondern das Motto der Tongji-Universität in Shanghai, die ich gerade besucht habe.
Die Dimensionen dieser Aufgaben mögen manchen Zeitgenossen in Schwindel versetzen. Gleichwohl: Ich halte es für menschenmöglich und damit machbar, die Geschicke der Weltgemeinschaft zum Besseren zu gestalten. Und die Rahmenbedingungen dafür sind günstiger als je zuvor. Dieses Ziel verlangt in meinen Augen zwingend auch einen selbstbewussten Beitrag Europas.
Ein Europa, das sich seiner geistigen Wurzeln und seiner geschichtlichen Erfahrung bewusst ist und sie schöpferisch und konstruktiv einbringt, kann viel dafür tun, dass eine lernende Staatengemeinschaft entsteht, die in Freiheit vorankommt.
Dabei sollte uns auch klar sein: Europa schrumpft, während die Weltbevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts um die Hälfte von 6 auf 9 Milliarden Menschen wachsen wird. 500 Millionen Europäer heute, das klingt nach viel. Aber in 50 Jahren werden wir nur noch etwa 6 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Das ist keine Quantité négligeable, aber man muss sich die Größenordnung doch verdeutlichen. Die Länder des Südens sind jung. Und die meisten jungen Menschen in diesen Ländern sind wissbegierig, sie begeistern sich für Bildung und wollen den Aufstieg schaffen. Wer könnte ihnen das verdenken?
Europa muss also auch um seinen Platz in der Welt kämpfen. Reden und Ideen helfen alleine nicht. Das können wir besser, wenn wir unsere Kräfte in manchen Bereichen bündeln. Wir müssen die Menschen in den Mitgliedsländern vom politischen Mehrwert der europäischen Integration überzeugen. Augenwischerei führt an dieser Stelle nicht weiter. Deshalb sage ich es deutlich: Dieser Mehrwert lässt sich nur gewinnen, wenn angesichts der globalen Problemstellungen die Einsicht geschaffen wird, dass nationaler Vorteil manchmal auch den Verzicht auf Teile nationaler Souveränität erfordert.
Was wir seit den Römischen Verträgen 1957 erreicht haben, sollte uns Zuversicht und Selbstbewusstsein geben. Nehmen wir den Binnenmarkt. Es war schwer, die Menschen zu überzeugen, dass Zölle und Handelsbeschränkungen Arbeitsplätze nicht dauerhaft sicherer machen können, und bis heute ringen wir immer wieder mit protektionistischen Tendenzen. Doch wir sehen auch: Der große Binnenmarkt hat viel damit zu tun, dass Europa heute eine gute Position in der Weltwirtschaft einnimmt.
Nehmen wir den Euro: Seine Einführung verlangte die Preisgabe von Souveränität in der Geldpolitik, in Deutschland gar die Preisgabe der D-Mark, die für die Nation so viel mehr bedeutete als nur eine Währung. Wir haben das damals intensiv diskutiert.
Doch in der Rückschau zeigt sich: Dieser geldpolitische Souveränitätsverzicht war richtig, und er kam nicht zu früh. Dank des Euro gehören die Finanzkrisen, die es auch in Europa bis in die 90er Jahre hinein gegeben hat, der Geschichte an. Der Euro ist weltweit zur zweitwichtigsten Währung geworden. Gerade angesichts des gewaltigen Volumens internationaler Liquidität - und ihrer Volatilität - ist der Euro ein Bollwerk, das sich schützend vor Wachstum und Beschäftigung in Europa stellt.
Übrigens: Die bisherige Erfolgsgeschichte des Euro hat auch damit zu tun, dass die Europäische Zentralbank unabhängig ist. Das soll so bleiben, wenn Sie mich fragen. Und ich würde mir darüber hinaus wünschen, dass die EZB noch stärker Expertise gewinnt, um das Geschehen auf den internationalen Finanzmärkten zu durchdringen und vorausschauend zu analysieren, und so eine gewichtige Stimme wird, die sich Gehör verschafft in der Diskussion um eine angemessene Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Hier besteht Handlungsbedarf.
Ich denke, wir müssen uns klar machen: Wir stehen heute an einer Weggabelung. Europa muss sich entscheiden, ob es die neue Weltordnung mitgestalten oder sich treiben lassen will. Ich meine: Als "gehobene Freihandelszone" wird Europa keinen nachhaltigen Einfluss auf die notwendige Gestaltung der Globalisierung ausüben können. Das würde auch nicht reichen, um wohlverstandene nationale Interessen zu schützen. Es würde auch nicht reichen, um das europäische Modell zu bewahren, das Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialem Ausgleich verbindet.
Die Welt erwartet etwas von Europa. Uns wird Kraft zugetraut, aber auch Respekt im Umgang mit den Partnern und die Fairness, den anderen eine echte Chance zu geben. Das habe ich erst kürzlich bei meinen Auslandsreisen nach Südamerika und Asien erneut erfahren. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Die Welt wäre ärmer ohne die europäische Sicht der Dinge. Wir haben eine Verantwortung, diese Sicht einzubringen.
Und deshalb ist es wichtig und liegt jetzt an uns, dem politischen Projekt Europa wieder Richtung und neue Dynamik zu geben. Das verlangt eine neue Vertragsgrundlage.
Denn die Zukunft mitgestalten kann nur eine Union, die "in guter Verfassung" ist. Wir dürfen also die Aufgabe nicht mehr vor uns herschieben, die erweiterte Union institutionell zu reformieren, so dass sie auch in dieser Größe Handlungsfähigkeit besitzt und mehr demokratische Legitimation, Transparenz und Bürgernähe gewinnt.
Die Bürger werden Vertrauen in die Fortsetzung der europäischen Integration fassen, wenn sie erleben, dass die Union das Subsidiaritätsprinzip ernst nimmt, also nur solche Aufgaben anpackt und erfolgreich bewältigt, die für die kommunale, regionale oder nationale Ebene zu groß sind - und sich bei anderen Fragen heraushält. Das europäische Bürgerbegehren, das im bisherigen Vertragsentwurf vorgesehen ist, wäre im Übrigen ein guter Beitrag, Europas Bürger wieder stärker an die europäische Politik heranzuführen. Das brauchen wir dringend.
Mein Eindruck ist: die Jugend will Europa. Jedenfalls dürfte sie sich nach meiner Erfahrung nicht zufrieden geben mit einer bloßen Mitläuferrolle Europas im Weltgeschehen.
Das habe ich bei intensiven Diskussionen mit Studenten aus fast allen europäischen Ländern immer wieder gespürt, und die jungen Menschen, die sich bei Eustory engagieren, sind dafür ein weiteres gutes Beispiel.
Sie stehen für ein Europa, das immer mehr zusammenwächst, das aus der Vergangenheit lernen und gleichzeitig die Zukunft gemeinsam meistern will. Sie bringen mit, was man dafür braucht: Sachkenntnis und Neugier, Begeisterung, aber auch das notwendige Maß an Skepsis.
Ich habe in den letzten drei Jahren in Dresden, in Tübingen, in Riga und vergangene Woche in Siena, gemeinsam mit anderen Präsidenten mit Studenten aus vielen europäischen Mitgliedsländern diskutiert. Dabei wurde eines sehr deutlich: Europa spricht die jungen Leute an, und sie haben konkrete Vorstellungen, wie dieses Europa vorankommen soll: Sie wollen, dass in Europa mehr für Forschung und Bildung getan wird, weil das die Bereiche sind, in denen sich die Zukunft des Kontinents und seiner Jugend entscheidet. Sie wollen einen Prozess, der eine gemeinsame öffentliche Meinungsbildung in Europa ermöglicht, sie wollen ein Europäisches Haus der Geschichte, einen europäischen Fernsehkanal, gemeinsame Geschichtsbücher. Und sie wollen eine gemeinsame europäische Migrationspolitik, weil sie das Schicksal der jungen Menschen in Afrika berührt. Sie wollen ein einheitliches Wahlrecht zum Europäischen Parlament, eine europäische Armee, und manche forderten auch einen direkt gewählten Europäischen Präsidenten, weil sie wollen, dass Europa ein Gesicht bekommt.
Ich bewerte dies so: Die Jugend Europas möchte, dass diejenigen, die in Europa heute Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass es mit der europäischen Integration weitergeht. Sie wollen weiter Erfahrung miteinander sammeln dürfen, und sie wollen nicht wieder voneinander getrennt werden. Sie wollen, dass sich Europa Ziele setzt und Verantwortung in der Welt übernimmt. Ich denke, wir sollten dies als Auftrag verstehen und ihn ernst nehmen. Und ich hoffe sehr, dass der bevorstehende Europäische Rat für diesen Auftrag die richtigen Weichen stellt.
Die Teilnehmer an den nationalen Geschichtswettbewerben und ihr Netzwerk Eustory stehen für ein Europa, das seine gemeinsamen Wurzeln kennt, das aber auch um seine Unterschiede weiß. Ein Europa, das Kraft und Identität aus seinen vielfältigen nationalen "Geschichten" und Erfahrungen schöpft.
Eustory ist ein würdiger Preisträger des Deutschen Nationalpreises 2007. Ich gratuliere allen, die die wichtige Arbeit dieses Netzwerkes möglich gemacht haben und sich daran beteiligen.