Redner(in): Sigmar Gabriel
Datum: 30.06.2017

Untertitel: Rede von Außenminister Sigmar Gabriel vor dem Deutschen Bundestag zur Debatte über die Leitlinien der Bundesregierung zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung
Anrede: Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2017/170630-BM-BT_Leitlinien_Krisenprävention.html


Frau Präsidentin!

Erst einmal vielen Dank, dass Sie trotz der nahenden Sommerpause und anderer wichtiger Entscheidungen, die wir heute schon getroffen haben, zu einem Thema gekommen sind, das sich am Anfang vielleicht ein bisschen abstrakt anhört. Aber dahinter - ich glaube, das wissen alle - verbergen sich ganz viele konkrete Schicksale von Menschen inmitten von Kriegen und Konflikten, die schlicht ums Überleben kämpfen. Wir haben nach langen Debatten und Beratungen - nicht nur im Parlament, sondern auch mit bürgerlichem Engagement - die Leitlinien der Bundesregierung mit dem Titel "Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern" verabschiedet.

Ein sehr unbarmherziger Gradmesser für die aktuelle Entwicklung ist die Zahl derjenigen, die vor Gewalt fliehen müssen. Noch nie gab es so viele Flüchtlinge und Vertriebene: 65Millionen Menschen zum Ende des letzten Jahres. Auch wenn wir in unserem Land mit dem Thema Herausforderungen erlebt haben und immer noch erleben, muss man wissen, dass bei weitem nicht wir die größte Last zu spüren bekommen, sondern viele andere Länder der Welt, weil die größte Zahl der Menschen in ihren Heimatländern oder zwischen armen Ländern hin und her flüchtet.

Wenn wir uns anschauen, was im Norden Ugandas und in der Mitte der Demokratischen Republik Kongo weit ab von großer öffentlicher Aufmerksamkeit passiert, dann müssen wir befürchten, dass auch in diesem Jahr erneut ein Negativrekord erreicht wird. Und - lassen Sie mich das an dieser Stelle offen sagen - wir hören gerade in diesen Tagen von der gewaltigen Flüchtlingszahl, die erneut Italien betrifft. Ich habe heute die Zahl gehört: 20000 Flüchtlinge innerhalb ganz weniger Tage. Ich glaube, die erste Botschaft nach Europa muss sein: Wir können unsere Freundinnen und Freunde, unsere Partnerinnen und Partner in Italien nicht alleinlassen. Das geht nicht.

Was immer in der Europäischen Union an Debatten über Migrationspolitik herrscht: Wir müssen dazu kommen, dass in dieser Frage alle in Europa, nicht nur wenige Länder, Solidarität mit den Italienern zeigen. Es kann nicht sein, dass sie mit dem Thema alleingelassen sind und wir am Ende wieder völlig unübersichtliche Flüchtlingsbewegungen in Europa erleben.

Meine Damen und Herren, Inseln der Sicherheit und Freiheit werden in dieser Welt immer kleiner. Die Zahl der Länder, in denen Spannungen, Gewalt, Krieg und Vertreibung zum Alltag gehören, hingegen wächst. Wenn wir uns diesen Realitäten nicht nur stellen wollen, sondern auch als Bundesrepublik Deutschland Verantwortung dafür übernehmen wollen, dass sich daran etwas ändert, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, wie wir dies tun wollen. Wir haben uns die Frage gestellt, schon beginnend unter meinem Amtsvorgänger, dem heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, mit welcher Haltung und vor allem mit welchen Mitteln wir als Bundesrepublik Deutschland, wir als Bundesregierung dazu beitragen wollen, dass Gewalt und Vertreibung nicht noch mehr um sich greifen. Es ist klar: Wir dürfen uns nicht überschätzen - das wissen wir - , aber wir sollten auch nicht unterschätzen, was ein Land wie Deutschland gerade mit Blick auf die Zusammenarbeit in Europa dafür leisten kann.

Friedenspolitik - auch das gehört zur Wahrheit - erfordert manchmal auch den Einsatz militärischer Mittel. Es muss Einsätze geben - insbesondere der Vereinten Nationen - , bei denen unter bestimmten Bedingungen auch mit militärischen Mitteln dafür gesorgt wird, dass Gewaltexzesse gestoppt und weitere verhindert werden. Das ist die Lehre zum Beispiel aus dem, was wir vor einigen Jahren in Ruanda erlebt haben, wo die Welt zugesehen hat, weil sie nicht entschlossen war, einzugreifen. Hunderttausende oder Millionen Menschen haben mit Leben und Gesundheit dafür gebüßt.

Eine Lehre aus den letzten Jahrzehnten lautet aber auch - vor allen Dingen Militärs sagen uns das - : Gerade militärische Interventionen von außen, auch wenn sie mit den besten Absichten geführt werden, führen eben nicht zwangsläufig zu einer dauerhaften Befriedung. Wir brauchen deshalb in unseren Friedensbemühungen ein eindeutiges Bekenntnis zum Primat des Politischen, zum nichtmilitärischen, zivilen Eingreifen, vor allen Dingen dort, wo sich an unvermeidbare militärische Konflikte ziviles Engagement anschließen muss - nicht nur, weil es uns das Grundgesetz zum Auftrag macht, unsere Außenpolitik nicht auf die Macht des Militärischen abzustützen, sondern auf Diplomatie, auf Ausgleich und auf ziviles Engagement, sondern auch schlicht aus der Erfahrung, die gerade unsere Soldatinnen und Soldaten in schwierigen Einsätzen machen: Sie sagen uns, dass im Zweifel nur mit dieser Kombination, mit solchen Einsätzen am Ende Stabilität und nachhaltiger Frieden erreicht werden können. - Es gibt also angesichts der komplexen Krisen unserer Zeit vor allen Dingen die Aufgabe, etwas zur Vorbeugung zu tun, aber auch schnelle Unterstützung zu leisten, wirksam und vernetzt zu arbeiten.

Meine Damen und Herren, mit den Leitlinien legen wir deshalb einen Kompass für moderne Friedensdiplomatie vor. Dabei ist mir besonders wichtig, dass wir - erstens - die konzeptionelle Arbeit einerseits auf einer kritischen Bestandsaufnahme und andererseits, wie ich es vorhin gesagt habe, auf einem Dialog mit der Zivilgesellschaft, mit Wissenschaft, Verbänden und Wirtschaft abgestützt haben.

Auch viele Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages haben sich eingebracht. Ich glaube, dieser Debattenprozess hat nicht nur dafür gesorgt, dass wir jetzt ein überzeugendes Produkt haben. Er hat vor allen Dingen auch deutlich gemacht, wie stark und wie lebendig - lassen Sie mich das so sagen - die Friedenscommunity in unserem Land ist; auch ihr sind wir zu Dank verpflichtet. Wir sind natürlich denen, die in Einsätzen sind - den Soldaten, den Entwicklungshelfern usw. - , zu Dank verpflichtet, aber auch der Community in unserem Land, die Deutschland als Friedensmacht stark halten will. Ich finde, das ist eine gute Botschaft in einer Zeit, in der wir überall in der Welt eher von Aufrüstung und Konflikten reden.

Zweitens liegt diesen Leitlinien die Einsicht zugrunde, dass es kluger politischer Strategien sowie effizienter und effektiver Instrumente, aber vor allen Dingen auch realistischer Zielsetzungen bedarf. Wir dürfen nicht erwarten, dass über Nacht aus Krisengebieten stabile Demokratien entstehen. Uns muss bei allem Optimismus und aller Entschlossenheit klar sein: Friedenschaffen ist keine exakte Wissenschaft. Rückschläge zu verarbeiten, gehört ebenso dazu wie die Bereitschaft zum kalkulierten Risiko, gerade wenn man mit frischen Ideen diese Aufgabe angeht, wie wir es auf Grundlage der Leitlinien tun wollen. Wichtig ist: Rückschläge dürfen uns nicht entmutigen. Sie müssen vielmehr Ansporn sein, überlegt und auch mit Augenmaß auszuloten, wie Deutschland einen langfristigen Beitrag zu mehr Frieden und Sicherheit leisten kann.

Lassen Sie mich auch eine Bemerkung zu dem ganz schwierigen Thema Rüstungsexporte machen. Ich habe in diesen Jahren vor allen Dingen eins lernen müssen: Der Glaube, mit dem Liefern von Waffen oder mit dem Nichtliefern von Waffen auf der sicheren Seite zu sein, ist immer ein Irrglaube. Man kann sich mit beiden Handlungen schuldig machen: mit dem Liefern von Waffen, aber auch mit dem Nichtliefern von Waffen. Das sehen wir an der Geschichte der Jesiden, die sozusagen der Ausrottung preisgegeben worden wären. Insofern, glaube ich, ist es klug, dass wir in all diesen Fragen Einzelfallabwägungen machen, uns nicht international isolieren, aber vor allen Dingen nicht die Botschaft senden, man könne sich mit dem einen oder anderen Verhalten moralisch auf der sicheren Seite fühlen. Ich glaube, wir müssen uns immer der Verantwortung bewusst sein, die wir mit der einen oder der anderen Entscheidung übernehmen, und uns auch über das Risiko im Klaren sein, dass man mit beiden Entscheidungen auch falsch liegen kann.

Ich glaube, das gehört zur Offenheit und Ehrlichkeit der Debatte.

Meine Damen und Herren, der dritte Punkt. Die Leitlinien identifizieren dabei Handlungsspielräume.

Sie zeigen uns auf, wie und mit welchen Methoden wir diese Räume für unsere Friedensarbeit nutzen können. Dazu gehört auch, Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Dazu gehört auch die Arbeit unserer Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, auch derjenigen, die Justizberatung machen. Denn natürlich soll auch die Arbeit der Polizistinnen und Polizisten sicherstellen, dass in schwierigen Ländern rechtsstaatliche Instrumente entstehen und dass im Übrigen dort auch eine Polizei entsteht, die diese rechtsstaatlichen Instrumente für sich sozusagen als Zielsetzung erfasst. Ich habe ein paar solcher Polizeiprojekte besucht, zum Beispiel in Mali, und ich finde, wir können wirklich stolz auf das sein, was die Polizistinnen und Polizisten mit großem Einsatz für uns beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und rechtsstaatlich organisiertem Handeln dort leisten, meine Damen und Herren.

Letzter Aspekt: Die Bundesregierung verpflichtet sich ganz konkret, ihre eigenen Fähigkeiten der Konfliktbearbeitung weiter auszubauen. Dafür wollen wir auch unsere Partnerschaften mit unseren europäischen Freunden, den Vereinten Nationen, aber auch mit den Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union vertiefen. Denn eines ist klar: Wir Deutsche können uns alleine noch so sehr anstrengen, wir werden dauerhaft nur im Verbund mit anderen etwas erreichen.

Meine Damen und Herren, wir werden diese Leitlinien als Kompass für eine moderne deutsche Friedensdiplomatie nutzen. Jeder von uns im Parlament weiß, dass der Kompass alleine noch nicht ausreicht, sondern dass wir sozusagen auch Hardware, Instrumente, am Ende immer auch Geld brauchen.

Deswegen sage ich in aller Offenheit: Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten wie Sie alle an der Debatte beteiligt, in der es um die Erreichung des 2-prozentigen Anteils der Verteidigungsausgaben am BIP in den NATO-Ländern ging. Ich will gar nichts zu den Details sagen. Aber zwei Punkte fehlen mir völlig in dieser Diskussion:

Erstens. Wenn die ganze Welt über Aufrüstung redet, müssen doch Deutschland und Europa auch wieder über Abrüstung und Rüstungskontrolle reden.

Es kann doch nicht sein, dass das gar kein Thema mehr ist. Wir organisieren in diesen Tagen das Gedenken an Helmut Kohl. Nicht zu Unrecht sind Schmidt und Kohl im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss immer wieder zitiert worden. Damals haben Verteidigungsfähigkeit auf der einen Seite, aber auch Angebote zur Abrüstung auf der anderen Seite existiert. Ich war vor ein paar Tagen in Island auf einer Konferenz einer Reihe europäischer Staaten und habe die Gelegenheit gehabt, in das weiße Haus in Reykjavík zu gehen, in dem Gorbatschow und Reagan einen Vertrag ausgearbeitet haben, von dem wir heute noch profitieren: den INF-Vertrag, der landgestützte Mittelstreckenraketen ausschließt. Genau dieser Vertrag ist derzeit in Gefahr, einerseits durch die Sorgen, was die Russen dort machen, andererseits dadurch, dass die Amerikaner sagen: Das, was dort passiert, können wir auf Dauer nicht hinnehmen.

Wir müssen zurück in eine Diskussion, in der wir sagen: Verteidigungsfähigkeit ja, aber bitte auch offensive Angebote zur Rüstungskontrolle, zur Abrüstung, gerade von uns Deutschen und gerade in Europa, meine Damen und Herren. Das gehört auch dazu.

Wichtig sind bei alldem natürlich auch die Finanzierungsinstrumente. Ich finde die Debatte über 2Prozent deshalb ein bisschen schräg, weil am Anfang eigentlich die Frage stehen müsste, wofür man etwas braucht. Solange man das nicht sagen kann, ist es schwierig, zu sagen, wie viel es denn sein muss, vor allen Dingen, wenn wir wissen, dass wir in Europa 45 Prozent der Verteidigungsausgaben der USA tätigen, aber im Vergleich nur 15 Prozent der Effizienz aufweisen. Aber es gehört auch dazu, dass wir nicht bei dem verhängnisvollen Prozess mitlaufen, Militärausgaben zu erweitern und Entwicklungshilfe und Krisenprävention zu reduzieren. Im Gegenteil: Eigentlich muss man für jeden Euro, den man in die Verteidigungsfähigkeit steckt, 1,50 Euro in Entwicklungshilfe und Krisenprävention stecken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern: Leitlinien der Bundesregierung