Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 23.11.2016
Untertitel: Rede von Außenminister Steinmeier zur Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag
Anrede: Liebe Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/161123_BM_Haushalt.html
Wir leben in Zeiten der Umbrüche, in Zeiten der Veränderungen. Manche sagen gar, es handele sich um Erdbeben, deren Schockwellen uns noch nicht sämtlich hier in Deutschland erreicht haben: die Brexit-Entscheidung, die Gewalt in der Ostukraine, der tobende Krieg in Syrien und die Instabilität in der Türkei, aus der ich letzte Woche mit eher noch größeren Sorgen zurückgekommen bin, als ich hingefahren bin. Und natürlich wird auch die Wahl von Donald Trump als neuem US-Präsidenten Veränderungen mit sich bringen, deren Richtung und Tragweite wir jetzt hier miteinander noch nicht absehen können.
Veränderungen und Umbrüche können Sorgen machen, sie können lähmen. Doch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre genau die falsche Antwort. Klar ist für mich: Wir dürfen jetzt gerade nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Wir dürfen uns nicht von den Erdbeben erschüttern lassen. Sondern wir müssen Haltung zeigen und jetzt umso fester für Demokratie und Freiheit, für die offene Gesellschaft stehen, sie gerade jetzt verteidigen, wenn sie von anderen infrage gestellt werden.
Wir müssen uns mit Blick auf die Umbrüche unserer eigenen internationalen Verantwortung vergewissern und, wenn möglich, danach handeln. Es kommt jetzt umso mehr auf verlässliche und verantwortliche deutsche Außenpolitik an. Sie braucht - ja, natürlich - klare Analyse, sie braucht Richtung und Orientierung, aber sie braucht eben - und darum sind wir heute hier - auch eine finanzielle Basis.
Wenn ich auf die letzten drei Jahre zurückschaue und sehe, wie wir in diesen drei Jahren in vielen Bereichen der Außenpolitik neue und größere Verantwortung haben übernehmen müssen, dann zeigt sich, dass der Deutsche Bundestag uns überhaupt erst die Spielräume eröffnet hat, um zu gestalten, um diese wachsende Verantwortung zu übernehmen und ihr gerecht zu werden. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen allen hier im Deutschen Bundestag vorab meinen herzlichen Dank!
Ruhiger, fürchte ich, wird es auch in der nächsten Zeit nicht werden. Und deshalb ist klar: Solange die Gewalt, das Morden und das Sterben nicht aufhören - ob in Syrien, in Libyen, im Irak oder im Jemen - , so lange dürfen auch unsere Bemühungen um politische Lösungen nicht aufhören, gerade jetzt nicht, in diesen unsicheren Zeiten.
So verzweifelt die Lage in Syrien, in Libyen und im Jemen ist: Wir dürfen uns der Ohnmacht nicht hingeben. Ja, viel zu viele Versuche mögen in der Vergangenheit gescheitert sein und viele sagen: "alles sinnlos", aber ich finde, unsere Haltung muss sein - und sie muss es vor allen Dingen bleiben - : Aufgeben ist keine Option.
Das gilt auch für die Ostukraine. Erst vor wenigen Wochen fand hier in Berlin das Spitzentreffen im Normandie-Format - Ukraine, Frankreich, Russland und Deutschland - statt. Für einige Tage, für vielleicht zwei Wochen hatte sich die Situation deutlich verbessert, aber inzwischen ist die Sicherheitslage vor Ort wieder schlechter. Der Waffenstillstand wird wieder häufiger gebrochen, und die Leidtragenden sind die Menschen in der Region, für die Gewalt und Unsicherheit schon viel zu lange zum grausamen Alltag gehören.
Abwarten, Nichtstun, das ist keine Haltung, so übernimmt man keine Verantwortung. Deshalb haben mein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault und ich unseren russischen und ukrainischen Kollegen vorgeschlagen, uns in der nächsten Woche erneut in Minsk zu treffen."Das wievielte Mal?", mögen manche fragen; ich habe aufgehört zu zählen. Aber selbst wenn uns die große Lösung in diesen Tagen nicht gelingt: Solche Treffen, solche Gespräche sind einfach notwendig, um eine solche Situation nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.
Selbst wenn es schwierig ist und selbst wenn es ganz langsam geht, quälend langsam: Wir dürfen unsere Bemühungen nicht abbrechen, das Minsker Abkommen Schritt für Schritt umzusetzen. Die Truppenentflechtung, die wir begonnen haben, muss fortgesetzt werden. Die schweren Waffen, die schon abgezogen waren, aber dann zurückgeführt worden sind, müssen abgezogen werden, und zwar dauerhaft. Wir brauchen vor allen Dingen auch dringend Fortschritte in humanitären und wirtschaftlichen Fragen.
Alles das werden wir, so hoffe ich, am nächsten Dienstag besprechen. Ich hoffe, dass unsere russischen und ukrainischen Kollegen den Ernst der Lage ähnlich beurteilen wie wir. Beide Seiten sind gefordert, endlich sichtbare Beiträge zu einer dauerhaften Entspannung in der Ukraine zu liefern.
Kolleginnen und Kollegen,
wer versucht, die Umbrüche und Unsicherheiten dieser Wochen auszunutzen, um Geländegewinne einzustreichen, der handelt verantwortungslos und macht die Lage noch schlimmer. Das sage ich vor allen Dingen mit Blick auf die Situation in Syrien.
Dort geht das Morden weiter, jeden Tag. Im Osten Aleppos wurde jetzt auch das letzte funktionierende Krankenhaus - das übrigens mit deutscher Hilfe operierte - in Schutt und Asche gebombt. Für die Menschen in Ost-Aleppo heißt das, sie haben keinerlei Zugang mehr zu medizinischer Versorgung, gleichzeitig kommen täglich neue Verwundete hinzu.
Das Regime in Damaskus geht mit Zynismus gegenüber dem eigenen Volk vor, militärisch unterstützt von Iran und Russland, angeblich um IS und al-Nusra zu bekämpfen. Aber den Kampf gegen den IS gibt es aus unserer Sicht nicht, jedenfalls nicht vonseiten des Regimes. Im Übrigen- : Der Kampf gegen terroristische Gruppierungen - so notwendig er ist - kann niemals eine Rechtfertigung dafür sein, ganz Aleppo in Schutt und Asche zu legen.
Mit jedem weiteren Opfer, mit jeder Schule, die getroffen wird, mit jedem Krankenhaus, das zerstört wird, verstärkt sich die Logik der Gewalt immer noch mehr, ohne dass ein Ende dieses Wahnsinns auch nur ein Stück näher rücken würde. Vielleicht ganz im Gegenteil: Viel zu viele setzen im Augenblick auf das Machtvakuum nach den amerikanischen Wahlen und auf die militärische Karte. Der Irrglaube, mit kleinsten militärischen Vorteilen in eine nächste Verhandlungsrunde mit einem neuen amerikanischen Präsidenten gehen zu müssen, ist leider weit verbreitet. Wenn das die Logik der Akteure ist, dann wird die Zeit bis Februar nächsten Jahres, bis eine neue amerikanische Administration im Weißen Haus sitzt, für die Menschen in Syrien ganz fürchterlich werden. Diese Logik müssen wir durchbrechen. Die Gespräche über Waffenpausen und humanitäre Hilfen dürfen auch jetzt, in dieser Übergangsphase in Washington, nicht zu Ende gehen. Gestern war der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura, hier in Berlin. Er hat sich bei uns leidenschaftlich für die Fortsetzung dieser Gespräche eingesetzt. Ich habe ihm die Unterstützung der Bundesregierung versichert. Aber ich bin mir sicher, er hat auch die Unterstützung dieses gesamten Hohen Hauses.
Es ist gut, dass wir über Waffenpausen und humanitäre Hilfen reden. Aber das wird am Ende nicht ausreichen. Worauf es ankommt, ist, dass wir schon jetzt darüber nachdenken, wie wir den Menschen in der Region nach dem Ende der Kämpfe eine Perspektive geben können. Ich sage das im Augenblick weniger mit Blick auf Syrien, sondern mit umso mehr Berechtigung mit Blick auf den Irak. Ich hatte diese Woche auch meinen irakischen Außenministerkollegen mit seiner Delegation hier in Berlin zu Gast. Wir haben ausführlich über die militärische Lage in Mossul, der letzten Hochburg des IS, geredet. Natürlich geht es jetzt zunächst einmal darum, den Kampf gegen den IS möglichst schnell und unter Vermeidung so vieler ziviler Opfer wie möglich zu führen. Wir haben aber vor allen Dingen darüber gesprochen, wie es in Mossul weitergehen soll, wenn die Stadt - hoffentlich in einigen Wochen - vom IS befreit sein wird.
Wie wichtig diese Stabilisierungsarbeit ist und warum wir uns so sehr darauf konzentrieren, haben unsere Erfahrungen in Ramadi, Falludscha, aber vor allen Dingen in Tikrit gezeigt, wo wir sehr schnell nach der Befreiung die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen haben sicherstellen können. Mit geringen Mitteln wurden Wasser- und Stromleitungen wieder in Gang gesetzt bzw. wiederhergestellt, und es wurde ein Mindestmaß an Gesundheitsversorgung ermöglicht. Man sah auch Erfolge. Nach Tikrit sind 90 Prozent der Zivilbevölkerung zurückgekehrt. Das ist die Erfahrung, die uns leitet.
Deshalb ist die Stabilisierung heute ein Kern unserer außenpolitischen Arbeit. Auch dank der Unterstützung des Deutschen Bundestages, auch durch die Verbesserung der entsprechenden Möglichkeiten in den beiden letzten Haushalten. Ganz herzlichen Dank dafür!
Ich habe gesagt: Wir leben in einer Zeit der Veränderungen. - Mit Blick auf die USA können wir zum heutigen Zeitpunkt noch nicht genau sagen, wie sich diese Veränderungen politisch auswirken werden. Eines können wir mit Gewissheit sagen: dass der Dialog, die politischen Gesprächskanäle und die menschlichen Verbindungen über den Atlantik auch in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen müssen und - da bin ich sicher - werden. Wir werben im Augenblick in Washington dafür, die transatlantischen Beziehungen als Fundament des Westens wertzuschätzen und zu pflegen. Wir werden trotzdem abwarten müssen, wie sich die neue Administration dazu positioniert.
Umso mehr freue ich mich, dass wir gerade in diesen Tagen menschlich und kulturell neue Bande über den Atlantik haben knüpfen können. Nur mit der Unterstützung des Deutschen Bundestages konnte es am Ende gelingen, das Thomas-Mann-Haus in Kalifornien zu erwerben und es vor dem befürchteten Abriss zu bewahren. Dafür - für die Bereitstellung von Finanzmitteln, aber vor allen Dingen für die schnelle Entscheidung, die es gegeben hat - sage ich meinen ganz herzlichen Dank.
Das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles war während der NS-Herrschaft so etwas wie das Weiße Haus des Exils. Es war die Heimat für viele Deutsche, die gemeinsam für eine bessere Zukunft unseres Landes gestritten haben. Wenn damals in Thomas Manns Villa Künstler und Intellektuelle zusammenkamen, dann wurde leidenschaftlich diskutiert: über Deutschland, über Amerika, über die Wege zu einer offenen Gesellschaft und - das kann man heute vielleicht gar nicht genug betonen - über das, was uns zusammenhält: das gemeinsame transatlantische Wertefundament.
Ich bin davon überzeugt: In einer konfliktbeladenen Welt brauchen wir genau solche Räume für den Dialog - erst recht auch wieder mit den USA. Mit solchen Räumen meine ich eben keine Echokammern, in denen wir uns selbst bestätigen. Ich meine Räume, die Platz schaffen für eine ehrliche Auseinandersetzung, für Austausch und Streitgespräch. Solche Räume zu schaffen, in denen wir Verschiedenheiten nicht ignorieren, sondern zum Gegenstand des Gespräches - direkt miteinander und möglichst ohne mediale Verzerrungen und Zuspitzungen - machen, darum geht es. Das ist Ziel unserer Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Auch dafür, dass Sie auch diese dritte, immer wichtiger werdende Säule der Außenpolitik unterstützen, sage ich abschließend meinen herzlichen Dank.