Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.12.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/77/30377/multi.htm


Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Wenn wir heute, am Ende des Jahres, miteinander zurückschauen, können wir feststellen, dass dieses Jahr ein gutes Jahr für unser Land war. Wir haben gemeinsam viel erreicht. Und auch wenn uns immer wieder vor Augen geführt wird, dass die Probleme der Welt nicht an unseren Grenzen Halt machen, so haben wir doch allen Grund, mit Optimismus und Selbstvertrauen ins neue Jahr zu blicken.

Das wirtschaftliche Wachstum ist robust und steht auf soliden Fundamenten. Der begonnene Aufschwung setzt sich fort. Die Preise bleiben stabil. Die deutsche Wirtschaft und ihre Produkte sind auf den internationalen Märkten konkurrenzfähig wie lange nicht mehr. In Deutschland wird wieder mehr investiert als in vielen Jahren zuvor.

Am meisten freuen mich die Fortschritte, die wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielt haben. In den vergangenen zwei Jahren haben wir die Zahl der Arbeitslosen um mehr als eine Million zurückdrängen können. Allein im Jahr 2000 sind mehr als eine halbe Million neue Jobs entstanden. Das ist noch nicht genug. Wir werden auch im neuen Jahr verstärkte Anstrengungen unternehmen, um die Arbeitslosigkeit weiter zurückzudrängen. Die allermeisten von Ihnen werden schon Ende Januar die positiven Auswirkungen unserer Steuerreform auf dem Gehaltszettel sehen können. Durch die größte Steuerentlastung in der Geschichte unseres Landes, die morgen in Kraft tritt, werden Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen allein im kommenden Jahr insgesamt 45 Milliarden Mark weniger Steuern zahlen. Diese Entlastung war überfällig. Aber es geht nicht mehr um materiellen Wohlstand allein. Unsere Kinder stellen uns andere Fragen: Was dürfen wir noch essen? Wie sieht die Umwelt aus, in der wir morgen leben werden? Was für eine Zukunft gestaltet ihr für euch und für uns?

Die beunruhigenden Meldungen über die Verbreitung der BSE-Erkrankung haben meine Familie ebenso entsetzt wie Sie und Ihre Familien. Wir alle, ob als Politiker oder als Verbraucher, waren vielleicht zu gutgläubig. Sicher gilt das auch für viele rechtschaffene Bauern. Viele von uns haben wohl zu lange auf die Informationen vertraut, in denen uns bescheinigt wurde, unser Land sei BSE-frei. Aber Sie erwarten zu Recht, dass die Sicherheit unserer Nahrungsmittel, die Gesundheit und der Schutz der Verbraucher oberste Priorität haben. Wir haben in Deutschland schnell und konsequent notwendige Entscheidungen getroffen. Dabei sollte allerdings niemand übersehen: Wir haben es hier mit einer Krankheit zu tun, über deren Ursachen und Verbreitungswege die Wissenschaftler noch rätseln. Ich meine: Was wir jetzt am allerwenigsten brauchen, ist ein Wettbewerb in Schuldzuweisungen und Rücktrittsforderungen.

Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern hat sich in mehr als 50 Jahren im Prinzip bewährt. Aber zum Beispiel bei der Überwachung der Tiermehlverfütterung sind Defizite deutlich geworden. Deshalb brauchen wir unverzüglich eine konsequente Schwachstellenanalyse auf allen politischen Ebenen. Ich bin sehr froh, dass sich eine außergewöhnlich sachkundige Frau zur Mitarbeit in dieser Frage bereit erklärt hat. Die Präsidentin des Bundesrechnungshofes, Frau Dr. Hedda von Wedel - Expertin auch in Sachen Ernährung und Landwirtschaft - , wird nun in meinem Auftrag diese Schwachstellenanalyse beginnen. Die Bundesregierung wird danach gemeinsam mit den Ländern die notwendigen organisatorischen Konsequenzen ziehen.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist unsere nächste große Aufgabe. Sie ist politisch, wirtschaftlich und moralisch notwendig. Und sie wird sich als eine Erfolgsgeschichte erweisen, in der am Ende alle Gewinner sein werden. Aber gerade wer für die Osterweiterung ist, muss die vorhandenen Sorgen ernst nehmen und Übergangslösungen zum Beispiel für die schrittweise Öffnung der Arbeitsmärkte schaffen. Diese Übergänge werden wir ökonomisch vernünftig und gegenüber unseren Nachbarn fair gestalten.

Ein größeres Europa liegt in unserem nationalen Interesse. Es ist die politisch und wirtschaftlich richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Ein solches Europa verträgt weder Rassismus noch Fremdenfeindlichkeit und ganz sicher keinen Antisemitismus. Die Unbelehrbaren, deren Ausländerhass sich inzwischen gegen jeden richtet, der auch nur fremdländisch aussieht, diese Banden haben in unserem Staat und in unserer Gesellschaft keine Chance. Wir als Bundesregierung wollen jedenfalls, dass sie die ganze Härte des Gesetzes trifft. Aber wir brauchen weiter die Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern, die Zivilcourage beweisen und gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus aufstehen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich in diesem Sinne engagieren und dabei Gesicht zeigen.

Miteinander handeln, das heißt auch: füreinander da sein. Kaum etwas betrifft die Menschen, junge und ältere, in unserem Gemeinwesen so sehr wie die Alterssicherung. Wer eine lange Zeit seines Lebens gearbeitet hat - und damit meine ich auch Kindererziehung oder Familienarbeit - der hat ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard im Alter. Den Rentenbeitrag für die Jüngeren finanzierbar und die Rente für die Älteren sicher zu halten - das ist das entscheidende Ziel unserer Rentenreform.

Das Ergebnis wird alle Anstrengungen wert sein: Die Solidarität zwischen den Generationen bleibt erhalten. Und die Rente für die älteren Menschen, aber auch für unsere Kinder und Enkel wird endlich wieder auf eine solide Grundlage gestellt. Denn, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich möchte, dass Zukunft etwas ist, das Hoffnungen bei uns auslöst - und nicht Ängste.

Wir wollen nicht nur unseren Lebensstandard sichern, sondern wir wollen Lebensqualität auch für kommende Generationen schaffen. Wir haben bewiesen, dass es auch in einer Zeit der Globalisierung und rasanter Veränderungen möglich ist, Probleme miteinander zu lösen und Zukunftsaufgaben anzugehen.

Gerechtigkeit und Solidarität sowie die Achtung der Menschenwürde sind die Werte, von denen wir uns in unserem Handeln leiten lassen. Mit Ihrem Engagement und Ihrer Unterstützung werden wir auch die Herausforderungen des vor uns liegenden Jahres meistern.

Ich wünsche Ihnen ein gutes, erfolgreiches und gesundes Jahr 2001.