Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 13.10.2016

Untertitel: Rede von Außenminister Steinmeier vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident,sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/161013_BM_PV.html


Exzellenzen,

vielen Dank, dass Sie mich hierher zum Europarat nach Straßburg eingeladen haben. Es ist mir eine große Ehre und Freude, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf.

Als deutscher Außenminister komme ich besonders gerne nach Straßburg. Hier ist mit Händen zu greifen, was es bedeutet, dass Krieg eingehegt werden kann durch Recht, durch Verständigung, durch den Schutz von individueller Freiheit. Wenn man, wie ich es heute Morgen tun durfte, durch die Gassen dieser Stadt streift, dann mag man kaum glauben, dass Straßburg vor gar nicht allzu langer Zeit im Zentrum der deutsch-französischen Konflikte des 19. Jahrhunderts und der furchtbaren Weltkriege des 20. Jahrhunderts stand. Es ist und es bleibt ein Wunder, dass ein deutscher Außenminister hier im Europarat in Straßburg als Partner unter Partnern, unter dem Dach gemeinsamer Werte, auftreten kann.

Keine Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ' s jetzt mit historischen Ausführungen wir haben genug aktuelle Probleme, und über die ist heute zu reden. Doch der Blick zurück, gerade hier in Straßburg, kann uns helfen, die Strukturen zu verstehen, die entscheidend waren, eine europäische Friedensordnung über die letzten sieben Jahrzehnte hin entstehen zu lassen. Dies ist umso wichtiger, da wir in einer Zeit leben, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, in der mühsam erkämpfte Ordnungen zu zerfallen drohen: Kriege und Konflikte rings um Europa; die Infragestellung der europäischen Friedensordnung durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland; Fliehkräfte, die am Zusammenhalt der Europäischen Union zerren, zuletzt im Paukenschlag des Brexit-Referendums; und nicht zuletzt- wachsende Spannungen, ja Spaltungen auch im Inneren unserer Gesellschaften, in vielen Ihrer Heimatländer, auch in meinem Land, in Deutschland.

Sehr geehrte Damen und Herren,

welche Antworten finden wir also, wenn wir danach fragen, was eine stabile Friedensordnung entstehen lässt? Ich glaube: ein Teil der Antwort liegt bereits im Wort "Friedensordnung". Frieden durch Ordnung. Frieden, indem die Welt sich selbst Regeln setzt. Frieden, indem wir auf die Stärke des Rechts statt aufs Recht des Stärkeren setzen. Damit meine ich die Idee einer multilateralen völkerrechtsbasierten Ordnung aber ich meine eben nicht nur eine Ordnung, die die Beziehungen zwischen Staaten regelt. Dies greift zu kurz. Denn wenn wir wirklich Ordnungsstrukturen aufbauen wollen, die widerstandsfähig sind, die auch im Inneren stabil sind, weil Spannungen friedlich ausgeglichen, weil Lösungen durch eine pluralistische offene Diskussion gefunden werden können -- dann kommen wir nicht umhin, uns auch mit der inneren Verfasstheit von Gesellschaften zu beschäftigen. Konkret: mit der Lage der Menschenrechte!

Denn Menschenrechtsverletzungen sind nicht nur Folge von Krieg und Konflikt. Nein, Verletzungen und Einschränkungen elementarer Rechte sind viel zu oft ihre Ursache!

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Menschenrechte sind für uns kein beliebig einsetzbares Instrument auf dem Weg zum Frieden. Sie sind vielmehr das Fundament, auf das eine funktionierende internationale Ordnung gebaut sein muss. Die Errungenschaft der Menschenrechte, die die Staaten dieses Europarates sich gemeinsam gegeben haben, sollte für uns und für alle Mitglieder dieses Rates nicht verhandelbar sein und bleiben! In allen Konflikten, die weltweit herrschen und die schwierige diplomatische Arbeit und beharrliche Vermittlung erfordern, müssen wir immer wieder deutlich sagen: Das Eintreten für Menschenrechte steht nicht im Widerspruch zum Ziel außenpolitischer Stabilität und zum Interessenausgleich zwischen Staaten. Im Gegenteil: Sie bedingen einander!

Deshalb müssen wir genau hinschauen, müssen uns die Instrumente geben, die es uns erlauben, mit einer feinen Sensorik den menschenrechtlichen Puls eines Staates und einer Gesellschaft zu fühlen. Und dies so frühzeitig und kontinuierlich wie möglich.

Und genau deshalb ist der Europarat so wichtig. Denn er gibt uns, er gibt 47 Mitgliedsstaaten und sage und schreibe 800 Millionen Menschen ein menschenrechtliches Fundament! Einen gemeinsamen, verbindlichen Kanon. Und er eröffnet einen Blick auf die Menschenrechtslage in unseren Ländern, er schaut hinter die Kulissen.

Deshalb ist meine Botschaft an Sie heute: Der Europarat ist nicht nur Wächter einer normativen Ordnung, er ist in Krisenzeiten auch ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Durchsetzung dieser Ordnung. Am Beispiel Türkei darüber werde ich noch sprechen hat der Europarat diese Funktion eindrücklich unter Beweis gestellt und auf diesem Weg will ich diesem Haus heute Mut zusprechen!

Die deutschen Kolleginnen und Kollegen unter Ihnen wissen: ich bin Jurist. Und damit Realist: wo es Regeln und Gesetze gibt, gibt es auch immer Übertretungen derselben. Daher überraschen mich Regelverletzungen nicht. Ich gebe allerdings zu: dass allein 76 000 Klagen beim Europäischen Menschenrechtgerichtshof anhängig sind, diese Zahl hat mich mehr als beeindruckt. Doch durch Verletzungen allein, so dringend ihre rechtliche Aufarbeitung ist, wird ein gemeinsamer Ordnungsrahmen, wird weder der Europarat noch die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage gestellt. Gerade dadurch, dass es diese gemeinsamen Normen gibt, werden Verletzungen erst sichtbar und identifizierbar.

Aber ich sage Ihnen ganz offen: wir müssen in Europa, wir müssen uns als Partner in diesem Europarat sehr selbstkritisch fragen, ob wir genug tun, dieses einzigartige völkerrechtlich verbindliche Schutzsystem zu pflegen und auszubauen. Ob wir genug tun, um dauerhafte Schäden an diesem System abzuwenden. Denn nüchtern betrachtet: In Teilen Europas sind die Werte und Standards des Europarats, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, heute unter erheblichem Druck. Weit über den Einzelfall hinaus. Generalsekretär Thorbjörn Jagland hat vor einigen Monaten seinen Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte in Europa vorgelegt. Das ist ein sehr hilfreiches, aber leider auch bezeichnendes Dokument, weil es die strukturellen Defizite deutlich benennt, die geeignet sind, unser gemeinsames Fundament des Europarats zu untergraben:

Wenn ich von den Krisen unserer Tage spreche, meine ich auch den Konflikt in der Ukraine. Kolleginnen und Kollegen: Wer von Ihnen hätte sich vorstellen können, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein europäisches Land Teil seines Staatsgebiets völkerrechtswidrig von einem anderen Staat annektiert sehen würde? Dass die Frage von Krieg und Frieden im Ukraine-Konflikt zurück auf unseren Kontinent kehren würde?

Auf die Annexion der Krim und den von Russland militärisch unterfütterten Konflikt in der Ostukraine haben wir in der Europäischen Union und in der NATO entschlossen reagiert. Deutschland hat in diesen turbulenten Zeiten den OSZE‑Vorsitz übernommen, und wir arbeiten im Normandieformat mit Frankreich, Russland und der Ukraine am Weg zu einer politischen Lösung für die Ostukraine, der in den Minsker Vereinbarungen festgelegt ist.

Der Europarat ist nicht als schnelle Eingreiftruppe für das operative Krisenmanagement konzipiert. Aber gerade die Ukraine-Krise zeigt, dass er den Verwerfungen in Europa nicht hilflos gegenüberstehen muss. Dass er über wirkungsvolle Instrumente verfügt.

Dazu zählt zum Beispiel die ausgezeichnete Arbeit der Venedig-Kommission. Dazu zählen auch die Anti-Folterkommission und die "Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz". Auch der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, ist zu nennen, dessen Arbeit ich hier ausdrücklich würdigen möchte.

Ich begrüße daher sehr, dass sich auch der Europarat in der Ukraine weiter stark engagiert. Die Beratung durch die Venedig-Kommission hat sich als äußerst wichtig erwiesen. Der Ukraine-Aktionsplan des Europarats trägt dazu bei, die demokratische Transformation in der Ukraine voranzubringen. Ich unterstützte die Bemühungen des Generalsekretärs, regelmäßigen Zugang zur Krim für die Monitoring-Gremien des Europarats erwirken, um die Menschenrechtslage dort beobachten zu können. Dies betrifft nicht nur die Krim, sondern auch die Gebiete Südossetien und Abchasien, Transnistrien und Berg Karabach: auf unserem Kontinent darf es keine "weißen Flecken" für die Beobachtungen der Menschenrechtslage geben.

Die Parlamentarische Versammlung ist seit jeher der Ort im Europarat, an dem die politische Debatte zu den drängenden Fragen unserer Zeit stattfindet. Hier werden zuweilen heftige Kontroversen ausgetragen, und hier gehören sie hin - gerade in Zeiten wachsender Spannungen und Konflikte. Was Russland angeht, hoffe ich, dass wir im Zuge unserer Bemühungen um die Befriedung des Ukraine-Konflikts mittelfristig Bedingungen herstellen, dass die russischen Delegierten wieder an den Sitzungen und der Arbeit der Parlamentarischen Versammlung teilnehmen werden. Klar ist, dass vor allem Russland seinen Beitrag dazu leisten muss.

Denn gerade für ein gemeinsames Forum wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates ist nicht nur wichtig, dass es gemeinsame Spielregeln gibt, sondern genauso wichtig, dass sich alle Mitglieder daran halten. Gerade in diesem Haus darf man den Regelbruch nicht ignorieren, und die Parlamentarische Versammlung hat in der Vergangenheit mit Suspendierung von Stimmrechten für die russische Delegation reagiert. Nach den Wahlen in Russland bedeutet das in meinen Augen jetzt aber auch, dass wir Abgeordnete, die auf dem Gebiet der völkerrechtswidrig annektierten Krim in die Duma gewählt wurden, nicht als Vertreter Russlands in diesem Hause akzeptieren können. Das sollten wir gemeinsam klarstellen, und dafür werden wir auch in der Europäischen Union eine unzweideutige gemeinsame Regelung finden. Denn: Dialog und parlamentarische Verständigung sind wichtig, sinnvoll und erforderlich, aber sie müssen auf dem Fundament gemeinsamer Grundwerte und der Satzung des Europarats stattfinden!

Sehr geehrte Damen und Herren,

entsetzt und erschüttert hat uns der blutige Putschversuch in der Türkei, der zum Glück schnell gescheitert ist. Aber er war ein unerhörter Angriff auf die Verfassungsinstitutionen der Türkei, wir trauern gemeinsam mit der Türkei um die Opfer, und wir haben Respekt für die türkische Zivilgesellschaft, die sich diesem Angriff gegen die Verfassung mutig entgegen gestellt hat. Es ist nicht nur legitim, sondern auch erforderlich, dass die Türkei die Aufarbeitung des Putschversuchs intensiv betreibt. Als Parlamentarier erwarten wir aber zugleich -und das haben auch türkische Abgeordnete im Europarat bekräftigt- , dass diese Aufarbeitung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, nach den Prinzipien des Europarats erfolgt.

Ich will dem Europarat ausdrücklich meinen Respekt zollen für die konstruktive Rolle, die er in dieser schwierigen Situation in der Türkei gespielt hat - und dringend weiter spielen muss. Generalsekretär Jagland war einer der ersten, der vor Ort war, den Putschversuch verurteilt, und zugleich Gesprächsfäden geknüpft und Unterstützung bei der Aufarbeitung angeboten hat; ich denke auch an den Ad-hoc Besuch der Anti-Folterkommission. Ich begrüße auch, dass die Türkei dieses Angebot der Zusammenarbeit angenommen hat und dass dies gestern von Außenminister Çavuşoğlu hier vor der Parlamentarischen Versammlung erneut bekräftigt wurde. Es ist wichtig, dass der Europarat diese Arbeit in und mit der Türkei jetzt wirkungsvoll fortsetzen kann, und dass die Türkei entsprechend den Zusicherungen kooperiert.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie sehen: In diesen unruhigen Zeiten, in diesen Zeiten des Umbruchs, hat die Parlamentarische Versammlung eine wichtige Rolle. Und wenn das so ist, dann braucht diese Institution einen klugen und engagierten parlamentarischen Nachwuchs! In Zeiten, in denen internationale Politik so präsent und so sichtbar ist wie seit vielen Jahren nicht, da müssen doch internationale parlamentarische Foren die besten und viel versprechendsten Nachwuchsabgeordneten aus den nationalen Parlamenten nur so anziehen! Ich war selbst vier Jahre lang Vorsitzender einer Parlamentsfraktion -die SPD Kollegen dort erinnern sich- und ich habe mich schon damals für den internationalen parlamentarischen Nachwuchs eingesetzt, und es ist mir immer noch wichtig. Lassen Sie mich diesen Appell ans Ende stellen: Kümmern auch Sie sich um den außenpolitischen Nachwuchs unserer Demokratie, fördern Sie ihn und machen Sie aufmerksam auf die Arbeit, die hier geleistet wird - diese krisengebeutelte Welt braucht solchen Nachwuchs und sie braucht kostbare Institutionen wie diese Versammlung!