Redner(in): Horst Köhler
Datum: 18. September 2007
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2007/09/20070918_Rede.html
Seien Sie herzlich willkommen in Schloss Bellevue! Ganz besonders begrüßen möchte ich die Ehrengäste dieses Abends: Frau Nüsslein-Volhard, Herrn Bednorz, Herrn Eigen, Herrn Grass, Herrn Hänsch und Herrn Selten.
Lieber Herr Professor Eigen, Sie sind der Doyen unter den Ehrengästen. Im Mai haben Sie Ihren 80. Geburtstag gefeiert. Und mit dem heutigen Abend wollen wir diesen Geburtstag ein wenig nachfeiern.
Überliefert ist, wie Sie, lieber Herr Eigen, als junger Mann kurz nach dem Ende des Krieges zu Fuß von Salzburg nach Göttingen wanderten, um dort zu studieren. Das hört sich heute vor allem nach sportlicher Leistung an, es war aber damals auch eine politische, denn es galt viele Grenzen zu überwinden. Ihr anschließender Weg führte Sie auf eindruckvolle Weise durch verschiedene Gebiete der Wissenschaft, und auch dabei haben Sie manche Grenze überwunden: Grenzen des Wissensstandes auf Ihrem ureigenen Forschungsgebiet, Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen. In Ihren Forschungen haben Sie sich unter anderem mit der Grenze zwischen unbelebter und belebter Materie beschäftigt. Unter Ihrer maßgeblichen Mitwirkung entstand in Göttingen das Institut für biophysikalische Chemie. Sie haben schließlich hohe Gipfel erklommen - des Erfolges und der Ehrungen: Bereits 1967 erhielten Sie den Nobelpreis für Chemie. So sind Sie nun die Hälfte Ihres Lebens Nobelpreisträger.
Was bedeutet es im Alltag, Nobelpreisträger zu sein und dieser weltweit in höchstem Ansehen stehenden Elite anzugehören? Vielleicht hören wir ja von den Ehrengästen heute in der Unterhaltung etwas darüber. Die Erwartungen jedenfalls, die Alfred Nobel an den Preis und seine Träger knüpfte, lassen sich auf eine einfache Formel bringen. Sie wollen, sie sollen das Wohl der Menschheit und ein gutes Miteinander auf unserer Erde fördern.
Diesem Ziel dienen
Alfred Nobel war als Erfinder und Unternehmer erfolgreich. Seinen weitaus größten Erfolg und die größte öffentliche Aufmerksamkeit erzielte er aber posthum mit der Stiftung der nach ihm benannten Preise. Nicht erst heute kann das Vermächtnis Nobels auch als Mahnung verstanden werden, zu einem guten Miteinander auf unserer Erde beizutragen - vonseiten der Wissenschaft und der Literatur, der Politik und der Unternehmen.
Wissenschaft kann das Leben der Menschen verbessern. Aber sie kann es auch gefährden. Alfred Nobel wusste, dass Entdeckungen und Erfindungen auch schwierige moralische Fragen aufwerfen können. So hat er selber erlebt, wie bei seinen Experimenten mit Dynamit mehrere Menschen ums Leben kamen - darunter sein Bruder Emil. Aus dem von Nobel erfundenen Arsenal von Explosivstoffen bedienten sich nicht nur Militärs, sondern auch Terroristen und Attentäter, die man Ende des 19. Jahrhunderts nach ihrem bevorzugt verwendeten Sprengstoff auch als "Dynamitarden" bezeichnete.
Seither sind über 100 Jahre vergangen. Die moralischen Fragen, die sich aus neuen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten ergeben, sind keineswegs einfacher geworden - im Gegenteil. Auch wir wissen nicht, ob wir die Segnungen der Erkenntnis am Ende richtig zu nutzen verstehen. Wir wissen aber um die Verpflichtung,"zum Nutzen der Menschheit" beizutragen. Gewiss: Auch das ist immer noch eine sehr abstrakte Zielvorgabe, die uns nicht vor moralischen Konflikten schützt - ich denke beispielsweise an die Nutzung der Kernenergie oder an die Fortschritte in der Gentechnik. Aber immerhin signalisiert diese Zielsetzung uns, dass Wissenschaft doch niemals wertfrei ist und dass sie verantwortungsbewusst betrieben sein will. Verantwortungsbewusstsein ist vor allem eine Haltungsfrage, und Haltungen lernt man am ehesten durch Vorbilder. Und damit bin ich wieder bei Ihnen, meine sehr verehrten Nobelpreisträger.
Nobelpreisträger sind Ausweis der intellektuellen und wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes. Wir brauchen exzellente Leistungen, die den Grundstein legen für weitere wissenschaftliche Erkenntnisse und die Bahn brechen für Projekte und Produkte, die unser Leben bereichern. Und zugleich brauchen wir die kritische Reflexion über die so gewonnenen Erkenntnisse.
Man kann vielleicht drei Eigenschaften unterscheiden, die eine Avantgarde auszeichnen: Erstens ihre Innovationskraft, ihr Vermögen, Neues hervorzubringen. Zweitens die Fähigkeit, das Neue im Austausch mit anderen Disziplinen zu vertreten und in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Und drittens ihre Strahlkraft: Avantgarde begeistert und lädt zur Nachahmung ein. Vielleicht wirkt auch in der Wissenschaft so etwas wie ein "Boris-Becker-Wimbledon-Effekt" : Ein großer Erfolg zeitigt viele Begeisterte, die diesem Erfolg nacheifern. Darum achte ich bei meinen Besuchen und Gesprächen darauf, deutlich zu machen, wo es überall Vorbilder gibt im Lande. Wie im Sport, so gilt in der Wissenschaft: Spitzenleistungen sind kein Zufall. Sie sind eine Folge von Begabung, Bildung, Ausstattung und auch Anstrengung. Wir müssen in Deutschland mehr tun, damit sich Kinder und Jugendliche für Bildung und Wissenschaft begeistern. Wir müssen mehr dafür tun, Talente schon in der Schule zu entdecken und zu fördern. Und wir müssen mehr dafür tun, dass junge Nachwuchswissenschaftler in Deutschland gute Rahmenbedingungen für ihre Forschungen und attraktive Arbeitsplätze finden und diese nicht im Ausland suchen müssen.
Dazu möchte ich Ihnen von einem schönen Erlebnis berichten. Es gibt eine Initiative, die unter anderem deutsche Nachwuchswissenschaftler, die jetzt in den USA arbeiten, zu einem Besuch in Deutschland einlädt. Sie kommen für zwei Tage zurück, hören Vorträge, diskutieren und informieren sich. Im April war eine Gruppe auch bei mir. Ich habe sie gefragt, warum sie so interessiert seien an diesem Programm? Darauf haben sie geantwortet: So hervorragend, wie es manchmal scheine, sei die Forschung in Amerika nicht in jeder Hinsicht - die deutsche Naturwissenschaft zum Beispiel könne sich in vielen Bereichen jederzeit sehen lassen. Allerdings haben sie als junge Wissenschaftler in Amerika mehr Freiheiten; es komme weniger auf Zertifikate an als auf Kompetenz. Aber dann sagten sie auch etwas besonders Schönes: Auf meine Frage, warum sie an den Entwicklungen am Wissenschaftsstandort Deutschland interessiert seien, antworteten sie wie aus einem Mund: Es ist unsere Heimat!
Der viel beschworene Braindrain ist umso weniger ausgeprägt, je mehr Wissenschaftler wieder nach Deutschland zurückkommen. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass unsere Besten sich in diesem Land wohl fühlen und optimale Bedingungen finden, um hier zu forschen und zu arbeiten.
Sie, liebe Nobelpreisträger, können dabei auf vielerlei Weise helfen: als Vorbilder für die junge Generation, als hervorragende Vertreter Ihres Fachs, die ihren Berufskollegen vorleben, dass Begabung auch Verpflichtung ist und Erkenntnis Verantwortung bedeutet, und als besonders glaubwürdige Mahner, die Politik und Gesellschaft immer wieder daran erinnern, dass Exzellenz nicht zum Null-Tarif zu haben ist.
Wissenschaft und Kunst machen das Nobelpreis-Programm aus und Wissenschaft und Kunst gehen in dem Konzert eine einzigartige Verbindung ein, das wir nun hören werden: Das Theremin - auch Ätherwellengeige genannt - war das erste elektronische Musikinstrument. Erfunden wurde es 1919 von dem Russen Leon Theremin. Seine letzte Schülerin Lydia Kavina ist heute die führende Virtuosin auf dem Theremin. Ich freue mich, dass sie heute Abend für uns spielen wird. Sie wird dabei am Klavier begleitet von Anja Späh. Und ich freue mich, dass Sie, lieber Günter Grass, im Wechselspiel mit dem Theremin einige Ihrer Gedichte vortragen werden. Kurz vor Ihrem eigenen 80. Geburtstag machen Sie uns damit eine besondere Freude. Ich wünsche uns allen einen schönen Abend.