Redner(in): Horst Köhler
Datum: 17. Juli 2007
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2007/07/20070717_Rede.html
Die Schwaben sagen von sich selbst, dass sie mit vierzig erst richtig "gescheit" würden. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai ging sogar davon aus, dass das rechte "Schwabenalter" erst mit dem 50. Lebensjahr beginnt. Er fügte aber erklärend hinzu, dass die Schwaben selbstverständlich auch vorher schon klug seien - nur fehle ihnen in jüngeren Jahren die Fähigkeit, ihre Intelligenz zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Mit Blick auf das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, dessen 50. Gründungstag wir heute feiern - und ich freue mich dabei zu sein - , scheinen mir beide Altersgrenzen fragwürdig. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass in diesem Haus schon immer "gescheit" gedacht wurde - übrigens nicht nur zum eigenen Vorteil des IAW, sondern vor allem zum Nutzen seiner Auftraggeber in Politik und Wirtschaft.
Mich persönlich verbindet vieles mit dem IAW: Das Institut wurde im gleichen Jahr gegründet, als meine Familie - ich war damals 14 Jahre alt - in Baden-Württemberg und genauer in Ludwigsburg ihre neue Heimat fand. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass das IAW mein erster Arbeitsplatz nach dem Studium sein würde. Von Ende 1969 bis zum Herbst 1976 war ich hier als wissenschaftlicher Referent tätig. Die Arbeit an meiner Promotion, die Gründung meiner Familie, der Bau eines Hauses - all das fällt in auch diese Jahre. Obschon ein "Reingeschmeckter", hatte ich damals eigentlich recht gute Voraussetzungen, um ein "richtiger Schwabe" zu werden. Aber Wissenschaft ist nun einmal auch ein dialektischer Prozess, und die Tätigkeit am IAW hat zwar einerseits meine Sesshaftigkeit befördert, andererseits aber auch - notabene angewandte Wirtschaftsforschung - mein Interesse an Wirtschaftspolitik in der Praxis. Und so bin ich im Herbst 1976 von Tübingen nach Bonn in die Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums gewechselt - neugierig und bereit, zu neuen Ufern aufzubrechen.
Umso mehr freue ich mich, heute mit Ihnen den 50. Jahrestag der Gründung des IAW feiern zu können. Und ich gratuliere seiner wissenschaftlichen Leitung, Frau Professor Buch und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu diesem Jubiläum ganz herzlich. Ich denke gerne an meine Tübinger "Institutszeit" und an den damaligen Institutsleiter, Professor Alfred E. Ott, zurück. Ott - seiner Zeit in vielem voraus - hat schon in den siebziger Jahren das heute oft strapazierte Motto "Fördern und Fordern" praktiziert. Er hat uns, seine Mitarbeiter, zu höchstem Einsatz angespornt und uns zugleich in unserer Arbeit Freiheit gelassen und doch auch weise geleitet. Wenn ich es recht sehe, ist aus allen Ottianern etwas geworden.
Die Zusammenarbeit am Institut war von großem Teamgeist geprägt. Nun ja: Im Wettbewerb der wissenschaftlichen Institute blieb uns auch gar nichts anderes übrig. Und ich nehme an, das ist heute noch genauso. Jedenfalls erinnere ich mich lebhaft und gern an Debatten um die besten Argumente, Modelle und Politikansätze; zum Teil vornehmlich bei unseren regelmäßigen Kaffeerunden am Nachmittag. Die Jahre am IAW waren für mich eine lehrreiche Zeit - vor allem was die Verbindung von empirischer und theoretischer Forschung angeht, auf die hier ebensoviel Wert gelegt wurde wie auf die Nähe zur wirtschaftspolitischen Praxis. Das hat mich geprägt, und dafür bin ich sehr dankbar.
Ich gehöre zu den Menschen, die im Laufe ihres Lebens beide Seiten kennen gelernt haben: die des Beraters und die des Beratenen. Erlauben Sie mir deshalb einige Bemerkungen über das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik und legen Sie die Worte diesmal nicht immer auf die Goldwaage.
Dieses Verhältnis von Wissenschaft und Politik hat bekanntlich schon vor weit über 2.000 Jahren den Philosophen Platon beschäftigt. Er glaubte damals, dass das beste Staatswesen dasjenige sei, in dem die Philosophen ( andere Wissenschaften gab es damals im Grunde noch nicht ) die Regierungsgewalt ausübten. Es ist nicht so gekommen. Alle Versuche zur Realisierung von Platons Philosophenstaat scheiterten. Stattdessen hat sich über die Jahrhunderte ein gewisser Dualismus entwickelt: Geist und Macht gehen getrennte Wege, aber sie sind aufeinander angewiesen. Die Macht holt sich Orientierung beim Geist, und der Geist erfährt Alimentierung und Anerkennung durch die Macht. An diesem Grundprinzip hat sich bis heute nur wenig geändert - mit dem Unterschied freilich, dass die wissenschaftliche Politikberatung unserer Tage mit ihren Argumenten nicht nur auf das Ohr des Herrschers zielt, sondern auch die Öffentlichkeit überzeugen muss.
Es fehlt jedenfalls nicht an Metaphern, um die Beziehung zwischen Politik und wissenschaftlicher Politikberatung zu beschreiben: Handelt es sich um eine romantische Liebesbeziehung? Oder ist sie nur eine Zweckgemeinschaft, die auf einem nüchternen Nutzenkalkül basiert? Fühlen die Partner sich miteinander verbunden oder eher aneinander gekettet? Begegnet man sich auf Augenhöhe - oder fühlt der eine sich dem anderen überlegen? Und was passiert, wenn ein Dritter ins Spiel kommt: die öffentliche Meinung zum Beispiel, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung oder gar ein konkurrierendes Beratungsinstitut mit anderen Ideen?
In der Beziehung zwischen Politik und wissenschaftlicher Beratung läuft eben vieles wie im wirklichen Leben: Dazu gehört auch, dass die eine Seite mitunter die mangelnde Anwendbarkeit der Ratschläge der anderen beklagt, während die sich darüber beschwert, dass ihr guter Rat nur allzu oft auf taube Ohren stößt. Aber wie in einer guten Beziehung sind beide Seiten aufeinander angewiesen: Die Politik kann nicht im luftleeren Raum Entscheidungen treffen, sondern braucht Informationen und Orientierung durch wissenschaftliche Erkenntnisse. Und die Wissenschaft möchte die Welt nicht nur erklären, sondern sie auch ein Stück weit besser machen. Wir wissen, dass das nur gelingen kann, wenn beide Seiten zusammenarbeiten.
Deshalb muss aus den beiden ja noch kein Liebespaar werden. Aber meine persönliche empirische Analyse sagt mir: Wissenschaftliche Politikberatung ist einem Flirt gar nicht so unähnlich. Da ist Interesse im Spiel, Faszination und die Vorstellung, dass man gemeinsam mehr erreichen kann als allein. Natürlich stellt sich da auch manch ' bange Frage: Passt man zusammen? Stimmen die Ziele überein? Teilt man die gleiche Weltanschauung? Sind beide stark genug, um auch Differenzen auszuhalten und aus der Verschiedenheit vielleicht sogar Gewinn zu ziehen?
Auf den ersten Flirt folgt dann nicht selten die weniger romantische Frage nach der Mitgift. Oder ökonomisch formuliert: Wo liegt der Anreiz für die einen, zu beraten - und für die anderen, sich beraten zu lassen? Professor Wolfgang Wiegard - Ihnen brauche ich es nicht zu sagen - , einer der profiliertesten ökonomischen Ratgeber unseres Landes, beantwortete die Frage nach den Beweggründen eines Politikberaters kurz und bündig mit drei Schlagworten: Einfluss, Geld, Eitelkeit. Ich sehe, dass niemand hier im Saal ernsthaft widersprechen möchte.
Und wie im wirklichen Leben werden auch in der Politikberatung manche Paare miteinander alt und bleiben sich treu - womöglich sogar über den Tod hinaus. Von Margaret Thatcher etwa ist überliefert, dass sie Hayeks Ideen nicht nur im Kopf hatte, sondern seine Werke auch physisch greifbar in ihren legendären Handtaschen mit sich trug, um sie bei Bedarf zücken und daraus zitieren zu können.
Die Verbindung zur Wissenschaft muss ja nicht immer so weit gehen wie bei der eisernen Lady. Aber mehr Verständnis füreinander und, noch besser, der personelle Austausch zwischen den zwei Welten können helfen, Probleme bei der Übersetzung von wissenschaftlichem Rat in politische Praxis zu vermeiden. In den Anfängen der Bundesrepublik gab es diesen Austausch mit kraftvoller Wirkung. Und da ist zum Beispiel ein Name unter vielen zu nennen wie Alfred Müller-Armack, der in der Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums maßgeblich das Konzept der sozialen Marktwirtschaft entwickelte, das Ludwig Erhard dann in die Praxis umgesetzt hat. Aber auch Karl Heinz Paqué , der heutige Festredner, ist einer dieser Grenzgänger, von denen es in unserem Land leider viel zu wenige gibt.
Erich Kästner hat einmal gesagt, von einem wirklichen Fortschritt der Menschheit könne erst dann die Rede sein,"wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind". Das lässt sich auch auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik übertragen, wobei mehr Mut manchmal beiden Seiten gut anstehen würde. Von der Wissenschaft wünsche ich mir den Mut, dass sie ihre Ideen offen und freimütig vertritt - auch gegenüber einem Auftraggeber, der vielleicht etwas anderes hören möchte. Und von der Politik wünsche ich mir den Mut, dass sie den als richtig erkannten Weg auch dann fortsetzt, wenn ihr der Wind der öffentlichen Meinung einmal hart ins Gesicht bläst. Gerade in solchen Situationen kann wissenschaftliche Expertise eine wirksame Stütze sein.
Freilich sind in der wissenschaftlichen Politikberatung auch Fälle von Übermut bekannt. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich hier keine realen Beispiele zitiere, sondern auf einen Schriftsteller verweise, der hier in Tübingen aufgewachsen ist: Wilhelm Hauff beschreibt in seinem Märchen "Kalif Storch" auf sehr anschauliche Weise, was passieren kann, wenn sowohl der Herrscher als auch sein Berater allzu viel Experimentierfreude an den Tag legen und darüber Umsicht und Augenmaß vergessen. Zwar findet die Geschichte bekanntlich nach vielen dramatischen Wendungen doch noch ein Happy End. Aber anders als den Hauptfiguren dieses Märchens steht uns kein Zauberwort zur Verfügung, um Fehlentscheidungen einfach ungeschehen zu machen. Beratung durch Dritte kann deshalb Vernunft und Verantwortungsbewusstsein bei den politisch Handelnden nie ersetzen.
Um bei Tübingen und seinen großen Geistern zu bleiben: Von Friedrich Hölderlin, der lange in dieser Stadt gelebt und von seiner Turmstube aus die Zeitläufte beobachtet und beschrieben hat, stammt die Feststellung: "Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seligen Insel". Wir können dankbar sein, dass es in unserem Land Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt, die sich nicht auf ihrer "seligen Insel" verstecken oder in den Elfenbeinturm zurückziehen, sondern die bereit sind, Verantwortung für die Geschicke unseres Landes zu übernehmen. Das IAW gehört zu den Pionieren auf diesem Gebiet. Dafür möchte ich dem Institut, der wissenschaftlichen Leitung und allen, die es begleiten und fördern, und vor allen Dingen seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern heute ganz herzlich danken.
Die Themen, mit denen sich das IAW befasst, decken ein weites Feld ab, das vom Verlagern von Arbeitsplätzen ins Ausland bis zum Wassersport als wirtschaftlichem Faktor am Bodensee, von Steuerschätzungsmodellen bis zur Auswirkung von Tarifverträgen und Öffnungsklauseln auf die Lohnflexibilität reicht. Schon diese beeindruckende thematische Spannweite zeigt, dass wissenschaftliche Politikberatung keine weltfremde Spekulation ist - und dass sie vielen Menschen nutzen kann.
Gerade die Integration in die Region, die Vernetzung mit anderen Instituten und die Kundenorientierung waren und sind ganz wesentliche Erfolgsfaktoren des IAW. Für die nächsten 50 Jahre wünsche ich weiterhin viel Glück und viel Erfolg. Zwar werde ich beim 100. Geburtstag wohl nicht mehr dabei sein, aber ich freue mich darauf,"mein" Institut auch in den kommenden Jahren als Ehrenmitglied des Kuratoriums begleiten zu können.