Redner(in): Horst Köhler
Datum: 1. März 2007
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2007/03/20070301_Rede.html
DIE ZEIT: Es heißt, Sie hätten mit Ihrer Frau und einigen Freunden einst eine Art Dritte-Welt-Laden aufgemacht. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Horst Köhler: Stimmt aber.
DIE ZEIT: Was wollten Sie?
Horst Köhler: Meine Frau und ich zogen 1970 nach Herrenberg, knapp 20 Kilometer vor Tübingen. Dort haben wir tatsächlich gemeinsam mit Freunden einen Dritte-Welt-Laden - so hieß das damals noch - gegründet. Schon damals haben wir heftig über die Grundausrichtung gerungen. Ich wollte auf diese Weise Informationen und Produkte armer Länder nach Herrenberg bringen und so schlicht etwas gegen die Armut tun. Andere waren mehr auf eine politisch-ideologische Auseinandersetzung mit dem bestehenden System aus. Es war eine interessante Zeit. Der Laden heißt jetzt Eine-Welt-Laden. So ändern sich die Zeiten.
DIE ZEIT: Aber es gibt ihn noch.
Horst Köhler: Ja, natürlich, ganz aktiv. Und ich freue mich darüber.
DIE ZEIT: Sie wollten damals etwas gegen die Armut in der Welt tun. Seitdem ist die Kluft zwischen Arm und Reich noch gewachsen.
Horst Köhler: Vorsicht. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Schauen Sie sich allein die Entwicklung in China an: Dort ist seit Anfang der achtziger Jahre fast eine halbe Milliarde Menschen der Armut entronnen. Auch in Indien und in anderen Ländern des Südens gibt es Erfolge. Wo wir ein großes anhaltendes Problem haben, ist vor allem in Afrika, da hat sich in einigen Ländern nicht viel verbessert.
DIE ZEIT: War der Kampf gegen die Armut also vergebens?
Horst Köhler: Nein, er muss aber weitergehen. Und bei uns braucht es noch mehr Bewusstsein dafür, dass wir uns von der Armut nicht abkoppeln können. Die Globalisierung unserer Zeit begann mit dem Ende des Kalten Krieges. Vorher war die Welt parzelliert in Blöcke. Jetzt sind alle auf dem Markt. Manche beschreiben schon die Welt einer universellen Chancengleichheit. Das hat neue Bedingungen geschaffen. Es gibt nicht nur den Gegensatz zwischen den traditionell armen Ländern und der Industriewelt, auch in den Industrieländern selbst öffnet sich die Einkommensschere wieder.
DIE ZEIT: Und das empfinden auch die Menschen in Deutschland als ungerecht. Kein Wunder. In Amerika liegt das Durchschnittseinkommen der Spitzenmanager ungefähr beim 400-fachen des durchschnittlichen Arbeiterlohns. Hierzulande geht der Trend in die gleiche Richtung. Sie selbst haben deshalb bei den Managergehältern "Maß und Mitte" gefordert.
Horst Köhler: Zunächst einmal muss man sehen, dass sich mit der Globalisierung ökonomische Chancen eröffneten, mit der richtigen Idee in null Komma nichts riesige Märkte und damit riesige Einkommen zu erreichen. Denken Sie an die Informationstechnologie und daran, was jemand wie Bill Gates daraus machte. Er begann als junger Mann buchstäblich in der Garage. Heute ist er der reichste Mann der Welt und tut viel Gutes mit dem vielen Geld, zum Beispiel bei der Aids-Bekämpfung in Afrika. Ich freue mich, dass es auch in Deutschland Existenzgründer und Jungunternehmer gibt, die mit ihren Ideen gutes Geld verdienen.
Das aktuelle politisch-moralische Problem besteht aber darin, dass sich in normalen Unternehmen die Einkommensentwicklung der Spitzenmanager von der Einkommensentwicklung der Belegschaft und der breiten Bevölkerung gelöst hat. Deshalb habe ich gesagt, ich würde mir bei der Bezifferung von Managergehältern durch Aufsichtsräte mehr Maß und Mitte wünschen, dass dort ein Bewusstsein für das Ganze da ist und damit auch die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung und zum guten Vorbild.
DIE ZEIT: Haben Sie damit Gehör gefunden?
Horst Köhler: Nach meinem Eindruck kommt die Botschaft langsam an. In den Aufsichtsräten wächst das Bewusstsein, dass es auf Dauer nicht gut geht, wenn sich die Einkommensschere immer weiter öffnet.
DIE ZEIT: Sie glauben an die Einsicht dieser Gruppen?
Horst Köhler: Wir reden auch hier in der Mehrheit von Menschen mit Verstand und Verantwortungsgefühl, die in der Lage sind, Zusammenhänge zu erkennen. Sie wissen, dass wir in einer sehr vernetzten, von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt und Gesellschaft leben und dass deshalb die Entwicklung extremer Einkommensunterschiede auf Dauer auf die soziale und politische Stabilität in der Gesellschaft zurückschlagen wird. Wenn ein Unternehmer heute nicht sieht, dass er langfristig ein Eigeninteresse an sozialer und politischer Stabilität hat, dann, glaube ich, hat er seinen Unternehmensauftrag nicht richtig verstanden.
DIE ZEIT: In den vergangenen Jahren sind die Gewinne explodiert, die Aktienkurse gewaltig gestiegen, die Realeinkommen aber stagnieren oder sind sogar gesunken. Wie erklären Sie das der Bevölkerung?
Horst Köhler: Zunächst einmal ist das einer der Gründe, warum ich so deutlich die oberste Schicht unserer Manager ermahne, hier Maß und Mitte zu halten. Das Zweite ist, dass ich die relativ gedämpfte Einkommensentwicklung der breiten Schicht der Arbeitnehmerschaft in einen Gesamtkontext zu stellen versuche. Dazu gehört auch die Tatsache, dass es den allermeisten Menschen in Deutschland heute nach allen historischen Vergleichsmaßstäben gut geht. Wahr ist aber auch: Wenn qualifizierte Arbeit überall auf der Welt erledigt werden kann, dann lässt sich ihr Preis immer weniger innerhalb von Landesgrenzen bestimmen.
DIE ZEIT: Die Unternehmen agieren eben global, die Gewerkschaften nur auf nationaler Ebene.
Horst Köhler: Das Problem liegt in der Tat darin, dass sich durch die Globalisierung immer mehr Bereiche entgrenzen, während politische - auch tarifpolitische - Handlungsmandate im Prinzip räumlich begrenzt bleiben. Das schwächt strukturell die Verhandlungsmacht national agierender Gewerkschaftsorganisationen. Deshalb bin ich dafür, abhängig Beschäftigten eine zweite Einkommensquelle zu erschließen, und zwar über die Beteiligung am Unternehmensertrag oder auch am Produktivvermögen von Unternehmen. Und ich halte es für richtig, die Finanzierung kollektiver Sozialsysteme stärker von den Arbeitsverträgen abzukoppeln. Um Arbeit und Einkommen in Deutschland zu halten, sollten die Lohnnebenkosten nachhaltig gesenkt werden.
Und tatsächlich stellen wir jetzt ja auch fest, dass wir dem sozialen Kernproblem in Deutschland, der Arbeitslosigkeit, nicht hilflos ausgeliefert sind: Die Beschäftigung nimmt wieder zu, und die Arbeitslosigkeit nimmt ab. Das hat mit der guten Weltkonjunktur zu tun und mit den Reformen der vergangenen Jahre, vor allem auch noch unter der rot-grünen Koalition. Es hat aber auch eminent mit der insgesamt besonnenen Tarifpolitik der Gewerkschaften und der Arbeitgeber in den vergangenen Jahren zu tun. Ich glaube, man kann den Arbeitnehmern vermitteln, dass es in ihrem Interesse und im Interesse ihrer Arbeit suchenden Mitbürger ist, diese vernünftige Grundlinie in der Lohnpolitik fortzusetzen.
DIE ZEIT: Vorausgesetzt, auch die andere Seite zeigt Maß.
Horst Köhler: Ja. Jetzt ist von allen Seiten Einfühlungsvermögen gefragt.
DIE ZEIT: Finden Sie es gerecht, wenn ein 50-Jähriger, der 25 oder 30 Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, genauso lange Arbeitslosengeld I bekommt wie ein 25-Jähriger, der nur fünf Jahre lang eingezahlt hat?
Horst Köhler: Nach dieser Logik wäre es die größte Ungerechtigkeit, zeitlebens nie arbeitslos zu werden. Denn schließlich bedeutet das, dass man "umsonst" - also ohne eigenen Vorteil - jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Ich finde, das stellt den Gedanken der Solidarität auf den Kopf. Die Arbeitslosenversicherung ist kein Ansparvertrag, der mir ermöglicht, mehr herauszuholen, wenn ich eben erst später im Leben arbeitslos werde. Das ist ein historisch bewährtes Instrument, wie wir Risikoabsicherung auch für eine hohe Zahl betroffener Menschen wirksam organisieren können. Ich kann gleichwohl verstehen, dass einer, der so lange eingezahlt hat, meint, er sollte besser behandelt werden als der Junge. Aber die Politik sollte die Kraft haben, durch die Erläuterung des Sachzusammenhangs zu überzeugen.
DIE ZEIT: Wie kann es sein, dass der Ministerpräsident eines großen Bundeslandes diese einfache ökonomische Wahrheit nicht kennt?
Horst Köhler: Parteien können und müssen um die besten Lösungen für Probleme streiten. Doch einmal getroffene Entscheidungen müssen auch Zeit bekommen, ihre Wirkung zu entfalten. Die Entscheidung der Regierung Schröder, die im Vergleich zu anderen Ländern lange Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld zu verkürzen, hat meines Erachtens zu der guten Arbeitsmarktentwicklung der jüngsten Zeit beigetragen. Ich plädiere deshalb für Stetigkeit in der Politik.
DIE ZEIT: Ist es klug, wenn Teile der Union sich jetzt als Vertretung von Arbeitnehmerinteressen profilieren?
Horst Köhler: Arbeitnehmerinteressen müssen in jeder Volkspartei gut aufgehoben sein.
DIE ZEIT: Mehr noch streitet die Union derzeit über die Familienpolitik.
Horst Köhler: Ich glaube, diese Diskussion war überfällig, und ich bin Frau von der Leyen dankbar für ihren Vorschlag. Unsere Familien und die Gesellschaft insgesamt brauchen unbestreitbar mehr Kinderbetreuungsplätze. Die Umsetzung dieses Vorschlags geht ebenso unbestreitbar mitten in die Domäne der Länder hinein, nicht zuletzt nach der Föderalismusreform. Noch kritischer fragen manche: Bedeutet dies eine offizielle Abkehr vom traditionellen Familienbild, nach dem die Frau hauptsächlich für die Kindererziehung da sein sollte? Wenn ein Paar diese Entscheidung so trifft, würde ich sagen: Prima, macht es so! Nur ist die Realität eben, dass auch viele Frauen berufstätig sein wollen und müssen und dass wir viele alleinerziehende Mütter haben. Für die brauchen wir mehr Kinderbetreuungsplätze. Nur so wird die Wahlfreiheit in der Familienpolitik glaubwürdig. Deshalb war der Vorstoß von Ursula von der Leyen vernünftig.
Allerdings müssen wir wissen: Die Wertschätzung für Familien darf sich nicht in der Bereitstellung von Infrastruktur erschöpfen. Am Ziel sind wir erst, wenn Kinder und Eltern sich in der Gesellschaft wirklich willkommen und unterstützt fühlen.
DIE ZEIT: Gibt es eine neue Unterschicht in Deutschland?
Horst Köhler: Ich glaube, es gibt eine beachtliche Zahl von Menschen in Deutschland, die nach den Kategorien von Wohlstand, sozialem Status, Teilhabe oder Perspektive wirklich schlecht dran sind. Deshalb habe ich nichts gegen diesen Begriff. Er bezeichnet ein Problem in unserer Gesellschaft...
DIE ZEIT: ... das real existiert.
Horst Köhler: Es existiert. Allerdings geht es in Deutschland heute nicht mehr hauptsächlich um Ausbeutung oder um Armut in ihrer krassesten Form. Das moderne Problem liegt in den großen Unterschieden beim Zugang zu Chancen, vor allem für Bildung und Arbeit. Hier sind wir noch nicht entschlossen genug.
DIE ZEIT: Ist es allein ein ökonomisches oder auch ein kulturelles Phänomen, das da deutlich wird?
Horst Köhler: Wir müssen uns fragen, woran es liegt, dass diejenigen mit einem so großen Vorsprung an Wissen und Qualifikation in unserer Gesellschaft sich so abgenabelt haben von denen mit so wenigen Chancen. Zu viele haben sich angewöhnt wegzuschauen. Dabei halte ich es für eine Pflicht von Demokraten, sich gerade hier zu kümmern. Und umgekehrt dürfen wir von jeder und jedem verlangen, dass sie sich Mühe geben, aus einer prekären Lebenslage auch durch eigene Anstrengung wieder herauszukommen.
DIE ZEIT: Die von Ihnen immer wieder thematisierte Globalisierung wird in Deutschland meist nicht als Chance, sondern als Bedrohung angesehen. Zu Recht?
Horst Köhler: Die Globalisierung schafft sowohl Gewinner als auch Verlierer. Wir haben es mit Mitbewerbern zu tun, die viele Produkte, auf die wir als deutsche Industriegesellschaft stolz waren, inzwischen auch herstellen können. Aber darin nur eine Bedrohung zu sehen wird der Sache nicht gerecht. Unser wirtschaftlicher und politischer Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte maßgeblich auf einer Politik der offenen Märkte und der Zusammenarbeit. Und unsere Fähigkeit, durch unsere Exportleistung an der guten Weltkonjunktur der vergangenen Jahre zu partizipieren, hat uns noch größere soziale Probleme im Inland erspart. Manchmal staune ich, wie wenig Selbstvertrauen der "Exportweltmeister" zeigt. Wenn wir es richtig machen, uns also mit Reformen auf die neuen Bedingungen des 21. Jahrhunderts einstellen, können gerade wir Deutsche weiter großen Nutzen aus der Globalisierung ziehen.
DIE ZEIT: Was können wir tun, um die aufstrebenden Wirtschaftsmächte China, Indien, vielleicht Brasilien einzubinden?
Horst Köhler: Die Welt steht an einer Weggabelung. Die eine Wegrichtung weist zu neuen Mauern, einer Politik des Misstrauens und dem Versuch des Stärkeren, zu dominieren. Die andere Wegrichtung ist geprägt vom Bewusstsein, dass wir uns die eine Welt teilen müssen und deshalb Zusammenarbeit, Vertrauensaufbau und friedlichen Interessenausgleich brauchen - und auch starke multilaterale Institutionen, die sich um eine Weltinnenpolitik kümmern. Ich plädiere für den zweiten Weg, also den Weg der Zusammenarbeit auch mit China, Indien oder Brasilien. Globale Stabilität ist ohne diese Länder - übrigens auch ohne Russland - nicht mehr erreichbar.
DIE ZEIT: Also Kooperation, nicht Handelszonen.
Horst Köhler: Kooperation, die zu Verträgen, zu Handelszonen führen kann.
DIE ZEIT: Mit anderen Worten: kein Protektionismus, keine Abkommen gegeneinander.
Horst Köhler: Sondern miteinander. Und ich denke, dass wir vielleicht noch etwa zehn Jahre Zeit haben, um den Weg einer kooperativen Weltstrategie zu festigen, bei dem alle Menschen gewinnen. Nutzen wir diese Zeit nicht, werden möglicherweise die Versuchungen stärker, wachsende ökonomische Macht in politische oder militärische Macht umzusetzen. Das Bewusstsein, dass wir zusammen in einer Welt leben, die Armen, die Reichen, die heute noch Mächtigen und die vielleicht morgen erst Mächtigen, nimmt zu. Ein Phänomen wie der Klimawandel zeigt doch: Es kommt nicht darauf an, wer in zehn Jahren die meisten Atombomben hat.
DIE ZEIT: Die Wettbewerber sitzen ja nicht nur in Indien, China oder Brasilien. Sie sitzen zum Beispiel auch in Japan. Hat die deutsche Autoindustrie die Zeichen der Zeit verschlafen? Das Hybridauto jedenfalls haben die Japaner entwickelt.
Horst Köhler: Die deutsche Automobilindustrie hat große Erfolge, und wenn wir sie nicht gehabt hätten, wäre es in Deutschland in den letzten Jahren viel schwieriger gewesen. Unsere Autos sind weltweit bei den Kunden gefragt. Das muss man fairerweise sagen. Trotzdem steht auch fest, dass die Automobilindustrie mit Blick auf die ökologische Entwicklung dieser Erde kein Ruhmesblatt geschrieben hat.
DIE ZEIT: Wie beim Katalysator.
Horst Köhler: Spätestens jetzt muss sich die Industrie die Frage gefallen lassen: Was kann man denn davon halten, dass sie Selbstverpflichtungen eingeht und dann wiederholt nicht liefert? In jedem Fall werden die Manager klug genug sein, jetzt die Entwicklung voranzutreiben und die erforderlichen Investitionen zu tätigen, um deutsche Autos und Motoren umweltfreundlich zu machen.
DIE ZEIT: Reicht Selbstverpflichtung, oder muss der Staat mit gesetzlichen Vorschriften intervenieren?
Horst Köhler: Offensichtlich hat die Selbstverpflichtung nicht funktioniert. Und der Staat hat keinen Mumm gehabt, etwas deutlichere Vorgaben zu machen. Ich finde, Unternehmen und Staat müssen sich Gedanken machen, wie man Kundenwünsche so weckt und handhabt, dass sie mit Umweltzielen vereinbar sind. Der Staat darf sich nicht scheuen, vorausschauend Ziele zu setzen, und die Industrie muss darauf antworten. Der Markt allein wird es nicht richten.
DIE ZEIT: Die Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich, bei Parlamentsdebatten hört kaum noch einer zu: Wie weit reicht der Vertrauensverlust gegenüber der Politik?
Horst Köhler: Wenn man den Meinungsumfragen folgen würde, reicht der Vertrauensverlust bereits weit. Mein Rat ist jedoch, sich weniger von Meinungsumfragen als von konkreten Sachfragen leiten zu lassen und einen Zickzack in der Politik zu vermeiden. Vielleicht sprechen wir auch besser von einer Krise des Zutrauens und der Zuversicht in Deutschland. Wenn ich mit den Bürgern spreche, kann ich keinen Mangel an Ideen feststellen. Es fehlt an der Möglichkeit zur Umsetzung von Ideen, auch weil die staatlichen Regulierungen häufig zu wenig Flexibilität zulassen.
Im Übrigen: In jeder modernen Demokratie nach westlichem Muster gibt es eine Spannung zwischen der Erkenntnis des langfristig Notwendigen und dem Zwang, sich kurzfristig in Wahlen neu legitimieren zu müssen. Die Frage ist doch: Wie organisiert man Legitimation für vorausschauende Politik? Meine Empfehlung für den Anfang lautet: Die Politik sollte gegenüber dem Bürger ehrlich sein, sagen, was sie kann und was sie nicht kann.
DIE ZEIT: Was kann sie denn nicht?
Horst Köhler: Sie sollte zum Beispiel nicht falsche Sicherheiten versprechen. Die Welt befindet sich im Übergang. Das schafft Unsicherheit, die nach Antworten verlangt. Also schaut alles reflexartig auf die Politik, die unter Druck gerät. Und die Politik reagiert oft eilig mit neuen Vorschriften, von denen angenommen wird, dass sie das jeweils anstehende Problem beheben. Wenn wir es ernst meinen mit dem mündigen Bürger, dann dürfen wir ihm keine Scheinwelt der Sicherheit vorgaukeln. Unsicherheit kann auch Ansporn zu Kreativität sein, und wir brauchen für neue kreative Lösungen auch die notwendige Freiheit.
Zudem brauchen wir ein besseres Erklären von Zusammenhängen, auch Aufklärung der Bürger darüber, was ihr eigenes Verhalten an Problemen aufwirft. Der Kunde kauft gern die billigsten Fernseher aus Fernost, aber gleichzeitig hat er Angst, dass ihm die Chinesen im Zuge der Globalisierung den Arbeitsplatz wegnehmen. Man muss dem Bürger schon auch Wahrheiten zumuten und weniger mit Verheißungen operieren, die da lauten: Ich kann alles für dich lösen. Die Politik sollte sich nicht überfordern.
DIE ZEIT: Frau Merkel hat es im letzten Wahlkampf mit der Wahrheit versucht und ist dafür heftig abgestraft worden.
Horst Köhler: Das teile ich so nicht.
DIE ZEIT: Warum nicht?
Horst Köhler: Weil ich glaube, dass der Ausgang der Wahl auch mit anderen Faktoren zusammenhing, nicht nur mit sogenannten Radikalreformvorschlägen.
DIE ZEIT: Man kann also mit Ehrlichkeit auch Wahlen gewinnen?
Horst Köhler: Ja. Ich glaube an die Vernunftbegabung der Menschen.
DIE ZEIT: Was muss noch dazukommen? Glaubwürdigkeit?
Horst Köhler: Die Glaubwürdigkeit, dem Bürger die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Politik und des Staates zu vermitteln. In Schönwetterreden handeln wir ständig die Freiheit und die Würde des Menschen ab. Wenn es aber darum geht, den Menschen auch in seiner Verantwortung in Freiheit zu sehen, wenn es einmal ein wenig schwieriger wird, heißt es sehr bald: Da muss der Staat her. Der Staat hat durch Versprechungen der Politik Funktionen und Aufgaben übernommen, die er nicht mehr durchweg leisten kann. Es ist doch kein Wunder, wenn dann Verdruss einkehrt. Wir müssen uns viel stärker fragen, wie der Staat verlässlich dazu beitragen kann, den Bürgern Chancen zu eröffnen, zum Beispiel durch ein modernes Bildungssystem. Glaubwürdig ist das aber nur, wenn wir dabei gleichzeitig und offen die Eigenverantwortung der Bürger ansprechen.
DIE ZEIT: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Sie in diesen lausigen Zeiten so herausragende persönliche Umfragewerte haben?
Horst Köhler: Nein, aber ich freue mich darüber. Wenn ich den Menschen begegne, geben wir uns die Hand, und ich frage sie, wie es ihnen geht und wo sie der Schuh drückt. Und dann erzählen sie es mir, und ich höre zu.
DIE ZEIT: Diese Popularität, die Sie in der Bevölkerung genießen, wird in der politischen Klasse nicht ganz so geteilt, da gibt es viel Kritik an Ihrer Amtsführung. Manche sagen, der Bundespräsident gehöre zur "außerparlamentarischen Opposition", er sei gar ein "Antipolitiker".
Horst Köhler: Ich übe mein Amt nach bestem Wissen und Gewissen aus, und ich äußere meine Meinung, wenn ich es für richtig halte. Wie jeder Mensch bin ich dabei nicht unfehlbar, aber niemand sollte erwarten, dass ich anderer Leute Schablone "So hat der Bundespräsident zu sein" entspreche.
DIE ZEIT: Der Bundespräsident darf demnach eine eigene politische Agenda verfolgen?
Horst Köhler: Ich glaube, wenn er es nicht tut, ignoriert er seinen Amtseid.
DIE ZEIT: Er schwebt nicht über den Wassern der Tagespolitik?
Horst Köhler: Vorwürfe, ich würde meine Kompetenzen überschreiten, halte ich für nicht zutreffend.
DIE ZEIT: Es gab zwei Gesetzesvorhaben, denen Sie innerhalb kurzer Zeit Ihre Unterschrift verweigert haben, dabei ging es um die Privatisierung der Flugsicherung und das Verbraucherinformationsgesetz. Im Grunde sagten Sie: Ihr habt schlampig gearbeitet. Unterstellt, das passierte ein drittes Mal: Hätten wir dann eine Krise zwischen den obersten Staatsorganen?
Horst Köhler: Es ist nicht meine Absicht, irgendjemandem Schlampigkeit vorzuwerfen. Das Grundgesetz ist, wie es ist. Das hat dazu geführt, dass ich zweimal gehindert war, Unterschriften zu leisten. Ich prüfe jedes Gesetz darauf, ob es nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist oder nicht. Und von politischen Krisen zu reden, halte ich schon deshalb für verfehlt, weil das Grundgesetz ja die Möglichkeit einer Klage im Organstreitverfahren vorsieht - exakt, um eine solche Krise zu verhindern.
DIE ZEIT: Es wäre ein präzedenzloser Fall, wenn gegen den Bundespräsidenten geklagt würde.
Horst Köhler: Ja.
DIE ZEIT: SPD-Vertreter haben gesagt, Gesetzen müsse schon die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben sein, bevor der Bundespräsident seine Unterschrift verweigern könne.
Horst Köhler: Ich bin Optimist: Wenn es dem Gesetz auf der Stirn geschrieben steht, dann wird es vom Parlament nicht verabschiedet.
DIE ZEIT: Noch einmal zu Ihrem Bild in der veröffentlichten Meinung. Wollen Sie etwas zur Verteidigung von Sparkassendirektoren sagen?
Horst Köhler: Ich habe sie ganz überwiegend als kompetente, verantwortungsbewusste und hart arbeitende Leute kennengelernt. Wir können froh sein, unsere Sparkassen und gute Sparkassenvorstände zu haben.
DIE ZEIT: Auf Ihrem Schreibtisch liegt das Gnadengesuch von Christian Klar. Erkennen Sie bei ihm Zeichen von Einsicht?
Horst Köhler: Zu diesem Thema äußere ich mich nicht.