Redner(in): Michael Roth
Datum: 10.11.2016

Untertitel: Rede von Staatsminister für Europa Michael Roth bei der EurActiv-Veranstaltung "State of the Energy Union"
Anrede: sehr geehrte Frau Litt,liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/161110-StM_R_Euractiv.html


Lieber Maroš Šefčovič ,

Energie zählt zu den wichtigsten Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens: Wir brauchen Energie nicht nur als Motor für wirtschaftliche Entwicklung in der Industrie, beispielsweise in der Landwirtschaft oder zur Produktion von Waren. Energie brauchen wir auch für die vermeintlich kleinen Dinge des Alltags zum Heizen, Kochen oder Aufladen des Smartphones. Ohne Energie stünden wir im wahrsten Sinne des Wortes ganz schön saft- und kraftlos da!

Energiefragen haben die europäische Integration von Beginn an geprägt. Die Einigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg begann schließlich mit der Zusammenarbeit im Energiebereich: Im Mai 1950 schlug Robert Schuman die Bildung einer europäischen Montanunion vor, mit der die Mitgliedstaaten ihre Stahl- und Kohleproduktion vergemeinschaften sollten.

Die Montanunion schuf die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen Markt für Kohle und Stahl. Und sie bildete den Keim für mehr Teamarbeit in Europa in vielen weiteren Poltikbereichen. Sie ist ein schönes Beispiel dafür, dass Zusammenarbeit, die zunächst aus einer wirtschaftlichen Motivation beginnt, längerfristig auch zu einem engeren Zusammenwachsen im politischen und gesellschaftlichen Sinne führen kann.

Während wir nach dem Zweiten Weltkrieg noch stark auf Kohle gesetzt haben, hat sich Deutschland in der Zwischenzeit im Bereich der Energieversorgung weiter entwickelt: Heute sind wir das Land der Energiewende.

Unsere Energiewende besteht aus vielen kleinen Puzzleteilen: Dazu gehören der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Entwicklung des Strommarkts, die Förderung von Energieeffizienz, der Netzausbau sowie die zunehmende Digitalisierung.

Seit der Entscheidung über den Ausstieg aus der Kernenergie haben wir in Deutschland bereits viel erreicht: Bei der Stromerzeugung haben erneuerbare Energien mittlerweile einen Anteil von über 30 Prozent. Das wollen wir künftig noch weiter steigern.

Die Energiewende bedeutet für uns aber mehr als nur eine Verschiebung in der Zusammensetzung des Energie-Mixes. Wir verstehen darunter auch eine Veränderung im Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher, die viele neue Chancen und Möglichkeiten mit sich bringt: mehr Arbeitsplätze, mehr High-Tech-Industrie und nicht zuletzt eine sauberere Umwelt, von der wir alle profitieren.

Bei wachsendem Energiebedarf werden wir aber mittelfristig noch nicht vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen können. Wir nutzen daher vorerst auch weiter die konventionellen Energieträger. Wenn man bedenkt, dass über 95 Prozent des Erdöls und gut 90 Prozent des Erdgases, das wir in Deutschland verbrauchen, aus dem Ausland kommen, dann wird klar: Der Schlüssel für eine gesicherte Energieversorgung liegt in der Diversifizierung der Lieferanten und der Versorgungsrouten.

Das bedeutet beispielsweise, dass Russland im Gasbereich weiter eine wichtige Rolle als Lieferant spielen wird. In Deutschland gehen wir davon aus, dass wir mittelfristig weiter russisches Gas brauchen. Wir sind uns aber auch der politischen Bedenken unserer Partner in Europa bewusst und nehmen diese ernst. Die langfristige Sicherung des Gastransits durch die Ukraine sowie der Ausbau von Kooperation mit anderen Lieferländern sind für uns deshalb wichtige Prioritäten.

Mehr Sicherheit bei der Energieversorgung erreichen wir aber auch durch mehr Europa! Europa hat in seiner jüngeren Geschichte erfolgreich auf Krisen reagiert, indem es in schweren Zeiten noch enger zusammengerückt ist. Gerade in der Krise brauchen wir mehr Union in Europa da hat Kommissionspräsident Juncker doch völlig Recht.

Auch deshalb ist das Stichwort "Energieunion" wichtig. Die Energieunion ist das wichtigste gemeinsame Projekt der EU-Staaten, um in der Energiepolitik an einem Strang zu ziehen. Eine Energieunion aus 28 Staaten zu schaffen, darunter einige der größten Volkswirtschaften der Welt, ist sicherlich ein ehrgeiziges Vorhaben.

Aber gerade in Zeiten, in denen immer mehr Menschen am Wert und Nutzen Europas zweifeln, bietet die Energieunion auch eine große Chance, Europa stärker zu machen.

Im Bereich Energie können wir nicht nur die europäische Integration vorantreiben, sondern auch handfeste Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger schaffen.

In vielerlei Hinsicht sind die Bewährungsproben, vor denen wir bei der Umsetzung der Energieunion stehen, wegweisend für die weitere Zusammenarbeit in Europa. Auf vier Aspekte möchte ich kurz besonders eingehen: den gemeinsamen Energiebinnenmarkt, die "Governance" der Energieunion, die Rolle der Energieaußenpolitik sowie den Ausbau der Infrastruktur.

Erstens: Das zentrale Element der Energieunion ist die Vollendung des gemeinsamen Energiebinnenmarkts. Versorgungssicherheit im Bereich von Strom und Gas wird am besten über grenzüberschreitende Märkte hergestellt. Durch einen stärkeren Fokus auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz setzen wir auch Anreize für Innovation und verbesserte Technologien. Damit schaffen wir die Grundlage für mehr Wachstum.

Zweitens: Um die gemeinsamen Ziele der Energieunion, wie beispielsweise die massive Verringerung des CO2 -Ausstoßes, zu erreichen, brauchen wir zweitens auch einen effektiven und zuverlässigen Kontrollmechanismus. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Mitgliedstaaten auf ihr Recht, den Energiemix frei zu bestimmen, verzichten sollen. Vielmehr geht es darum, einen robusten Rahmen für die "Governance" der Energieunion zu schaffen, der für alle EU-Staaten verbindlich ist.

Drittens: Die Energieunion soll Europa auch sicherer machen. Sie trägt dazu bei, das Risiko von Konflikten im Energiebereich zu vermindern. Wir setzen auf mehr regionale Kooperation und nicht auf Abschottung von einem bestimmten Nachbarn oder Lieferanten. Dies bedeutet auch, dass wir nach außen geschlossener auftreten und mit einer Stimme sprechen. Eine starke gemeinsame Energieaußenpolitik ist das beste Mittel, um Europa als starken Akteur auf der Bühne der globalen Energiepolitik zu platzieren und unsere gemeinsamen Ziele im Energiebereich voranzubringen.

Viertens spielt auch die Infrastruktur eine wichtige Rolle. Es liegt auf der Hand, dass ein gemeinsamer Energiemarkt nur Realität werden kann, wenn es entsprechende Leitungen und Verbindungen zwischen den Mitgliedstaaten gibt. Besonders, wenn wir stärker auf erneuerbare Energien setzen, die oft nur regional oder in schwankenden Mengen zur Verfügung stehen, brauchen wir mehr Investitionen in zuverlässige und umfassende Netze.

Wir leben in einer Zeit, in der Europa sich vielfältigen Bewährungsproben stellen muss: Die Flüchtlingssituation, Wirtschafts- und Finanzkrise, hohe Jugendarbeitslosigkeit, und nicht zuletzt das Brexit-Referendum in Großbritannien haben ihren Teil dazu beigetragen, grundsätzliche Fragen nach der Zukunft der EU aufzuwerfen. Solchen Ängsten und Zweifeln am Mehrwert der Europäischen Union tritt man am besten mit handfesten Argumenten entgegen.

Die Energieunion bietet eine Chance, durch "mehr Europa" konkrete Lösungen anzubieten, von denen alle profitieren. Die ersten Schritte hierfür sind bereits getan, wie Maroš Šefčovič heute Morgen schon eindrucksvoll dargestellt hat.

Aber natürlich sind die Sachverhalte im Energiebereich auch komplex und kompliziert. Die Mitgliedstaaten verfügen über eine sehr heterogene Ressourcenausstattung, sind unterschiedlich weit vorangeschritten bei der Umsetzung der Emissionseinsparungen, haben einen unterschiedlichen Investitionsbedarf bei der nötigen Infrastruktur.

Doch wenn wir an die Ziele der Energieunion denken, so liegen die Vorteile einer engeren Zusammenarbeit auf der Hand: Energie ist für uns lebensnotwendig. Und Europa wird dazu beitragen, sichere, nachhaltige und bezahlbare Energie für alle bereitzustellen.

In der immer stärker globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts kann Energiepolitik nur noch gemeinsam gedacht werden.

Die stärkere Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinaus ist der einzige Weg, um die Energieabhängigkeit Europas zu verringern, Investoren mehr Planbarkeit zu geben und langfristig Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen.

Eingangs sagte ich, dass die gemeinsame Energiepolitik uns an die Anfänge Europas erinnert. Seit der Gründung der Montanunion sind wir weit gekommen: 70 Jahre Frieden, Demokratie und Freiheit in der Europäischen Union sind alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Aber jetzt gilt es, die Weichen für die Zukunft zu stellen. In der gemeinsamen Energiepolitik liegen besonders viele Chancen: Wenn wir an eine nachhaltige, zukunftsorientierte Energieversorgung denken, so wird dies dauerhaft nur über Innovationen und verbesserte Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien möglich sein.

Und so zeigt sich Europa wieder von seiner besten Seite: Aus einer Zusammenarbeit, die ursprünglich zunächst auf Kosten-Nutzen-Überlegungen und stärkerer wirtschaftlicher Verflechtung beruht hat, entsteht ein Anreiz für mehr Forschung und Innovation eine Grundlage für mehr Wachstum und eine bessere Zukunft.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen jetzt viel Energie für eine spannende und erkenntnisreiche Diskussion!