Redner(in): Gernot Erler
Datum: 09.06.2009
Untertitel: Rede Staatsminister Gernot Erler in Vertretung des Außenministers Frank-Walter Steinmeier bei dem Empfang aus Anlass des "Hochrangigen Treffens zur Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa"
Anrede: Liebe Kolleginnen und Kollegen,Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2009/090608-Erler.html
Exzellenzen,
Vor zwanzig Jahren fiel die Mauer. Die Ära der Blockkonfrontation ging zu Ende. Ein Triumph des Freiheitswillens der Völker Mittel- und Osteuropas, aber auch eine Frucht der Entspannungspolitik, wie sie in Deutschlandvon Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert und dann von Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher fortgeführt worden ist.
Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten viele, alle weltpolitischen Widersprüche seien aufgelöst. Auch das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle schien abgehakt.
Von seiner Bedeutung hat es jedoch bis heute nichts verloren. Das haben uns gerade erst wieder die nordkoreanischen Atom- und Raketentests eindrücklich vor Augen geführt.
Nach wie vor besitzen die etablierten Nuklearstaaten tausende von Sprengköpfen. Proliferation und Nuklearterrorismus drohen das Nichtverbreitungsregime zu unterminieren. Und im konventionellen Bereich ist die über Jahre mühsam errichtete Rüstungskontrollarchitektur ins Rutschen geraten.
Friede und Stabilität sind untrennbar mit Rüstungskontrolle und Abrüstung verknüpft. Dauerhafter Friede lässt sich nicht durch nationale Stärke und Rüstung erzwingen. Im Gegenteil: er ist Ergebnis von Dialog und Kooperation.
Wir brauchen eine neue Dynamik in der Rüstungskontrolle und Abrüstung!
Und die Zeichen für einen Aufbruch stehen günstig. Die Präsidenten der USA und Russlands haben gemeinsame Vorschläge für eine deutliche Reduzierung ihrer nuklearen strategischen Arsenale vorgelegt.
Der Genfer Abrüstungskonferenz ist es vor wenigen Tagen gelungen, den mehr als ein Jahrzehnt dauernden Stillstand zu überwinden. Mit ihrem neuen Arbeitsprogramm hat sie den Weg frei gemacht für Verhandlungen über einen verifizierbaren Produktionsstopp von Spaltmaterial für Kernwaffen. Ein solcher Vertrag würde atomare Abrüstung unumkehrbar machen und die nukleare Nichtverbreitung stärken.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im nächsten Jahr zum Erfolg wird. Aus dem Vertragstext muss endlich Politik werden!
Wir möchten hier klar und deutlich feststellen: nach dem Atomwaffensperrvertrag hat jeder Staat das Recht auf zivile Nutzung von Kernenergie. Dies darf aber nicht als Deckmantel für militärische Programme dienen! Die Bundesregierung hat sich daher dafür eingesetzt, dass der Vorschlag des deutschen Außenministers zur Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufes zusammen mit den Vorschlägen der USA und Russlands auf dem Gouverneursrat der IAEO in der kommenden Woche diskutiert wird. Unser Ziel ist, dass es dort möglichst schon zur Vorbereitung von Entscheidungen kommt.
Es geht nicht allein um Atombomben! Nukleare und konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle sind zwei Seiten einer Medaille.
Wir sind davon überzeugt: Nachhaltige Abrüstung, wie sie sich die Menschen wünschen, wird uns nur gelingen, wenn wir auch im konventionellen Bereich substantielle Fortschritte erzielen!
Auch deshalb, weil einige Staaten mit substrategischen Nuklearwaffen eine vermeintliche Unterlegenheit bei konventionellen Waffen auszugleichen versuchen.
Der euro-atlantische Raum hat als Konsequenz und zugleich zur Überwindung der Ost-West-Konfrontation das weltweit rigideste und bestvernetzte Instrumentarium der konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle entwickelt. Dieses System hat sich bewährt. Es hat wesentlich dazu beigetragen, die notwendigen Transformationsprozesse nach dem Ende des Kalten Krieges abzufedern und im Bereich konventioneller Waffen transparent und vorhersehbar zu machen.
Auch für die Zukunft gilt: Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung sind der Schlüssel integrierter Sicherheitspolitik im euro-atlantischen Raum. Das Konzept umfassender, kooperativer Sicherheit ist unverzichtbar, da es auf einen breiten Interessenausgleich aller Staaten in Europa zielt!
Jetzt geht es vor allem darum, neue Perspektiven für das Herzstück der konventionellen Rüstungskontrolle zu schaffen: den Not leidenden KSE-Vertrag.
Das Dilemma ist offenkundig: Seit Inkrafttreten des KSE-Vertrages im Jahr 1992 hat sich die europäische sicherheitspolitische Landschaft dramatisch verändert. Der sogenannte A-KSE-Vertrag versucht, Inhalt und künftige Mitgliedschaft des Vertrages an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Aber seine Ratifizierung steht weiter aus. Was wir weiterhin haben, ist der alte KSE-Vertrag, der zwar immer noch gültig ist, dessen Implementierung Russland aber leider ausgesetzt hat.
Die Aufgabe ist klar: in unser aller Interesse muss es gelingen, einen Ausweg aus diesem Patt zu finden und das KSE-Regime angesichts der neuen Sicherheitslage weiterzuentwickeln.
Denn wenn wir jetzt nicht gemeinsam gegensteuern, kann die derzeitige Stagnation zu einer schrittweisen Erosion des gesamten Netzwerkes der konventionellen Abrüstungs und Rüstungskontrolle in Europa führen.
Mit weitreichenden Folgen: Staaten und Bündnisse wären keinen vertraglichen rüstungskontrollpolitischen Beschränkungen mehr unterworfen. Ohne vertragliche Grundlage ist - insbesondere im regionalen Kontext - ein Rückfall in ein Wettrüsten wie im 20. Jahrhundert nicht auszuschließen. Ein Wegfall des Rüstungskontrollregimes würde unser gemeinsames Konzept einer kooperativen Sicherheit als solches in Frage stellen.
Was sind konkret die Herausforderungen für die künftige konventionelle Rüstungskontrolle in Europa?
Erstens: Ein Faktor, der bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist struktureller Natur.
So hat uns zuletzt der Konflikt in Georgien im August 2008 vor Augen geführt, dass Risiken für Sicherheit und Stabilität in Europa heute eher von Regionalkonflikten ausgehen. Hier liegt eine besondere Herausforderung, denn Regionalkonflikte sind bislang rüstungskontrollpolitisch praktisch nicht erfasst. Dies gilt sowohl für Regionalkonflikte im euro-atlantischen Raum als auch in angrenzenden Regionen.
Zukünftig muss konventionelle Rüstungskontrolle deshalb einen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität auf strategischer und regionaler Ebene leisten. Zonen unterschiedlicher Sicherheit dürfen nicht fortbestehen oder sogar erst entstehen. Daher setzen wir uns für eine Weiterentwicklungder konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ein - damit potentielle substrategische Konflikte in Europa effizienter eingehegt werden können.
Zweitens: Das bestehende Netzwerk der Rüstungkontrollübereinkommen ist an Fortschritte der Militärtechnologie bislang nicht angepasst worden.
Die militärischen Fähigkeiten auch kleinerer Verbände sind in den vergangenen Jahren durch erhöhte Flexibilität, Verlegbarkeit, Durchhaltefähigkeit aber auch Vernetzung von Waffensystemen und Informationsüberlegenheit gestärkt worden. Zudem verändern neue Operationskonzepte die bisherige Waffen- und Konfliktführungstechnik.
Im Klartext: neben der "quantitativen" Rüstungskontrolle müssen wir zusätzlich eine "qualitative" Rüstungskontrolle erreichen.
Rüstungskontrolle kann es potentiellen Akteuren lediglich erschweren, Konflikte einzuleiten. Kern eines kooperativen Ansatzes für Sicherheit und Stabilität und unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg von Rüstungskontrolle ist und bleibt daher der Kooperationswillen aller Beteiligten.
Deswegen wird es in Zukunft auch darauf ankommen, auf dem Erreichten aufbauend Vertrauen und Zusammenarbeit in Europa weiter zu stärken.
Wir müssen gemeinsam einen politischen Prozess in Gang setzen, der in Gewicht und Vision dem "Harmel-Bericht" vor mehr als vierzig Jahren vergleichbar ist.
Wir müssen eine grundlegende Diskussion darüber führen, in welchem Maß die veränderte sicherheitspolitische Lage eine Fortentwicklung oder sogar eine Neuorientierung konventioneller Rüstungskontrolle in Europa erforderlich macht.
Dies ist eine große Aufgabe. Ohne den politischen Willen aller Beteiligten wird es nicht gehen.
Daher danke ich Ihnen allen, als Regierungsvertreter aus mehr als vierzig Staaten, dass Sie der Einladung des deutschen Außenministers zu diesem informellen Treffen zur Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa gefolgt sind!
Begleitend zu diesem Treffen haben das ISFH - Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg - unter der Leitung von Prof. Götz Neuneck und Dr. Wolfgang Zellner sowie die HSFK - Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung unter Leitung von Dr. Hans-Joachim Schmidt, im NOMOS-Verlag einen nach Schwere und Bedeutung gewichtigen, über 500 Seiten umfassenden Band in deutsch und englisch zur Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa herausgegeben.
Mein Dank und meine Anerkennung gilt auch allen, die zum Gelingen des begleitenden Buches beigetragen haben. Wissenschaftler und Praktiker aus dem In und Ausland, mit zum Teil jahrzehntelanger Erfahrung in der Abrüstungs- und Rüstungskontrolle, beleuchten darin den schwierigen Prozess der Rüstungskontrolle und stellen einige wesentliche Etappenziele vor.
Dabei ist klar: Analyse und persönliche Erfahrungen führen zu unterschiedlichen Ergebnissen und Einschätzungen. Sie bilden die verschiedenen Standpunkte in dieser schwierigen Diskussion ab.
Aber eines ist entscheidend: Gemeinsam ist allen Autoren, dass sie versuchen, Wege in die Zukunft zu weisen; zu zeigen, wie wir einen Neubeginn der konventionellen Rüstungskontrolle und Abrüstung in einem veränderten sicherheitspolitischen Umfeld gestalten können.
Ich bin überzeugt, dass das Buch die Diskussion über die zukünftige konventionelle Rüstungskontrolle in Europa befördern wird.
Gestalten wir gemeinsam eine neue Ära der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik!
Sicherheit in Europa ist unteilbar. Die Sicherheit jedes europäischen Staates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie lag vor mehr als dreißig Jahren der Entspannungspolitik zugrunde. Aus ihr speiste sich der KSE-Vertrag. Er versinnbildlicht in besonderem Maß den Ansatz kooperativer Sicherheitspolitik.
Nutzen wir die Chance für einen Neubeginn!