Redner(in): Michael Roth
Datum: 11.12.2015

Untertitel: Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Jahresempfang der Türkisch-Deutschen Studierenden - und Akademikerplattform
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/151211-StM_R_TD_Plattform.html


Ein Sprachrohr zu sein für junge Akademiker und Studierende zu den Themen Integration und Bildung " so umschreibt die TD-Plattform selbst ihren Auftrag. Seit fast zehn Jahren fördert die TD-Plattform nun schon talentierte, qualifizierte und engagierte junge Menschen mit Migrationshintergrund. Ihr Ziel ist, dass allen jungen Menschen in Deutschland die gleichen Chancen offenstehen. Aufstieg durch Bildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und politische Teilhabe das sind Ihre zentralen Themen.

Und die große Zahl an Gästen, die heute gekommen sind, zeigt, dass Sie für Ihr Engagement von vielen geschätzt werden. Im vergangenen Jahr haben Sie Ihren Jahresempfang mit vielen hochkarätigen Gästen in der Türkischen Botschaft hier in Berlin gefeiert. Dieses Jahr sind Sie nun zu Gast hier im Weltsaal des Auswärtigen Amts.

Wie schön, dass heute Abend auch der Botschafter der Republik Türkei, Hüseyin Avni Karslioglu, zu uns gekommen ist. Ein herzliches Willkommen Ihnen allen!

Auch wenn die TD-Plattform sich vor allem hier in Deutschland gesellschaftlich und politisch einbringt, so haben alle Ihre Mitglieder einen Bezug zur Türkei. Manchmal ist dieser Bezug noch sehr eng, wenn sie vielleicht vor einigen Jahren zum Studium nach Deutschland gekommen sind und sich entschieden haben, hier zu bleiben.

Viele von Ihnen sind aber Kinder oder gar Enkelkinder der Einwanderer, die in den 1960er Jahren als sogenannte Gastarbeiter zu uns kamen. Grundlage dafür war damals das Anwerbeabkommen, das 1961 zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geschlossen wurde. Insgesamt sind nach 1961 mehr als 800.000 Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen.

Das deutsche Wirtschaftswunder haben wir zu einem großen Teil auch diesen Gastarbeitern zu verdanken. Viele von ihnen haben ihre Familien nachgeholt und in Deutschland dauerhaft ein neues Zuhause gefunden.

Im Rückblick müssen wir heute aber auch selbstkritisch eingestehen: Es war eines der größten Versäumnisse unserer Nachkriegsgeschichte, dass wir damals weder auf Sprachkurse, Migrationsberatung noch auf eine vorausschauende Integrationspolitik gesetzt haben. Der Schriftsteller Max Frisch hat das treffend auf den Punkt gebracht mit den Worten: "Wir riefen Arbeitskräfte, doch es kamen Menschen an." Darauf sind wir in der Vergangenheit nicht vorbereitet gewesen.

Doch aus diesen Fehlern haben wir hoffentlich gelernt. Denn diese Frage ist ja auch heute wieder aktuell. In diesem Jahr werden wir in Deutschland wohl eine Million Flüchtlinge aufnehmen, die bei uns Schutz vor Krieg, Terror und Verfolgung in ihren Heimatländern suchen. Und schon heute wissen wir: Viele von ihnen werden länger bei uns bleiben.

Wie gelingt es uns, diese Menschen in den kommenden Jahren in unsere Gesellschaft und ins Arbeitsleben zu integrieren?

Dabei geht es nicht bloß darum, welche Erwartungen wir an die Menschen haben, die in Deutschland dauerhaft eine neue Heimat finden wollen. Es geht auch um die Frage, ob wir uns nicht selbst auch verändern müssen, wenn wir ein buntes, weltoffenes Einwanderungsland sein wollen. Integration ist eben keine Einbahnstraße. Es wird auf Dauer kaum funktionieren, den Zuwanderern einfach zu sagen: "Wir sind in der Mehrheit. Passt Euch gefälligst an!"

Nein, wir müssen akzeptieren, dass die Menschen, die zu uns kommen, mittelfristig auch unsere Gesellschaft verändern werden. Wir müssen Migration endlich als Chance und nicht als Bedrohung begreifen. Migration bedeutet Vielfalt und Buntheit. Und ich würde sogar so weit gehen: Diese Vielfalt und Buntheit sind unsere allergrößte Stärke!

Dafür muss ich heute Abend nur in diesen Saal blicken: Sie alle bringen durch ihre Herkunft oder die Ihrer Eltern etwas mit, das für unser Land ungemein wichtig ist: Eine Öffnung nach außen, in einen anderen Kulturkreis und eine andere Sprache. Das tut unserem Land gut!

Wir sind es alleine schon den drei Millionen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland schuldig, dass unsere Beziehungen zur Türkei eng und freundschaftlich sind. Viele Brücken verbinden unsere beiden Länder: Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei. Millionen Deutschen verbringen ihren Urlaub in der Türkei. Mit der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul und der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke gibt es zwei hervorragende Institutionen, die sich dem gegenseitigen Jugend- und Wissensaustausch widmen.

Und auch politisch pflegen wir intensiven Kontakt: Sie haben alle in den Medien verfolgt, wie eng wir in der aktuellen Flüchtlingsfrage mit der Türkei zusammenarbeiten. Die Türkei ist ein wichtiges Schlüsselland, wenn wir Antworten auf die derzeitigen Flüchtlingsbewegungen finden wollen.

Deswegen müssen wir kontinuierlich im Gespräch bleiben und uns noch enger abstimmen. Wie Sie vielleicht wissen, haben Bundeskanzlerin Merkel und der türkische Ministerpräsident Davutoglu bei seinem Besuch in Berlin am Anfang dieses Jahres beschlossen, ab dem kommenden Jahr regelmäßige Regierungskonsultationen durchzuführen. Ein so umfassendes Gesprächsformat, an dem neben den Regierungschefs auch die wichtigsten Minister beider Länder teilnehmen, pflegt die Bundesrepublik nur mit ganz wenigen Staaten.

In unseren Gesprächen mit der türkischen Regierung geht es bisweilen natürlich auch um schwierige Themen. Einige innenpolitische Entwicklungen in der Türkei beobachten wir mit großer Sorge. Presse- und Meinungsfreiheit sind in Bedrängnis geraten, auch der Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz sind bedroht. Unter Partnern sprechen wir diese Themen offen an. Bei meinen Besuchen in der Türkei sind Begegnungen mit der Zivilgesellschaft, mit Vertreterinnen und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, der Wirtschaft, von Stiftungen und Medien mindestens genauso wichtig wie der Kontakt zu Regierung und Parlament.

Vergessen wir aber nicht: In den vergangenen Jahren gab es auch eine Reihe von positiven Entwicklungen. Unter der vorherigen AKP-Regierung wurden ernstgemeinte Schritte zur Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK unternommen. Kurden und religiösen Minderheiten wurden mehr Rechte zugesprochen.

Und manche einstige Tabuthemen, darunter zum Beispiel die Massaker und Vertreibungen an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916, werden mittlerweile offener und kritischer diskutiert. Wir hoffen, dass die neue Regierung in der Türkei an diese ermutigenden Ansätze wieder anknüpft und das Land schnellstmöglich zu Frieden und Stabilität zurückkehrt.

Ich bleibe dabei: Der beste Weg, die Türkei konstruktiv auf diesem Weg zu begleiten, ist der Beitrittsprozess zur Europäischen Union. Gerade in jüngster Zeit ist in den Prozess wieder mehr Dynamik gekommen. In diesem Rahmen setzen wir uns auch dafür ein, dass neue Verhandlungskapitel eröffnet werden. Denn wir stehen hinter dem Beitrittsprozess: Eine Türkei, die sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten sowie einer kritischen und mündigen Zivilgesellschaft bekennt kurz: eine Türkei, die sich als fester Teil der europäischen Wertegemeinschaft versteht können wir uns in der EU gut vorstellen.

In der TD-Plattform haben sich junge türkischstämmige Akademiker und Studierende versammelt, die genau diese europäischen Werte leben wollen. Mit der Förderung junger Talente leistet die TD-Plattform aber nicht nur einen Dienst an der Gesellschaft. Sie stellt damit auch den Einzelnen, seine Wünsche, Ziele und Potenziale in den Mittelpunkt und hilft, diese zu verwirklichen.

Darüber kann sich nicht nur Deutschland freuen, sondern auch das Auswärtige Amt. Denn unser Haus interessiert sich für Sie! Wir brauchen kluge und weltoffene junge Menschen mit den verschiedensten Hintergründen wie Sie. Mit seiner Zentrale in Berlin und seinem Netz von rund 230 Auslandsvertretungen pflegt das Auswärtige Amt die Beziehungen Deutschlands zu anderen Staaten und zu den internationalen Organisationen.

Es geht aber nicht nur um Beziehungen zwischen Staaten, sondern vor allem auch um den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen in anderen Ländern, mit Nichtregierungsorganisationen, den Medien und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Dabei können wir mit unserem Team nur erfolgreich sein, wenn wir fremde Sprachen sprechen, interkulturelles Feingefühl mitbringen und soziale Kompetenz unter Beweis stellen. Wenn wir Freude am Leben im Ausland haben und wenn wir auch mit schwierigen Lebensumständen an manchen Orten zurechtkommen.

Und was besonders wichtig ist: Als Auswärtiger Dienst wollen wir die deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt und Buntheit widerspiegeln. Und dazu gehört selbstverständlich auch, dass Deutsche mit türkischen, arabischen, russischen oder afrikanischen Wurzeln genauso Teil des Teams sind, wie diejenigen, deren Vorfahren aus Berlin, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern stammen.

Deshalb freue ich mich sehr, dass heute Abend auch der Ausbildungsleiter des höheren Auswärtigen Dienstes, Kai Baldow, unter uns ist. Er wird Ihnen das Berufsbild und die Karrieremöglichkeiten im Auswärtigen Amt später noch genauer vorstellen und hoffentlich Ihr Interesse an einer Arbeit bei uns wecken.

Ich bin mir sicher, dass es in einigen Jahren auch eine Reihe deutscher Botschafter mit "bunten" Biographien und Lebensgeschichten geben wird. Und wenn ich mich hier im Saal so umschaue: Warum nicht auch eine oder einer von Ihnen?! Sie sind in Deutschland nicht nur auf der Durchreise, sie sind in unserem Land angekommen. Sie gehören zu uns! Die TD-Plattform leistet einen großartigen Beitrag, um Ihre Potenziale freizulegen und zu fördern. Machen Sie weiter so!