Redner(in): Roman Herzog
Datum: 11. Juni 1997

Anrede: Lieber Herr Schlecht,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/06/19970611_Rede.html


I. ich freue mich sehr, auf dem Symposion zu Erbe und Verpflichtung von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft zu sprechen. Wenn die Zukunft und Innovationsfähigkeit Deutschlands zur Überlebensfrage geworden ist, dann gehört die Reform der Sozialen Marktwirtschaft unabdingbar dazu.

Dabei geht es mir heute nicht darum, die Soziale Marktwirtschaft und ihre Väter rückblickend zu würdigen, obwohl wir jeden Anlaß haben, ihnen dankbar zu sein. Mir geht es vielmehr um die Frage: Welchen Weg gehen wir Deutschen, gerade auch bei der Reform der Sozialen Marktwirtschaft?

Auch Soziale Marktwirtschaft ist ja kein Monument oder gar ein unveränderbares Dogma. Das schon deshalb, weil die Väter der Sozialen Marktwirtschaft manche Fragen ganz anders sehen mußten, als wir es heute tun, und weil sie manche Fragen noch gar nicht kennen konnten, weil es sie damals noch nicht gab. Umweltprobleme wurden allenfalls auf lokaler oder regionaler Ebene wahrgenommen. Die neuen, dynamischen Wettbewerber befanden sich nicht in Asien oder Mittel- und Osteuropa, sondern bei uns in Deutschland. Computer und Informationstechnik waren zwar erfunden, steckten aber noch nicht einmal in den Kinderschuhen.

Auch die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland muß deshalb reformierbar sein und sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Und es beginnt sich etwas zu verändern in Deutschland. Innovation ist zu einem Hauptthema der gegenwärtigen politischen Diskussion geworden, wenn ich auch nicht sicher bin, ob sich jeder das gleiche vorstellt. Das Klima der Innovation beginnt sich zu verändern. Niemand will zwar unüberlegte Veränderungen. Aber es wird zunehmend schwieriger, gegen Veränderungen zu sein. Allen wird klarer, was der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte kürzlich auf die Formel gebracht hat: "Das Festhalten am Althergebrachten hilft nicht weiter". Und er ist von wichtigen Vertretern von Einzelgewerkschaften unterstützt worden.

II. Was müssen wir tun, um die Soziale Marktwirtschaft wiederzubeleben? Was können wir hierzu von Ludwig Erhard lernen? Vor allem aber: Was können wir aus den zahlreichen Symposien zu seinem 100. Geburtstag lernen?

Kommen wir mit der Sozialen Marktwirtschaft auf sicherer Grundlage ins 21. Jahrhundert? Ist sie noch ein geeignetes Konzept, um den bekannten Herausforderungen standzuhalten: der allumfassenden Globalisierung, der weltweiten Vernetzung durch die Informationstechnologie, den bahnbrechenden Innovationen in der Bio- und Gentechnologie, den neuen Werkstoffen, den globalen ökologischen Problemen? Im internationalen Leistungsvergleich, das wird niemand in Abrede stellen, sind wir zurückgefallen. Kein Wunder, daß die ausländischen Investitionen in Deutschland zurückgehen. Aber muß das deshalb auch so bleiben?

Natürlich legen Arbeitslosigkeit, Innovationsdefizite, angeblicher Sozialabbau, Verbändestaat und Reformstau in vielen Bereichen den Eindruck nahe, daß die Soziale Marktwirtschaft an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt. Umfragen tun das ihrige dazu: wenn man an sie glaubt, schrumpft das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft schon im Westen, vor allem aber im Osten unseres Landes.

Ich sage bewußt "wenn"; denn ich zweifle an manchem, was und wie da gefragt wird. Fragt man nämlich, ob die Soziale Marktwirtschaft unsere Probleme lösen kann, und versteht der Befragte das dann ganz allgemein als die Lösung aller Probleme, so ist das Umfrageergebnis m. E. schon nichts mehr wert; denn es wirft die, die dem System als solchem kritisch gegenüberstehen, und die, die es nur nicht für alleinseligmachend halten, in einen Topf. Und wer würde es für alleinseligmachend haltend?

Ich habe übrigens auch noch einen anderen Grund für meinen Zweifel. Wer der Marktwirtschaft - und das heißt: der freien Gesellschaft - wenig Problemlösungskapazität zutraut, der müßte sein Heil dann doch eigentlich vom Staat erwarten. Aber dort sind, wie jedermann weiß, die Umfrageergebnisse nicht anders. Neben Staat und Gesellschaft gibt es aber kein Drittes. Die Folgerung wäre also, daß die Deutschen dabei sind, sich überhaupt aufzugeben, und das zu glauben habe ich heute noch weniger Anlaß als vor der sogenannten Berliner-Rede, die ich im übrigen heute bewußt nicht wiederholen will. Es geht nur um die geistigen Grundlagen des Gesamtsystems. Das sind wir Ludwig Erhard schuldig.

III. Es mag vor einem Zuhörerkreis wie Ihnen wie das Tragen von Eulen nach Athen wirken, aber vielleicht sollten wir uns doch wieder einmal auf die Grundvorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft, ja auf die Grundideen der freien, offenen und zugleich sozialen Gesellschaft besinnen.

Die westlichen Gesellschaften - zumindest sie - sind seit etwa zwei Jahrhunderten in eine unaufhörliche, im Tempo von Generation zu Generation zunehmende Bewegung geraten. Immer neue Möglichkeiten werden eröffnet, alte wie neu entstehende Bedürfnisse auf diesem Wege gedeckt. Zugleich entstehen immer neue Fragen und Probleme und Bedürfnisse. Die technischen und organisatorischen Fähigkeiten des Westens werden in andere Teile der Welt exportiert und kommen von dort als Probleme, meist ganz einfach als Konkurrenz, wieder zurück. Die veränderten Lebensbedingungen der Menschen - auch hierzulande - schaffen veränderte Bewußtseinslagen. Eine vervielfachte Lebenserwartung und ein explodierender Wissensstand der Massen erzeugt eine neue Sicht der Welt und des Menschen. Mit einem Wort: Die Gesellschaften der westlichen Welt - und nicht nur sie - sind das geworden, was man mit einem verbreiteten Schlagwort dynamische Gesellschaften nennt. Nicht weil sie selbst so dynamisch wären, sondern weil sie in Bewegung geraten sind.

Überlebensfähig ist unter solchen Umständen nur eine Gesellschaft, die imstande ist, neu entstehende Schwierigkeiten und Probleme so rasch und vollständig wie möglich zu erkennen, sich auf sie einzustellen, Lösungen dafür zu entwickeln und diese dann auch in die Wirklichkeit zu übersetzen.

Man hat - im Osten wie im Westen - zeitweise geglaubt, diesem fundamentalen Problem durch die Mobilisierung und Zusammenballung des jeweils vorhandenen Sachverstandes in riesigen Bürokratien und Planungsstäben begegnen zu können. Dafür ließ sich in der Tat zunächst einmal einiges ins Feld führen. Aber die Gegenargumente wiegen, wie wir heute wissen, ungleich schwerer. Ich erwähne nur das Beharrungsvermögen und die Schwerfälligkeit solcher Bürokratien, wenn es darum geht, bisherige Positionen über Bord zu werfen, das bisher "Undenkbare" doch zu denken und das "ganz andere" zu versuchen.

Deshalb werden Systeme, die mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung arbeiten, in aller Regel besser bestehen. Ihre Fähigkeit, Probleme zu erkennen, Lösungen dafür zu suchen und zu finden und sie dann auch in die Realität umzusetzen, ist größer oder - einfacher ausgedrückt - ihre Lernfähigkeit ist größer. Der Erfolg ist zwar auch ihnen nicht sicher; denn das ist im menschlichen Leben überhaupt nichts. Aber er ist wahrscheinlicher als in jedem anderen System.

Hierin liegt die große Chance der offenen Gesellschaft. Man kann das - vorsichtig quantifizierend - auch so ausdrücken: Je mehr Personen, Einrichtungen und Unternehmen sich am Aufspüren neuer Probleme und Bedürfnisse beteiligen und je mehr sich an ihrer Lösung bzw. Befriedigung versuchen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß beides wirklich erreicht wird.

Sie werden ohne große Mühe erkennen, daß es dieses Denkmodell ist, das der Idee der Marktwirtschaft zugrunde liegt. Aber seine Gültigkeit beschränkt sich eben nicht auf die Welt der Wirtschaft. Die alten liberalen Grundrechte, die die Freiheit des Denkens und Diskutierens schützen, kommen aus dem gleichen Geist: die Freiheit des Drucks und der Massenmedien, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Die ganze öffentliche Meinungsbildung findet letztlich auf einem "Markt der Meinungen" statt, auf dem die Konkurrenz, die es im Wirtschaftsleben gibt, durch den Diskurs, die Qualität des Angebots durch die Überzeugungskraft der Argumente und der Marktpreis durch die Akzeptanz bei den Bürgern ersetzt wird. Wiederum ist leicht zu erkennen, wovon ich hier spreche: Es geht um die freiheitliche Demokratie.

Dennoch ist die Wirtschaft zum Hauptanwendungsgebiet unseres Gesellschaftsmodells geworden, seit Adam Smith sein klassisches Werk über den Wohlstand der Nationen schrieb. Das Prinzip der Marktwirtschaft ist daher nicht, wie oft behauptet wird, nur zum Schutz und zur "Privilegierung" der Unternehmer erdacht und durchgesetzt worden, sondern vor allem auch deshalb, weil man sich von einer Wirtschaftsordnung, in der jedermann zunächst einmal seine eigenen Interessen verfolgt, zugleich die bestmögliche Lenkung der Güterströme oder - allgemeiner formuliert - die größte Problemlösungskapazität versprach.

IV. Wer diese Ausführungen gehört hat, wird mit Recht sagen, ich hätte bisher nur die Marktwirtschaft, nicht aber die Soziale Marktwirtschaft zu begründen versucht. Das trifft zu, bedeutet aber keine Wertung. Hier vor allem ist an Ludwig Erhard und seine Mitstreiter zu erinnern, die nicht müde geworden sind, dafür einzutreten, daß die Früchte unseres Wirtschaftssystems nicht nur einigen wenigen, sondern allen Bürgern zugutekommen - und auch zugutekommen müssen."Wohlstand für alle", wie sie es genannt haben, war für sie nicht nur ein Gebot der politischen Klugheit, sondern es war die ethische Basis schlechthin, von der aus und für die sie gekämpft haben.

Ich will darauf verzichten, hier wieder einmal die großen Erfolge aufzuzählen, die sie dabei errungen haben und von denen wir - bei allen Zwängen und Unsicherheiten - auch heute noch zehren. Aber ich will doch in unser Gedächtnis zurückrufen, daß das, was wir die "soziale Komponente der Marktwirtschaft" nennen, für sie keine schöne Zutat zu diesem Wirtschaftssystem, sondern seine eigentliche Rechtfertigung war und daß es - vor allem - auf vier Wegen erreicht wurde, die heute sämtlich wieder in der Diskussion stehen:

1. Der erste dieser Wege heißt "Arbeitsmarktpolitik" oder, um es genau zu sagen,"Vollbeschäftigungspolitik". Das betrachten wir heute als Utopie. Davon sollten wir aber nicht ablassen. Es bleibt dabei, daß eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik immer noch die beste Sozialpolitik ist, und hier sind alle gefordert: nicht nur der Staat, von dem ich überhaupt nicht sehe, wie er -außer ein paar Gärtnerarbeitsplätze im Bundespräsidialamt - überhaupt Arbeitsplätze schaffen kann, sondern ebenso die Sozialpartner, deren Beitrag für das Ganze bei allen Schwierigkeiten, die ich keinen Augenblick leugnen möchte - immer wieder eingefordert werden muß.

2. Der zweite Weg hängt eng damit zusammen. Es war die Lohnpolitik, die heute natürlich auch auf dem Prüfstand steht, die in den vergangenen Jahrzehnten aber Erstaunliches geleistet hat. Man mag über Einzelheiten durchaus streiten, aber die Leistungen der beiden Sozialpartner auf diesem Feld werden heute viel zu wenig anerkannt, vor allem auch viele sehr besonnene Lohnabschlüsse der letzten Jahre.

3. Den dritten Weg, von dem ich hier sprechen möchte, bezeichnet man meist als das "soziale Netz", das wir in den vergangenen Jahrzehnten geknüpft haben. Ich kann mich hier kurz fassen; denn die wesentlichen Stichworte kennt jeder: die drei klassischen Zweige der Sozialversicherung, in den zwanziger Jahren noch durch die Arbeitslosenversicherung und in jüngster Zeit durch die Pflegeversicherung ergänzt. In den gleichen Kontext gehört, wenn auch aus gänzlich anderen historischen Wurzeln stammend, die Sozialhilfe.

4. Die Reihe der staatlichen Leistungen, von denen der Bürger profitiert, ist in Wirklichkeit aber viel länger. Konzentriert man sich nur auf kostenlose Leistungen, so ist hier etwa die Verkehrsinfrastruktur zu erwähnen, also Autobahnen, Straßen, Plätze und Brücken. Dasselbe gilt für die größten Teile des Bildungswesens, vor allem die allgemeinen und berufsbildenden Schulen, die Hochschulen und Universitäten. Berücksichtigt man darüber hinaus Einrichtungen, die zwar Gebühren erheben, aber von vornherein mit staatlichen Zuschüssen oder mit der staatlichen Abdeckung schon "eingebauter" Defizite rechnen, so erweitert sich das Spektrum noch um ein Vielfaches: Kliniken und Rettungssysteme, Kindergärten, Massenmedien, Weiterbildungsinstitutionen, Verkehrsbetriebe aller Art, die Betriebe der Wasserversorgung, der Altwasserentsorgung und der Müllbeseitigung, nicht zuletzt Museen, Theater, Orchester usw. Die finanziellen und personellen Aufwendungen, die Bund, Länder und Kommunen für alle diese Aufgaben erbringen, sind gewaltig, und ähnliches gilt auch von dem Niveau, das ihre Erfüllung mittlerweile erreicht hat. Hier besteht ein Netz von Nützlichkeiten und Bequemlichkeiten, das heute zur Normalausstattung des Bürgers bzw. der Gesellschaft gerechnet wird und dem "sozialen Netz" an Bedeutung ohne weiteres zur Seite gestellt werden kann.

Deshalb ist es auch so absurd, wenn unserem System oft vorgeworfen wird, es gewähre zwar die uneingeschränkte Freiheit, bei der Gleichheit beschränke es sich aber auf eine mehr oder weniger auf dem Papier stehende Chancengleichheit. Bei den Leistungen zumindest, von denen ich soeben gesprochen habe, handelt es sich um handfeste Realitäten und nicht nur um Chancen. Und übrigens gibt es ja auch keine "Freiheit pur". Dafür sorgt schon unsere weitverzweigte, manche - mich eingeschlossen - sagen nicht ganz zu Unrecht: unsere weit übertriebene Rechtsordnung.

Es wird Ihnen gewiß nicht entgangen sein, wovon ich hier eigentlich rede. Betrachtet man die Dinge vom Standpunkt der Wirtschaft aus, so lassen sich Punkt 1 und 2 heute unter das Schlagwort "Lohnkosten", Punkt 3 und 4 aber unter das Schlagwort "Lohnnebenkosten" bringen - wenn bei genauerer Klassifizierung auch die eine oder andere Korrektur anzubringen wäre etwa bei den Kosten des Umweltschutzes.

Diese vier Elemente sind es auch, die im Ablauf der gesamtwirtschaftlichen wie der gesamtgesellschaftlichen Prozesse immer wieder aufs neue austariert werden müssen, unter sich und vor allem zu der entscheidenden fünften Größe: dem Spielraum, der den Unternehmen selbst verbleiben muß. In einem dieser Prozesse befinden wir uns gegenwärtig, und es erübrigt sich deshalb, davon zu sprechen, wie schwierig und belastend solche Vorgänge sind. Wir erleben es ja täglich.

Der entscheidende Ansatzpunkt wird immer die Höhe der Staatsquote sein. Wenn mehr als 50 Prozent unseres Bruttosozialprodukts durch staatliche oder sonstige öffentliche Hände gehen, so ist das Maß des Erträglichen deutlich überschritten. Diese permanente Ausweitung der Staatstätigkeit hat nicht nur zu einer kritischen Lage der öffentlichen Finanzen geführt. Sie hat mit ihrem massiven Zugriff auf die Einnahmen der Bürger, was mir wesentlich verheerender erscheint, auch deren Möglichkeit zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative erheblich geschwächt; sie hat ihnen Freiheit entzogen. Das gilt nicht nur für die Unternehmen, aber es gilt ganz besonders für sie; und auch unsere Arbeitslosigkeit kommt ja nur zum einen Teil von Technisierung und Globalisierung; zum andern aber kommt sie von zuviel staatlicher Wirtschaft, zuviel staatlichem Abschöpfen.

Mir ist sehr wohl bewußt, daß die Bundesrepublik in den achtziger Jahren durchaus auf dem richtigen Weg war und dabei schon große Erfolge erzielt hatte. Mir ist auch bewußt, wie sehr sich das alles durch die - auch von mir unterschätzten - Kosten der Wiedervereinigung wieder umgekehrt hat und wieviel Zeit und Mühe es kosten wird, den Trend erneut zu wenden. Aber die Diagnose wird dadurch nicht falsch, und am Ziel darf es daher keinen Zweifel geben - übrigens auch nicht an der Entschlossenheit, es immer wieder aufs neue anzusteuern. Freiheit ist ganz gewiß mehr als die Verfügung über Geld. Aber gerade im wirtschaftlichen Bereich gilt doch auch, daß Geld die erste Voraussetzung für freie Entscheidung und erfolgreiches Wirtschaften ist, nicht nur im Interesse des Unternehmers oder Arbeitnehmers, sondern gerade auch im Interesse des Ganzen.

V. Nun würden wir uns nachgerade selbst aufgeben, wenn wir uns darauf beschränken wollten, das jeweils vorhandene Sozialprodukt auf die von mir genannten Felder neu zu verteilen und den verbleibenden Rest der unternehmerischen Disposition zu überlassen. Ich will es etwas salopp ausdrücken: Das einzelne Kuchenstück wird nicht nur dann größer, wenn es zu Lasten der anderen zunimmt, sondern auch dann, wenn es gelingt, den Kuchen als Ganzes zu vergrößern. Und damit sind wir beim Thema "Wachstum".

Die Zeiten sind ja vorbei, in denen sich Teile unserer Gesellschaft an Vorstellungen wie "Nullwachstum" oder gar "Minuswachstum" berauschen konnten. Seit die Wachstumsraten tatsächlich immer kleiner geworden sind, hört man davon nur noch selten etwas. Man wird also darüber nachdenken dürfen, ob und wie es uns möglich sein wird, wieder zu mehr Wachstum zu kommen.

Das erste ist hier neben der schon erwähnten Senkung der Staatsquote, den vorhandenen Unternehmen wieder mehr Spielraum zu geben, damit sie die in ihnen gespeicherten kreativen Kräfte auch wieder entfalten können. Mehr Spielraum heißt im Klartext: mehr unternehmerische Freiheit. Offene Gesellschaft und Soziale Marktwirtschaft gehören zusammen. Aber eine Gesellschaft, in der alljährlich Hunderte von neuen Regelungen, Gesetzen und Verordnungen entstehen, ist in Wirklichkeit nicht mehr offen. Eine Marktwirtschaft, in der zu jedem Vorhaben Unmengen von Genehmigungen, Subventionen und Staatsbeteiligungen nötig sind, ist es ebensowenig, und eine Gesellschaft, deren Steuersystem einerseits immer undurchschaubarer wird und andererseits durch übertrieben hohe Tarife und ganze Batterien von legalen und illegalen Ausweichmöglichkeiten bestimmt ist, kann für sich auch nichts Besseres in Anspruch nehmen.

Dasselbe gilt für das Feld des Arbeitsmarktes. Auch das Arbeitsrecht ist - aus wohlgemeinten Gründen übrigens - in Teilen zu einem Gebiet geworden, auf dem es kaum mehr möglich ist, neue Problemlösungen, neue Flexibilitäten und neue Formen der Rücksichtnahme auf die draußen vor der Tür Stehenden zu erdenken und zu realisieren. Ich will hier nicht generell vom Flächentarifvertrag sprechen. Aber soviel ist gewiß: Die Tarifpolitik muß - auf welchem Wege auch immer - betriebsnäher werden. Es ist besser, den Wettbewerb der Unternehmen, der Arbeitenden und der Arbeitslosen in geregelten Bahnen zuzulassen, als unser Tarifvertragssystem, das sich im ganzen ja durchaus bewährt hat, durch Untätigkeit insgesamt zu gefährden. Ich sehe mit Freude, daß hier in letzter Zeit einiges in Bewegung gekommen ist.

Weiterhin kommt es darauf an, die Zahl der Unternehmen so weit wie irgend möglich zu erhöhen, damit sich das System auch von dieser Seite reformieren kann. Was dazu zu sagen ist, ist oft genug gesagt worden; ich will es hier nicht wiederholen. Auch hier geht es wieder um den Abbau behindernder Vorschriften, sodann aber um die Ausstattung junger Unternehmen mit dem dringend notwendigen Eigenkapital, sei es mit staatlicher Unterstützung oder mit steuerlich ermutigtem Privatkapital. Andere Hindernisse allerdings kann auch der beste Staat nicht selbst beseitigen, etwa die Opfer an Geld, Freizeit und Sorgenfreiheit, die ein Leben als Unternehmer mit sich bringt, und auch nicht den Neid der Umwelt, wenn sich der Erfolg einstellt. Hier ist schon ein Umdenken der ganzen Gesellschaft notwendig.

Das war der Blick nach innen, der mit Sicherheit notwendig ist und den ich hier nur in gröbsten Umrissen wagen konnte. Aber wie sieht es nach außen aus, im internationalen Wettbewerb?

Die Tatsache, daß es heute keine verschiedenen "Nationalökonomien", sondern nur noch eine einzige, globalisierte "Weltwirtschaft" gibt, setzt die deutsche Wirtschaft auch der Konkurrenz solcher Länder aus, die entweder überhaupt nicht oder doch sehr viel weniger sozialstaatlich orientiert sind als die Bundesrepublik Deutschland. Es mag hier unentschieden bleiben, ob sich das an der Höhe der Löhne, an der anderen Bewertung der Familie als sozialer Sicherheitsbasis, an einem niedrigeren allgemeinen Lebensstandard oder an allen diesen Elementen gleichzeitig festmacht. Fest steht jedenfalls, daß der Wohlstand, den unser Land sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat, in dieser Situation nur durch außerordentliche Anstrengungen bewahrt werden kann, und dazu gibt es wiederum nur zwei Wege.

Der erste bestünde natürlich in der Absenkung der Sozialkosten auf das Niveau der Konkurrenten. Was immer man aber über den notwendigen Umbau des deutschen Sozialstaates und über seine schon aus demographischen Gründen erforderlichen Modifikationen denken mag, steht doch jedenfalls fest, daß unsere Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten allein auf diesem Wege nicht wieder herstellbar ist. Das würden die Menschen nicht hinnehmen und entspräche auch nicht den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft.

Also wird ein beträchtlicher Teil der Remedur auf der Seite des Waren- und Leistungsangebots liegen müssen. Es ist gewiß nur eine relativ banale Faustregel, die vielfältiger Korrektur bedarf, aber mit dieser Maßgabe wird sich wohl sagen lassen, daß dauerhafte Abhilfe nicht von solchen Leistungen und Produkten kommen kann, die auch Konkurrenten mit wesentlich niedrigeren Sozialkosten erarbeiten können, sondern nur von solchen, zu deren Erzeugung die Konkurrenten noch überhaupt nicht imstande sind, weil es sich dabei entweder um Spitzenqualitäten im Rahmen schon bekannter Produktreihen oder um völlig neue, anderen überhaupt noch nicht zugängliche Leistungen handelt. Das meine ich übrigens, wenn ich gelegentlich sage, wir könnten unsere sozialen Standards grundsätzlich nur erhalten, wenn wir unseren Konkurrenten auf den Weltmärkten stets "zwei oder drei Pferdelängen voraus seien". Und das ist beispielsweise auch der Grund, warum ich nicht aufhören werde, grundlegende Reformen in unserem Bildungssystem einzufordern.

Es mag durchaus sein, daß diese Spirale der Höchstleistungen irgendwann in der Zukunft auch einmal zu Ende geht. Aber noch ist es nicht so weit, und das Mindeste, was die westlichen Gesellschaften von ihr erwarten können, ist eine Übergangszeit von zwei oder drei Generationen, in der sie sich auf das Ende der Spirale einstellen können.

VI. Die Konsequenz daraus ist klar: Mehr als je sind heute Leistungsbereitschaft und Kreativität gefragt, genau die Eigenschaften, die nach den Grundvorstellungen von der freiheitlichen Gesellschaft ohnehin zu deren wichtigsten inneren Kräften gehören.

Ich würde dieses Thema hier nicht einmal am Rande streifen, wenn es nicht den Blick auf eine zusätzliche Voraussetzung von freiheitlicher Gesellschaft und Marktwirtschaft lenken würde, die die Auguren bisher noch nicht so klar im Visier haben, wie es offensichtlich nötig wäre.

Adam Smith und die ihm folgenden klassischen Liberalen hatten von einer - ihnen fast selbstverständlichen - Hoffnung gelebt: Man gebe den Menschen Freiheit, sie werden dann ganz von selbst das Beste daraus machen, für sich selbst und für die Gemeinschaft als Ganzes. Heute stellt sich die Frage aber doch etwas anders. Was ist, wenn sie nichts aus ihrer Freiheit machen? Vielleicht nicht einmal etwas daraus machen wollen, weil sie den Mut verloren haben?

Wir stehen hier vor einer entscheidenden Frage unserer Zeit. Gewiß: Mit Klagen über "Mallorca- oder Erbenmentalität", über den Verlust von Werten und Gemeinwohlorientierung, über mangelnde Leistungsbereitschaft sind viele von uns leicht bei der Hand. Aber ich frage: Reicht das aus? Was ist wirklich nötig, um in dieser Frage Remedur zu schaffen?

Mir fällt auf, daß man sich in Deutschland seit einiger Zeit über das alles ernsthaft Gedanken macht, daß man bisher aber noch nicht einmal das rechte Wort für das gefunden hat, was notwendig ist - und das ist immer das beste Zeichen dafür, daß der Gedanke selbst noch nicht hinreichend klar ist. Wir reden von mehr Gemeinwohlorientierung, die nötig sei, und die Richtigkeit dieser Forderung wird ja auch niemand bestreiten. Aber die Konturen verschwimmen, wenn man einbezieht, daß nach den Grundgedanken unseres gesellschaftlichen Systems Gemeinwohl und individueller Vorteil einander nicht ausschließen, sondern bedingen. Wir fordern mehr Leistungsbereitschaft, und das ist auch richtig. Aber dazu gehört nach unserem System, daß sich Leistung auch lohnen muß, und zwar unabhängig davon, ob sie auf Unternehmer- oder Arbeitnehmerseite, in Konstruktionsbüros oder Hochschulen erbracht wird. Die Frage des Verhältnisses zwischen Löhnen und Sozialhilfeleistungen gehört hierher. Wir fordern mehr Eigenverantwortung und Hilfsbereitschaft. Beides werden wir auch dringend brauchen, einmal um unsere sozialen Netze zu entlasten, vor allem aber, um unsere Gesellschaft wieder menschlicher zu gestalten. Aber die ewigen Rufe nach dem Staat sind dadurch bisher nicht merklich leiser geworden. Wir predigen mehr Kreativität. Aber sind wir darauf eingestellt, was geschehen muß, wenn einer wirklich etwas bahnbrechend Neues erfindet - was das für die Vorstandsetagen der Unternehmen bedeutet, für die Genehmigungsbehörden, nach erfolgter Genehmigung für die Medien und last not least für die Vorschriften für das Patentverfahren? Und nicht zuletzt fordern wir mehr Risikobereitschaft. Aber sind wir mental imstande, auch den erfolglosen Versuch recht zu behandeln? Wer beurteilt, ob dann wirklich gleich vom Scheitern einer Unternehmensstrategie, von unternehmerischem Versagen und von der Verschleuderung öffentlicher Subventionen gesprochen werden kann? Unser System beruht auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Warum wird dann jeder Irrtum so gnadenlos verteufelt?

Ich habe auch kein Schlagwort zur Hand, das die Antwort auf diese Fragen gibt und außerdem noch "griffig" ist. Von "Kampfgeist" will ich hier nicht sprechen; das wäre selbst wieder irreführend. So will ich mich, wie schon des öfteren, mit einem Appell an den Überlebenswillen der Deutschen, vor allem der deutschen Jugend, begnügen. Wir haben Probleme, und wer sie als gering einstuft, der lügt sich selbst etwas in die Tasche. Wenn wir uns aber zusammentun und jeder beiträgt, wozu er imstande ist, wo jeder ein bißchen mehr tut und sich ein bißchen mehr einsetzt als es im Gesetz gefordert ist, dann können wir damit auch fertig werden; denn unlösbar sind sie gewiß auch nicht. Für eine Gesellschaft, die sich selbst nicht abschreiben will, müßte es doch möglich sein, mit einigen Verzichten, mit einiger Solidarität, vor allem aber mit einiger Entschlossenheit und Erfindergabe zum Erfolg durchzustoßen.

Wer sich an dieser Kraftanstrengung beteiligen würde, dem würde ich sogar ein Attribut zubilligen, das in Deutschland - auch wieder aus verständlichen Gründen - lange tabuisiert war. Er würde für mich, gleich was er gelernt hat und an welcher Stelle er steht, zur Elite unseres Landes gehören.