Redner(in): Christina Weiss
Datum: 12.03.2003

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss würdigt das Werk von Henri Matisse und das Engagement der Ausstellungsmacher, die eine bemerkenswerte Werkschau ermöglicht haben.
Anrede: Sehr verehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/19/471719/multi.htm


Sie alle kennen das famose Gemälde "Der Tanz", das sich wie kein zweites mit dem Namen Henri Matisse verbindet. Fünf junge Menschen - Frauen wie Männer - tanzen, wirbeln, ja schweben auf grünem Grund. Ein traumhaft blauer Himmel umfängt sie wie ein Seidentuch. Noch bilden die Tänzer einen Kreis, wiegen sich auf und ab im Spiel gebändigter Unbändigkeit. Doch diese Einheit ist fragil, gegen den linken Schritt stellt sich ein rechter, dem Bogen trotzt ein spitzer Winkel. Eine Linie schwingt sich auf, bricht ab, setzt andernorts neu an. Flächen fassen Flächen, bilden Körper, bilden Raum und sind dabei jedoch auch Folie. Mit ihrer chromatisch ordnenden Macht bedingen sich Schwünge und Brüche, schaffen gemeinsam erst ein malerisches Meisterwerk, das - wie hätte ich es sonst erwähnt - genau so gut als "Scherenschnitt" bestehen könnte. Als Scherenschnitt à la Matisse versteht sich, das mit dem volkstümlichen Schattenbild allerdings nicht mehr gemein hat als den Namen und die Grundtechnik.

Denn obwohl Henri Matisse bei den "papiers découpés" seiner Spätzeit, die wir vor allem dank Ihnen, sehr verehrter Herr Berggruen senior und sehr verehrter Herr Berggruen junior nun auch in Berlin bestaunen dürfen - denn obwohl Matisse bei seinen Scherenschnitten auf die alte Kunst des klar gefühlten und klar geführten Schnittes zurückgriff, Flächen zu Flächen und Farben zu Farben gab, blieb er auf und mit dem Papier letztlich ein Maler. Seine Arrangements - floral oder anthropomorph, amorph oder abstrakt - sind die Arrangements eines Malers. Seine Linien sind die Linien eines Malers. Seine Farben, sind die Farben eines Malers. Wer die Scherenschnitt-Collagen genau betrachtet, sieht nicht nur, wie fein sie arrangiert sind. Der Betrachter spürt geradezu die Lust des "alten" Meisters, seiner Jugend treu zu sein. Im Spätwerk Henri Matisse' lebt jener "Tanz" der Moderne fort, ohne den wir, sehr verehrte Damen und Herren, wohl nicht mehr sein könnten; ohne den zumindest ich nicht mehr sein möchte.

Meine Bewunderung für die Matisse'schen Scherenschnitte geht allerdings weit über den Rahmen des Ästhetischen hinaus, was Sie mir - meine sehr verehrten Damen und Herren - sicher gern nachsehen werden: Für mich sind die fragilen Collagen auch ein Vorbild für meine Profession, für die Kunst der Politik, wenn sie so wollen: Gerade in der Kulturpolitik genügt es nämlich nicht, sich schlicht nur eine Farbe auszusuchen, gegebene Formen hinzunehmen, hier etwas zu beschneiden und dort etwas zu zerreißen, um es andernorts wieder zusammenzufügen. Eine Politik, die den Künsten, den Künstlern und dem Bürger gleichermaßen dienen will, muss vielmehr von einer "malerischen" Vision getragen sein. Sie muss ein Gesamtbild vor Augen haben, nach dem Bögen geformt und klare Schnitte gesetzt werden, ein Bild, das man aus vielen Teilen zusammensetzen kann, und das man eben genau so lange arrangieren muss, bis es wirklich stimmig ist.