Redner(in): Michael Roth
Datum: 15.03.2016
Untertitel: Rede von Europa-Staatsminister Roth zur Ausstellungseröffnung "Forty out of one million. The human cost of the Syrian war"
Anrede: Lieber Kai Wiedenhöfer,verehrte Gäste,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/160315_StM_R_Ausstellung.html
heute vor genau fünf Jahren begannen in Syrien die ersten Aufstände gegen das Assad-Regime. Was damals noch so hoffnungsvoll als Arabischer Frühling begann, endete für die Menschen in Syrien in einer unaufhörlichen Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Damals im März 2011 konnte niemand ahnen, dass sich aus der Euphorie der staatlichen Umbrüche in der arabischen Welt ein so dramatischer Konflikt entwickeln würde, der einmal die gesamte Region erschüttern sollte.
Seit nunmehr fünf Jahren ist der Syrien-Konflikt auch bei uns in Deutschland gegenwärtig. Zunächst nur ganz abstrakt durch die Fernsehbilder aus dem Bürgerkriegsgebiet in den abendlichen Nachrichtensendungen, seit einigen Monaten dann auch ganz konkret durch die große Zahl von syrischen Flüchtlin-gen, die hierzulande Zuflucht vor Krieg, Terror und Verfolgung gefunden haben. Mittlerweile können wir die Augen nicht mehr davor verschließen, dass der Syrien-Konflikt auch bei uns in Deutschland angekommen ist nicht nur an der bayerisch-österreichischen Grenze, nicht nur hier in einer Großstadt wie Berlin, sondern auch in meiner nordhessischen Heimat.
Mehrere hunderttausend Syrerinnen und Syrer sind seit 2011 alleine oder mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet vor den Bomben und dem Terror des Bürgerkriegs in ihrem Heimatland. Der Bürgerkrieg droht das ganze Land in den Abgrund zu reißen.
Viele haben alles verloren ihr Zuhause, ihren Arbeitsplatz, ihre Angehörigen, ihre Freunde. Selbst für diejenigen, die den furchtbaren Bürgerkrieg überlebt haben, ist oftmals ihr ganzes bisheriges Leben ausgelöscht worden. Viele werden für immer schmerzhafte Wunden und Narben mit sich tragen am Körper und an der Seele.
Diese körperlichen, aber auch seelischen Wunden hat der Fotograf Kai Wiedenhöfer mit seinen Bildern eingefangen. Mit seinen Portraits von schwer verletzten, für immer gezeichneten Menschen hat er das Grauen des Bürgerkriegs in Syrien für uns alle sichtbar und greifbar gemacht.
Der Syrien-Konflikt hat in den vergangenen fünf Jahren nicht nur mehr als 300.000 Todesopfer gefordert und 12 Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Im Bürgerkrieg wurden auch mehr als eine Million Menschen verletzt oder verwundet. Mehr als 10 Prozent davon leiden unter Amputationen oder Behinderungen. Häufig gerät diese Gruppe in Vergessenheit angesichts der gewaltigen Aufgabe, vor die uns alle die aktuelle Flüchtlingssituation stellt.
Diesen Menschen und ihren berührenden Einzelschicksalen gibt Kai Wiedenhöfer durch sein fotografisches Werk ein Gesicht. Genauer gesagt sind es 40 Gesichter, die stellvertretend stehen für eine Million Verletzte des Bürgerkriegs.
Die Fotos sind in den Jahren 2014 und 2015 in Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern im Libanon und in Jordanien entstanden. Sie zeigen ganz unterschiedliche Menschen Frauen und Männer, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Gerade dieser umfassende Blick macht deutlich: Jeder Mensch in Syrien kann zum Opfer von Gewalt und Terror werden, es kann jeden treffen.
Umso wichtiger ist es, dass wir gemeinsam mit unseren internationalen Partnern weiter an einer politischen Konfliktlösung arbeiten. Denn klar ist: Eine militärische Lösung kann es in Syrien nicht geben, denn die würde nur noch mehr Opfer fordern. Wir setzen uns nicht nur bei internationalen Verhandlungen aktiv für eine Befriedung der Region ein, sondern sind als Vermittler zwischen den beteiligten Akteuren häufig selbst vor Ort unterwegs.
Gerade erst ist mit der Vereinbarung einer wenn auch noch brüchigen Feuerpause eine zentrale Grundlage für neue Verhandlungen zwischen den Vertretern des Assad-Regimes und der syrischen Opposition geschaffen worden. Zum ersten Mal seit Jahren wachen die Menschen in Syrien morgens auf in der Hoffnung, einen Tag ohne Bombenhagel, ohne Raketenangriffe und ohne Angst zu erleben. Erstmals gibt es die Chance auf eine wirkliche Atempause. Mit jeder Stunde, die die Waffenruhe hält, steigt für Millionen Syrer nicht nur im Land selbst, sondern auch für jene, die geflohen sind die Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit in ihrem Heimatland.
Doch die Gefahr des Scheiterns der Waffenruhe bleibt groß. Deshalb dürfen wir uns nicht auf dem Erreichten ausruhen. Gemeinsam mit unseren Partnern und den Regionalmächten dürfen wir nicht nachlassen im Ringen um ein dauerhaftes Ende des blutigen Konflikts.
Doch politische Prozesse brauchen ihre Zeit. Die Fotos in dieser Ausstellung zeigen uns aber ganz deutlich: Die Menschen in der Region brauchen jetzt unsere Unterstützung, nicht irgendwann in ferner Zukunft.
Erst vor sechs Wochen sind wir auf der internationalen Syrien-Konferenz in London ein gutes Stück vorangekommen. Deutschland selbst hat als einer der größten Geldgeber bis 2018 2,3 Milliarden Euro an Unterstützung zugesagt. Nur wenn wir eine weitere Destabilisierung der Region verhindern, die Lebenssituation der Menschen in Syrien und den Aufnahmeländern in der Nachbarschaft verbessern und neue Zukunftsperspektiven eröffnen, können wir auch die Flüchtlingsströme nach Europa verringern.
Ein zentraler Aspekt ist und bleibt die humanitäre Versorgung. Hier kann das Auswärtige Amt auf bewährte Partner bauen, darunter das Deutsche Rote Kreuz, die Deutsche Welthungerhilfe, das Welternährungsprogramm und Islamic Relief.
Zudem unterstützt das Auswärtige Amt eine Vielzahl von Projekten, die ziviles Leben in Syrien ermöglichen und Zukunftsperspektiven schaffen.
Der von Deutschland ins Leben gerufene "Syria Recovery Trust Fund" unterstützt lokale Gemeinden in von der Opposition kontrollierten Gebieten beim Aufbau von lebensnotwendigen städtischen Strukturen, wie z. B. der Strom- und Wasserversorgung. In Zusammenarbeit mit dem Projektpartner MiCT konnte mit dem Syria Radio Network eine unabhängige Medienberichterstattung ermöglicht werden, selbst in Gebieten, die unter Kontrolle des Regimes stehen. Nutzen Sie die Gelegenheit hier in der Ausstellung und hören Sie mal in eine solche Sendung hinein!
Denn neben den beeindruckenden Portraits von Kai Wiedenhöfer wird in einem zweiten Teil der Ausstellung das Engagement des Auswärtigen Amts für die Menschen in Syrien und der Region gezeigt. Dabei geht es sowohl um die politisch-diplomatische wie auch die humanitäre und die kulturpolitische Dimension der deutschen Unterstützung für die vom Konflikt betroffene Zivilbevölkerung.
Lieber Kai Wiedenhöfer,
ich freue mich sehr, dass wir Ihre berührenden Fotos in den kommenden fünf Wochen hier bei uns im Lichthof des Auswärtigen Amts ausstellen können. Ihre Fotos konfrontieren uns in ganz besonderer Art und Weise mit dem Konflikt. Sie verringern auf einen Schlag die Entfernung zwischen Deutschland und Syrien. Plötzlich sind die Opfer des Bürgerkriegs nicht mehr 2.800 Kilometer entfernt, sondern sie stehen direkt vor uns und blicken uns in die Augen. Ihre Bilder sind eine ständige Mahnung an alle Verantwortlichen, sich weiterhin um eine politische Lösung des Syrien-Konflikts zu bemühen. Auch von zwischenzeitlichen Rückschlägen dürfen wir uns nicht entmutigen lassen.
Zugleich werben die Bilder aber auch für mehr Verständnis auf unserer Seite für die Situation der Menschen in der Region. Gerade jetzt, in Zeiten wachsender Vorbehalte in Teilen der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen, sind solche Kunstprojekte wichtig. Sie geben den Menschen und ihrem Leid ein Gesicht.
Und sie rütteln uns auf. Diese Ausstellung ist daher auch ein Aufruf an uns alle, Schutzsuchende aus Kriegsgebieten hier bei uns willkommen zu heißen und ihnen eine sichere Zuflucht zu bieten.
So wie den syrischen Flüchtlingen, die heute aus Erstaufnahmeeinrichtungen zu der Ausstellungseröffnung in das Auswärtige Amt gekommen sind. Ganz besonders freue ich mich auch, dass unter den heutigen Gästen eine der von Kai Wiedenhöfer porträtierten Familien ist, die inzwischen in Deutschland lebt. Ihnen allen ein herzliches Willkommen in Deutschland und auch hier im Auswärtigen Amt!